Haitis stille Helden

Biobauern gegen den Klimawandel

22:21 Minuten
Ein haitianischer Erntehelfer macht eine Pause neben einer Zuckerrohr-Plantage.
Früher gab es in Haiti hauptsächlich Zuckerrohr- und Bananenplantagen. Die Öko-Kleinbauern dagegen achten auf größere Vielfalt. © Getty Images / Spencer Platt
Von Thomas Kruchem · 20.06.2019
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Dürren, Starkregen, Bodenerosion: Schwer leidet der Karibikstaat Haiti unter den Folgen des Klimawandels. Jetzt will eine Bewegung von Kleinbauern neues Leben in die verödeten Landschaften bringen: mit Waldgärten, Terrassenanbau und klimaangepasstem Ökolandbau.
Vermummte Demonstranten und Barrikaden aus brennenden Reifen versperren mir den Weg. Es gibt kein Durchkommen nach Les Cayes, einer Stadt im Südwesten Haitis. Eigentlich wollte ich da Bertrand treffen, meinen Übersetzer. Er schickt mir eine wütende Nachricht per Whatsapp.
"Unser Präsident ist der größte Lügner unter allen Präsidenten, die Haiti je hatte. Dauernd sagt er, er werde uns Nahrungsmittel geben. Er habe ja so viele Bananenplantagen. Und dauernd sagt er, wir bekämen Strom – 24 Stunden täglich. Wir müssen diesen Kerl loswerden, Mann. Wir müssen das Parlament loswerden – all diese Senatoren, Abgeordneten, Premierminister und Minister. Wir brauchen eine Revolution in Haiti. Hier leiden so viele Menschen und eine Minderheit verprasst den Wohlstand des Landes."
Um dieses Haiti sollte es bei meiner Reise eigentlich nicht gehen.
Eigentlich wollte ich nur die Berge außerhalb der Stadt Les Cayes besuchen. Hier und anderswo in Haiti haben zehntausende Kleinbauern in den letzten 20 Jahren eine stille Revolution in Gang gesetzt. Diese unbekannten Klimahelden versuchen, ihr Land zu retten. Zum Beispiel im Dorf Gentillotte Gouin. Dort zwitschern die Vögel. Und die Bäuerin Marilyn Pierre zeigt zufrieden ihren Brotfruchtbaum voller reifer Früchte:
"In diesem Garten ziehe ich viele gesunde Nahrungsmittel heran. Das meiste essen wir selbst. Einen Teil verkaufe ich auf dem Markt: zum Beispiel die Büschel von den Bananenstauden dort, die fast reif sind. Für meine Kinder habe ich unter den Bananen Mais ausgesät. Und aus den Schoten des Okrastrauchs daneben koche ich Gumbo, einen leckeren Eintopf."
Marilyn Pierre wirkt zufrieden. Sie gehört zu den rund 30.000 haitianischen Bauernfamilien, die der Krise in ihrem Land etwas entgegensetzen – und der Krise der globalen Erwärmung mit immer stärkeren Wirbelstürmen, mehr Starkregen und zunehmender Bodenerosion.
Eine Frau und zwei Männer stehen vor einer Hütte in einer überfluteten Straße in Leogane, Haiti.
Schon seit Jahren kommt es in Haiti immer wieder zu schweren Überschwemmungen.© picture alliance / dpa / EPA/Andres Martinez Casares
All das macht Haiti zu schaffen. Und deshalb haben diese Bauern ihren Ackerbau mit großer Kraftanstrengung umgestellt.

Drei Millionen Haitianer suchen im Ausland eine Zukunft

Meine Ankunft am Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince fällt ausgerechnet auf den Vortag eines Generalstreiks. Das bringt noch mehr Schwierigkeiten als sonst schon. Im Taxi vom Flughafen deutet der Fahrer auf lange Schlangen an den Tankstellen: Junge Männer mit Kanistern belagern die Zapfsäulen. Vieles ist knapp in Haiti. Das Leben ist hart. Deshalb sind schon drei Millionen Haitianer ins Ausland gegangen, um dort Arbeit und eine Zukunft zu finden. Mein Übersetzer Bertrand kennt das aus der eigenen Familie.
"Die meisten bereuen es dann, dass sie ins Ausland gegangen sind. Diese Leute laufen vor dem Elend davon und geraten dann in genau dieses Elend. Sie geben einen Haufen Geld aus, um ins Ausland zu kommen. Und dann verbringen sie ihre Zeit dort in einer schäbigen Unterkunft, ohne irgendetwas zu tun. Mein kleiner Bruder ist Lehrer und spricht Englisch – so wie ich. Er wollte unbedingt nach Brasilien, weil er glaubte, dort ein besseres Leben zu finden. Inzwischen ist er schon ein Jahr in Brasilien und hat bis heute keinen Job gefunden. Jetzt will er zurückkommen."

