Hip Hip Haiti

Kreative Start-Ups statt Katastrophenhilfe

Die Buchhalterin von "Haiti Design Co-op" steht vor Produkten aus den Werkstätten. Sie fing einst als Näherin an und konnte mit dem Gehalt ihre höhere Ausbildung finanzieren.
Die Buchhalterin von "Haiti Design Co-op“ steht vor Produkten aus den Werkstätten. Sie fing einst als Näherin an und konnte mit dem Gehalt ihre höhere Ausbildung finanzieren. © © Copyright David Weyand
Von Jenny Marrenbach · 01.11.2016
Anfang Oktober fegte Hurrikan Matthew über das karibische Meer und richtete in Haiti eine verheerende Katastrophe an. Dörfer und Städte wurden schwer beschädigt, mehrere Hundert Menschen starben. Es gibt aber auch andere Geschichten aus Haiti - Geschichten von kreativem Unternehmertum.

Im Social Business, also sozialen Geschäftsmodellen, erkunden Haitianer und ehemalige Mitarbeiter von Hilfsorganisationen die Möglichkeiten der Insel – jenseits von Katastrophen.
Brunel Zamor, Jolina Desroches, Jean Robert Pluviose (v.l.n.r) - sie gehörten zu den ersten Arbeitskräften und sind heute Teilhaber von "Rebuild Globaly". 
Brunel Zamor, Jolina Desroches, Jean Robert Pluviose (v.l.n.r) - sie gehörten zu den ersten Arbeitskräften und sind heute Teilhaber von "Rebuild Globaly". © © Copyright David Weyand

Manuskript zur Sendung:
Eine Gruppe Schauspieler probt ihre Performance für den späteren Abend. Daneben steht Jesse. Er leitet Haiti Communitère, eine Mischung aus Co-Workingspace, Versuchsgelände für neue Ideen und Sprungbrett für soziale Firmengründungen. Gemeinsam schlendern wir über das Gelände.
"Am Anfang kamen hier hauptsächlich Leute aus der Hilfscommunity hin. Aber unser Fokus hat sich verändert. Wir sind jetzt zu einem Platz geworden, zu dem Haitianer kommen, um hier zu arbeiten und zu networken. Sie kommen hier aus allen Teilen der Stadt hin. Wir sind so in Haiti zu einem wichtigen Treffpunkt geworden, an dem Haitianer sich treffen und Projekte entwickeln."
Das Gelände von Haiti Communitère sieht aus wie eine Mischung aus einem verwunschenen Garten und einem Treffpunkt für Hipster. Im Erdgeschoss des bunt gestrichenen Haupthauses sitzen Haitianer und Menschen aus der ganzen Welt konzentriert an ihren Laptops, auf dem Dach düngt jemand die Hochbeete mit dem Kompost der hauseigenen Biogastoilette. Auf einer Plattform in einem Mangobaum bespricht eine Gruppe ihr Projekt, Katzenbabys tummeln sich zwischen einem Kuppelbau aus alten Plastikflaschen und ein paar Schiffscontainern. Die Gebäude sind Prototypen, die hier auf dem Gelände entstanden sind und dem Wohnungsmangel nach dem Erdbeben 2010 Abhilfe schaffen sollten.
"Das ist eins meiner Lieblingsprojekte hier, das Ubuntu-Haus. Es wird aus recycelten Styroporcontainern gebaut. Sie werden gesäubert, geschreddert und dann als Füllmaterial für die Wände verbaut. Das Gebäude bleibt so angenehm kühl, besonders wenn es draußen sehr heiß ist. Eine Gruppe Frauen übernimmt die Recyclingarbeiten. Somit ist das Projekt auch sozial nachhaltig."

Werden die Häuser denn auch nachgebaut?
"Ehrlich gesagt gibt es nicht viele Ubuntu-Häuser in Haiti. Wir haben bei dem Projekt gelernt, dass ein mittelloser Haitianer, der gerade ein Erdbeben überlebt hat, nicht gerade davon träumt, in einem Haus aus Müll zu wohnen. Diese Erkenntnis war wichtig und hat es den Entwicklern ermöglicht, nach geeigneteren Alternativen zu suchen."

Organisationen halfen ohne Absprache mit der Bevölkerung

In Haiti ist so eine Vorgehensweise eher die Ausnahme. Nach dem Erdbeben kamen über 10.000 Hilfsorganisationen und Initiativen ins Land. Die meisten von ihnen fingen ohne Absprache mit der lokalen Bevölkerung an, ihre Vorstellungen von richtiger Hilfe umzusetzen. Ein großer Teil dieser Projekte ist nie zu Ende geführt worden oder wirkungslos geblieben, meint Jessie Baker. Deswegen sei es wichtig, dass es Versuchsflächen wie das "Haiti Communitère" gibt.
Jessie Baker zeigt auf einen alten Bus: "Wir haben ihn hippiemäßig in allen möglichen Farben angemalt. Wir sind gerade dabei ihn zu einer mobilen Werkstatt umzubauen. Dann kann der Bus in die Vororte von Port-au-Prince fahren und dort die Werkzeuge an Menschen ausleihen."
Direkt dahinter steht unsere große Werkstatt, einer der coolsten Orte auf dem Gelände. Wir haben Bohrer, Sägen - alles was man in einer voll ausgestatteten Werkstatt braucht.
Für Bauprojekte bei Haiti Communitère ist Jean-Louis zuständig. Der Haitianer bastelt gerade neben der Werkstatt an einer Kletterwand, an der sich die Co-Worker in ihren Pausen entlang hangeln können.
Jean-Louis: "Für die Haitianer ist Haiti Communitère ein magischer Ort. Ich habe viele Kollegen die hier hingekommen sind, gute Leute getroffen haben und sich weiterentwickelt haben. Ich habe hier zum Beispiel mein Englisch nebenbei aufgebessert, weil Leute mir mit der Sprache geholfen haben. Ich habe ihnen dafür unsere Sprache Créole beigebracht."
Den sozialen Unternehmen, die bei Haiti Communitère ihre ersten Schritte gehen, mangelt es nicht an Ideen. Eine unzuverlässige Energieversorgung, ein riesiges Müllproblem, Umweltverschmutzung und Abholzung durch die Produktion von Holzkohle sind nur einige der aktuellen Probleme abseits von Naturkatastrophen auf der Insel.
Für die Lösung dieser Probleme und für eine konstante Weiterentwicklung, braucht es für Jessie nicht noch mehr NGOs.
Jessie Baker: "Die Zeit ist vorbei, in der man einfach nach Haiti kam, um Katastrophenhilfe zu leisten. Der nächste Schritt ist jetzt gemeinsam mit den Haitianern an Projekten zu arbeiten, auf dieser Welle der kreativen, neuen Unternehmen aufzuspringen. Wir müssen die Haitianer in einer Entwicklung nach ihren eigenen Vorstellungen unterstützen. Wie das geht wissen wir per se auch nicht. Ich weiß überhaupt nichts, um ganz ehrlich zu sein. Ich bin hier runter gekommen und dachte ich wüsste Bescheid, aber wenn du einen Schritt zurückgehst merkst du: Dieses Land ist wie kein anderes. Du kannst hier nicht einfach hinkommen und standardisierte Lösungen mitbringen, das funktioniert nicht. Alles was wir machen können, ist die Leute zusammenzubringen und respektvoll miteinander umzugehen."