Haiti war die profitabelste Kolonie Frankreichs

Haiti kennt aber nicht nur Armut. Es gibt auch einige Wohlhabende. Aus dem Auto sehe ich ihre großen Villen an den Hängen des Küstengebirges, hinter Mauern und Stacheldraht. Ihnen gehören viele Bananen- und Zuckerrohrplantagen. Relikte aus der Kolonialzeit – so wie die erodierten Hügelzüge, an denen wir entlang fahren. Einst waren sie grün und dicht bewaldet. Aber die Bäume sind weg. So erzählt es mir Barbara Küpper – Haiti-Expertin beim katholischen Hilfswerk Misereor.
Im 18. Jahrhundert war Haiti die profitabelste Kolonie Frankreichs. Sie lieferte die Hälfte des in Europa konsumierten Kaffees – dazu Zucker und Tropenhölzer für die Höfe europäischer Adliger: Mahagoni, Blutholz, Guajak. Das ging so bis 1804, als sich die aus Westafrika verschleppten Sklaven Haitis, die Unabhängigkeit erkämpften. Dafür verlangte Frankreich aber ein Jahrhundert lang Schadenersatz – insgesamt 20 Milliarden Euro nach heutiger Kaufkraft. Auch das führte zu Abholzungen.
"Sie mussten für ihre Freiheit Holz liefern und Zucker, der damals im Prinzip wie weißes Gold gehandelt wurde. Das führte dazu, dass weitere Waldflächen abgeholzt wurden. Das Holz wurde verkauft und die Gelder, die damit verdient wurden, irgendwo beiseite geschafft. Und was jetzt natürlich weiterhin zur Abholzung beiträgt, ist, dass 70 Prozent der Energie, die die Haushalte in Haiti verbrennen, werden durch Holz gewonnen. Also Holzkohle ist eins der lukrativsten Geschäfte auf dem Land, weil kein anderer Brennstoff vorhanden ist."

Nur noch zwei Prozent von Haiti bewaldet

Haiti war um 1900 noch zur Hälfte mit Wald bedeckt. Heute sind kaum noch zwei Prozent bewaldet. Wiederaufforstung kam lange Zeit niemandem in den Sinn.
Vom Dorf Gentillotte Gouin blickt man auf ziemlich kahle Nachbarhügel ohne Bäume.
Vom Dorf Gentillotte Gouin blickt man auf ziemlich kahle Nachbarhügel.© Thomas Kruchem
In der kahlen Berglandschaft produzieren Kleinbauern fast die Hälfte der in Haiti verbrauchten Nahrungsmittel. Die Pflanzen bekommen zwar genug Regen, aber das Wasser trifft oft auf blanken, ausgedörrten Boden. Es hat keine Chance einzusickern und schwemmt stattdessen immer mehr wertvollen Humus-Boden in die Flüsse. Überschwemmungen und Bodenerosion sind die Folge, verschärft durch den Klimawandel, der die Karibik besonders hart trifft: Die Regenzeiten werden kürzer und heftiger, die Dürrephasen länger, die Hurrikans verheerender.
2016 etwa traf "Matthew", einer der schlimmsten Hurrikans der Geschichte, das Bergdorf Gentillotte Gouin mit voller Wucht, erzählt der Bauer Misail Altima in seinem grau getünchten Lehmhäuschen.
"'Matthew' war ein furchtbarer Hurrikan. Einen so starken Sturm habe ich in meinen 48 Jahren noch nie erlebt. Ich zittere heute noch, wenn ich daran denke, wie wir aus unserem Haus rannten und wie es kurz darauf zusammenbrach. Es regnete wie verrückt. Meine Nachbarn und ich verloren alle unsere Tiere, und meine Kinder wurden krank, weil wir wochenlang kein sauberes Wasser hatten. Es ist überhaupt seltsam geworden mit dem Wetter in den letzten Jahren. Wenn wir Regen brauchen für unsere Yams-Wurzeln und fürs Gemüse, dann fällt keiner. Aber kurz vor der Ernte kommt dann ein Wolkenbruch und spült alles fort. Und kurz darauf brennt die Sonne Risse in den Boden."

Agrarökologische Landwirtschaft als Gegenentwurf

Marilyn Pierre, die Bäuerin aus dem Dorf Gentillotte Gouin, lacht viel. Acht Kinder hat sie bekommen und strahlt Fröhlichkeit, Lebensfreude und Entschlossenheit aus. Wie die meisten Haitianer nennt sie ihr kleines Feld von knapp einem halben Hektar "Garten". Ein Berghang, an dem sie Bananenstauden pflanzt, Mais, Bohnen, Tomaten und Spinat. An den steilen Stellen ist der Hang terrassiert und mit Ananaspflanzen befestigt, deren junge Früchte blau-rot leuchten. Noch weiter oben ist der Hang mit zwei Reihen Felsbrocken stabilisiert, dahinter gedeihen Straucherbsen und Kartoffeln.
Diese große Vielfalt, hat Bäuerin Marilyn früher nicht angebaut. Seit acht Jahren aber erhalten sie und andere Landwirte ihres Dorfs Hilfe von der kleinen Hilfsorganisation ACAPE. Die zeigte ihnen, wie sogenannte agrarökologische Landwirtschaft funktioniert: Bio-Landbau als Gegenentwurf zur industriellen Landwirtschaft. Die Bauern lernten, angepasst an die natürlichen Bedingungen und den Klimawandel zu wirtschaften.
"Früher haben wir nur ein oder zwei Feldfrüchte angebaut – Bananen und Mais oder Yams-Wurzeln. Da haben wir uns auch gar nicht darum gekümmert, wie es unserem Ackerboden ging. Wenn starker Regen fiel, wurde die Krume eben in den Teich hinuntergespült. Seit wir uns mit ACAPE zusammengetan haben, konnten wir Terrassen anlegen, die wir mit Ananas und Elefantengras befestigen. Die speichern Regenwasser und das hilft den Pflanzen beim Wachsen. Und das ganze Jahr über habe ich jetzt Früchte, die ich auf dem Markt verkaufen kann: Papayas, Mangos, Zitronen, Kartoffeln und Maniok. Das ganze Jahr über habe ich jetzt ein bisschen Geld."
Ananaspflanzen befestigen den Boden und liefern wohlschmeckende Früchte. Die Blüte schimmert rot.
Ananaspflanzen befestigen den Boden und liefern wohlschmeckende Früchte.© Thomas Kruchem
Ein kleiner Mann im roten T-Shirt hat sich zu uns gesellt: Rico Bousseau, ein Cousin Marilyns. Man müsse wieder Bäume pflanzen auf Haiti, sagt Rico, viele Bäume. Die befestigten mit ihren Wurzeln den Ackerboden und beschatteten die Pflanzen.
"Bis vor einigen Jahren hatten wir fast gar keine Bäume mehr. Deshalb seien auch unsere Quellen so schnell versiegt, wenn es trocken war, haben uns die Leute von ACAPE erklärt. In den letzten zehn Jahren haben wir dann viele Obstbäume gepflanzt. Jetzt ernten wir eine Menge Früchte, und diese Quelle liefert seit vier Jahren ununterbrochen Wasser. Das trinkt meine Familie. Und ich bewässere unseren Garten damit."
Auf Marilyn Pierres Feld stehen ein Zitronenbaum, zwei Mangobäume und ein Brotfruchtbaum. Von einem noch sehr jungen Baum pflückt die Bäuerin eine Frucht, die aussieht wie eine Erbsenschote. "Ein köstliches Gemüse", sagt sie über die Schoten des Meerrettichbaums, die viel Vitamin A und C, Calcium und Magnesium enthalten. Die Blätter des Baums ergeben nahrhaftes Viehfutter, die Samen hervorragendes Pflanzenöl. Um Marilyns schneeweiß gekalktes Haus herum stehen weitere junge Bäume.
"Die Akazien hier haben wir gepflanzt, um die Erde festzuhalten und um später Holz zu haben – zum Bauen und für Holzkohle. Für Obstbäume ist die Erde hier oben noch nicht gut genug. Sie wird aber immer besser, weil die Blätter der Akazien ein guter Dünger sind."