Sandalensohlen aus alten Autoreifen

Das Musterbeispiel eines erfolgreichen sogenannten "sozialen Unternehmens" liegt nur wenige Minuten zu Fuß von Haiti Communitère entfernt. "Demand Designs" und "Rebuild Globally" sind der Zusammenschluss einer Modemarke für Sandalen und einer Non-Profit Organisation, die für Jessies geforderte Zusammenarbeit stehen. Angefangen hat alles kurz nach dem schweren Erdbeben 2010 auf dem Gelände von Haiti Communitère. Vier Frauen haben damals mit Rasiermessern aus alten Autoreifen Sohlen für Sandalen ausgeschnitten. Mittlerweile gibt es die Sandalen in New York auf der 5th Avenue zu kaufen.
Sarah Stansted: "Das ist unsere Werkstatt, hier arbeiten 18 Menschen in Vollzeit."
Sarah Sandsted leitet die internationale Abteilung von Demand Designs und Rebuild Globally und führt mich durch die Produktionsstätte.
Jeder, der bei uns arbeitet, wird anständig bezahlt und ist krankenversichert. Wir zahlen Überstunden und Urlaubsgeld und ein dreizehntes Monatsgehalt. Für uns gehören diese Dinge ganz selbstverständlich zu einer Vollzeitstelle dazu, aber hier in Haiti ist das längst kein Standard. Die Jobs sind viel unsicherer. Wer zum Beispiel auf dem Markt verkauft, weiß nie, was er verdienen wird. Wir sind stolz darauf, dass wir unsere Arbeiter nicht nach Stückzahl vergüten. Das heißt: Egal wie unsere Auftragslage aussieht, unser Team erhält ein gesichertes Einkommen. Für einen normalen Arbeiter sind das knapp sieben Euro pro Tag, das ist das Doppelte vom haitianischen Mindestlohn.
Die Finanzierung von Demand Designs läuft über den Verkauf der Sandalen, die hauptsächlich in den USA angeboten werden. Berühmtheiten wie das Model Heide Lindgren oder der Designer Kenneth Cole unterstützen das Unternehmen mit eigens entworfenen Modellen.
Draußen vor der Werkstatt auf dem weitläufigen Hof, steht ein futuristisch aussehendes Kuppelgebäude. Das Dach des Pop-Up Shops – dahinter verbergen sich Kurzzeitläden – besteht aus einer alten Satellitenschüssel, die Wände aus Lehm und alten Autoreifen – dem wichtigsten Rohmaterial des Unternehmens.
Sarah Sandsted: "Die Idee für unsere Produkte ist, aus alten Autoreifen stylische Sandalen herzustellen. Dazu sammeln wir die Reifen von den Straßenrändern, bearbeiten sie mit einer hydraulischen Presse und schneiden dann die Sohlen für unsere Sandalen heraus."
In den letzten sechs Jahren haben wir so über 6000 Autoreifen recycelt. Damit schaffen wir nicht nur Jobs, sondern tun auch etwas für die Umwelt. Gerade in Haiti sind Autoreifen ein Problem, sie werden oft bei Straßenprotesten verbrannt oder zur Entsorgung in Kanäle und Flüsse geschmissen.
Sarah ist beim Unternehmen zwar für die internationalen Kontakte zuständig, geleitet wird es aber von drei Haitianern. Eine davon, Jolina Auguste, kommt gerade aus der Werkstatt. Sie ist seit der Gründung dabei.
Jolina Auguste: "Früher hatte ich mein eigenes kleines Geschäft, ich habe Kosmetika auf dem Markt verkauft. Durch das Erdbeben habe ich alles verloren. Ich dachte, mein Leben sei vorbei – bis ich hier einen Job fand. Ein fester Arbeitsplatz hat mir Dinge ermöglicht, die ich mir schon immer gewünscht hatte. Zum Beispiel konnte ich ein Stück Land kaufen und meinen Mann damit überraschen. Wir haben dort ein Haus gebaut, in dem wir heute leben. Ich sage immer, wenn ich damals Reis und Bohnen bekommen hätte, wären sie schon längst aufgegessen. Aber durch die Arbeit kann ich meine Familie bis heute ernähren."
Sarah und Jolina erinnern sich lachend an die Anfänge ihrer gemeinsamen Arbeit und an eine kleine schwarze Box unter der Matratze von Jolina, in der sie ihren Lohn versteckte.
"Einmal hat mich mein Mann gefragt, was ich mit meinem ganzen Geld mache. Ich weiß ja, dass du arbeiten gehst, hat er gesagt, aber ich sehe nie dein Geld. Er wusste ja nichts von der schwarzen Box. Dann habe ich ihm das Land gezeigt und gesagt: Das habe ich von dem Geld gekauft! Er war überwältigt."
Neben der Arbeit bei Rebuild Globally hat sich Jolina ihre eigenes kleines Unternehmen aufgebaut.