Heute gilt das Abbrennen von Feldern als Verbrechen

Obstbäume lieferten in Haiti schon nach vier, fünf Jahren Erträge, erklärt mein Übersetzer Bertrand, der als Landwirtschaftsingenieur für die Organisation ACAPE arbeitet. Akazien und Zedern seien nach zehn bis zwölf Jahren erntereif. Früher, sagt Bertrand, sei der Hang, an dem wir stehen, ein- bis zweimal im Jahr schwarz von Asche gewesen. Die Bauern hätten ihre Erntereste abgebrannt und so, ohne es zu wissen, wertvollen Dünger vernichtet.
"Heute betrachten wir das Abbrennen der Felder als ein Verbrechen. Es ist, als ob du einen Menschen tötest. Im Erdboden leben ja sehr, sehr viele kleine Mikroorganismen, die du nur im Labor siehst. Sie tragen maßgeblich dazu bei, die Erde hier fruchtbar zu machen. Wenn du dein Feld abbrennst, tötest du diese Mikroorganismen."
Marilyn Pierre deutet den Hang hinab: Der ganze Boden ist mit Pflanzenresten bedeckt – gemulcht würden deutsche Gärtner sagen. Das halte die Feuchtigkeit und dünge den Boden, sagt Marilyn. Für Kunstdünger hat hier niemand Geld – und auch nicht für chemische Pestizide. Schädlinge bekämpft die Bäuerin mit selbst angerührter Brühe aus Neem-Öl, Pfeffer, Knoblauch, Tabak und Basilikum. Früher, sagt die Bäuerin, habe es die Existenz ihrer Familie bedroht, wenn Schädlinge ihre einzige Feldfrucht befielen. Jetzt stelle die Vielfalt an Früchten sicher, dass höchstens ein Teil ihrer Ernte ausfalle.

ACAPE als Manager des Wandels

Das Hauptquartier der kleinen Hilfsorganisation ACAPE wirkt wie eine Gärtnerei. Überall blüht und duftet es. Auch in der angeschlossenen Baumschule stehen Tausende Setzlinge von Obstbäumen und Akazien in schwarzen Töpfen. ACAPE arbeite derzeit in zehn Dörfern hier im Südwesten Haitis, sagt der Chef Raymond Delinois. 300.000 Bäume habe die Organisation in den letzten zehn Jahren gepflanzt. Rund 60 Prozent davon hätten überlebt, obwohl Hurrikan Matthew große Schneisen gerissen habe. ACAPE ist Teil einer Bewegung – eines Netzwerks von 40 Organisationen in Haiti, die "agrarökologische Klimaanpassung" betreiben – mit insgesamt 30.000 Familien. Zusammen hätten sie mehrere Millionen Bäume gepflanzt und würden den Bauern auch nach der Ernte helfen:
"Wir fördern, so gut wir können, die Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. Maniok zum Beispiel können die Bauern zu Mehl verarbeiten, das dann acht Monate haltbar ist. Sie können Honig und Erdnussbutter herstellen und aus Äpfeln ein lange haltbares Gelee. ACAPE hat eine Gruppe von 70 Frauen organisiert, die all diese Produkte herstellen und sie verkaufen – zum Teil sogar ins Ausland."
Landwirtschaft nach den Regeln des agrarökologischen Klimaschutzes habe die Armut in Dörfern wie Gentillotte Gouin inzwischen deutlich gemildert, sagt Raymond Delinois. Ein Hurrikan, eine Dürre oder eine Missernte gefährdeten kaum noch die Existenz einer Familie. Und fast täglich besuchten ihn haitianische Bürgermeister – mit der Bitte, dass ihre Dörfer auch ins Programm aufgenommen werden. Das aber kostet Geld, das ACAPE nicht hat. Denn nur wenige internationale Hilfswerke greifen der agrarökologischen Klimaschutzbewegung Haitis unter die Arme. Der größte Förderer ist seit 20 Jahren das deutsche katholische Hilfswerk Misereor.

Durch Waldgärten bleibt immer ein Teil der Ernte

Die Reform der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in den Bergen Haitis bekämpfe ländliche Armut nachhaltig, sagt Anika Schröder, Klimaexpertin bei Misereor in Aachen. Zehntausende Bauernfamilien hätten sich dem Klimawandel angepasst und leisteten einen erheblichen Beitrag, ihn zu bekämpfen.
"Die enorme Vielfalt in diesen Waldgärten führt ja zum Beispiel dazu, dass, egal bei welchem Wetterextrem und egal, bei welchem Schädlingsbefall, immer ein Teil der Ernte erhalten bleibt. Diese Systeme sind extrem resilient. Diese Waldgärten führen aber gleichzeitig dazu, dass die Menschen erfahren, dass sie unglaublich viel können. Und das macht Mut, neue Dinge auszuprobieren: neue Pflanzen anzubauen, neues Saatgut zu nutzen, sich mit anderen Landwirten auszutauschen."
Zahllose unbekannte Klimahelden hätten neues Leben nicht nur in die verödeten Bergen Haitis getragen, meint Anika Schröder. Agrarökoklogische Bewegungen unterstützt Misereor auch in anderen vom Klimawandel bedrohten Ländern – wie Indien, Bangladesch und den Philippinen. Bewegungen von Kleinbauern, die mit lokal vorhandenen natürlichen Ressourcen ihre Landwirtschaft wirtschaftlich tragfähig machen und zugleich an den Klimawandel anpassen wollen.
"Unser Gefühl ist im Moment, dass die Agrarökologieprojekte auch auf sehr, sehr lange Sicht, auf die nächsten Jahrzehnte hin mit den globalen Klimaveränderungen einen wichtigen Beitrag leisten, um die Leute zu stärken und sich an den Klimawandel anzupassen."

Neue Lust auf Landwirtschaft

Es ist vier Uhr früh. Ich sitze im Taxi Richtung Flughafen. Fünf Tage zu spät, weil nichts ging, weil alles blockiert war wegen der Proteste. Mein Übersetzer Bertrand war stinksauer. Er konnte nicht mal aus seiner Wohnung, um Essen und Windeln für seine drei Kinder zu kaufen:
"Mein Freund, ich kann nicht in Worte fassen, wie schlecht ich mich fühle angesichts des immer größeren Elends in meinem Land. Damit muss Schluss sein, endlich Schluss. Ich fühle mich so traurig, Mann. Und manchmal frage ich mich, warum ich Haitianer bin. Ja, die Menschen hier sagen, es sei Gotteslästerung, so etwas zu fragen. Andererseits sagen doch die Leute in aller Welt, wir Haitianer seien nichts wert – wegen der Arschlöcher, die uns regieren."
Bauer Silio Cassayoll ist zuversichtlich, auch junge Leute für die klimaangepasste Landwirtschaft gewinnen zu können. Der Haitianer trägt ein blaues T-Shirt und sitzt in einem der Waldgärten.
Bauer Silio Cassayoll ist zuversichtlich, auch junge Leute für die klimaangepasste Landwirtschaft gewinnen zu können.© Thomas Kruchem
Das Taxi fährt vorbei an noch kokelnden beiseite geräumten Reifenresten im schlafenden Les Cayes, an weggeschobenen schweren Steinen außerhalb der Stadt, an qualmenden Barrikaden in mehreren Dörfern.
"Wir müssen an die Zukunft glauben", hat im Dorf Gentillotte Gouin ein Nachbar von Bäuerin Marilyn Pierres gesagt: der Bauer Silio Cassayoll. Ein alter Mann mit eingefallenen Wangen, mit nachdenklichem und doch zuversichtlichem Blick. Auch sein leuchtend blaues T-Shirt und die gelb-roten Blumen darauf strahlten Zuversicht aus. Vor drei Wochen ist Silios 20-jährige Tochter nach Port-au-Prince gegangen. Sie hofft auf ein besseres Leben in der Stadt.
"So viele junge Leute gehen weg, weil ihnen die Arbeit auf dem Feld zu hart ist. Und wir Alten bleiben zurück. Das kann so nicht weitergehen. Wir und die Lehrer in den Schulen müssen den jungen Leuten sagen, dass es sich lohnen kann, in der Landwirtschaft zu arbeiten – wenn man es richtig macht. Der Schulleiter im Tal tritt uns immer mal wieder eine Stunde ab, in der wir den Schülern erklären, was wir hier machen: eine völlig neue Landwirtschaft, mit der man besser leben kann als mit einem miserablen Job in der Stadt. Und tatsächlich: Ein paar junge Leute, die zuvor überhaupt keine Lust auf Landwirtschaft hatten, helfen jetzt ihren Eltern auf dem Feld."
Ankunft in Port-au-Prince. Endlich. Die Morgensonne beleuchtet halb verbrannte Reifen und vom Nachtregen durchnässte Müllhaufen. Junge Männer am Straßenrand blicken misstrauisch auf unser vorbeifahrendes Auto – das einzige Fahrzeug weit und breit - hier auf der Straße zum Flughafen.
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