Arbeitsplätze schaffen - das hilft

"Ich produziere Erdnussbutter, drei Frauen arbeiten für mich. Und dann bin ich ja noch Teilhaberin von Demand Designs. So viel kann man mit seiner Arbeit erreichen. Deswegen sage ich immer, die Hilfsorganisationen sollten sich darauf konzentrieren, Arbeitsplätze für die Menschen zu schaffen, statt Reis und Bohnen zu verteilen. Die anderen Probleme lösen sich danach von ganz alleine."
NGOs auf Haiti folgen oft dem klassischen Schema: Ein Projekt starten, viele Fotos machen, sagen, dass sie geholfen haben. Für eine langfristige Verbesserung der Lage fehlten vernünftige Konzepte, sagt Jolina. Als eine von drei Teilhaberinnen des Unternehmens ist sie zur Hauptverdienerin in ihrer Familie aufgestiegen. Das hat auch ihr Privatleben verändert.
"Es kommt oft vor, dass mein Mann gerade keinen Job hat. Wenn ich morgens zur Arbeit gehe, bleibt er zu Hause und bereitet meine Töchter für die Schule vor. Wenn ich sehe, wie er sie kämmt, badet und ihnen etwas zu essen macht, bin ich sehr stolz darauf, dass ich diejenige bin, die zur Arbeit geht. Er sagt dann zu mir: Beeil dich Jolina, sonst kommst du zu spät. Er unterstützt mich, denn auch er findet es toll, dass ich arbeiten gehen kann."
Für die Zukunft träumen die Amerikanerin Sarah und Haitianerin Jolina davon, mit Demand Designs zu expandieren und irgendwann in der ganzen Welt ihre Sandalen zu verkaufen.
Mit Spendengeldern, die der Non-Profit-Arm des Unternehmens sammelt, finanzieren sie ein Programm, in dem bereits jetzt neue Fachkräfte ausgebildet werden.
Sarah Stansted: "Wir fördern 30 junge Leute aus der Gegend, die sich auf unser Programm beworben haben. Wir zahlen ihnen die Gebühren für die Schule, ihre Uniformen und ihre Bücher. Außerdem kommen sie zwei Mal die Woche zur Nachhilfe zu uns. Dann helfen wir ihnen – egal in welchem Fach sie gerade Probleme haben. Samstags gestalten wir den ganzen Tag mit eigenen Themen, die in der Schule vielleicht nicht genug Aufmerksamkeit bekommen. Das kann Sozialkunde sein, Englisch, Wirtschaft oder sexuelle Aufklärung und Hygiene. Wenn sie unser Programm und die Schule erfolgreich abgeschlossen haben, garantieren wir ihnen eine dreimonatige Ausbildung und einen Job bei uns in der Werkstatt."
Ein Teil der Arbeiter in der Werkstatt sei bereits aus dem Programm, sagt Sarah. Viele hätten aber auch ganz andere Pläne.

Studienfinanzierung mit Teilzeit-Jobs

"Viele von den Jugendlichen, die ihren Schulabschluss geschafft haben, wollen keine Sandalen mehr machen. Sie träumen jetzt davon Ärzte, Ingenieure oder Juristen zu werden. Also haben sie uns gefragt, ob wir ihnen nicht auch die Uni bezahlen könnten. Da haben wir gesagt: Nein, aber ihr könnt in Teilzeit bei uns arbeiten und euch so eurer Studium selbst finanzieren. Und das machen sie jetzt auch."
Es ist Abend geworden. Die Sandalenhersteller räumen ihre Werkzeuge weg, machen sich gemeinsam auf den Weg zum Gelände von Haiti Communitère, wo heute Abend eine Open-Mic-Nacht stattfindet. Die Theatergruppe vom Morgen hat ihre Vorstellung schon beendet, jetzt besteigt ein junger Haitianer mit kurzen Dreadlocks – um die Mitte 20 – die Bühne.
Es ist HK Masculos, einer der aufsteigenden Sänger in der immer aktiver werdenden haitianischen Musikszene:
"Ein Freund hat mich eingeladen und gesagt, HK, willst du nicht heute Abend bei der Open-Mic Nacht singen? Alles klar habe ich gesagt und ich freue mich zu sehen, wie viele Leute heute hier zusammenkommen sind."
Der 27-jährige Haitianer kommt aus einem der ärmsten Stadtviertel von Port-au-Prince und ist für die Anreise über eine Stunde in einem der bunten TapTaps gefahren, den Haitianischen Bussen. Die Möglichkeit hier seine Musik zu präsentieren, ist für ihn die Fahrt aber wert.
"Meine Musik nennt sich Voodoo Rap, denn Voodoo ist Teil meiner Kultur. Die Leute in Haiti lieben es, wenn du positive Lieder über ihr Land singst. Es gibt so viele Menschen, die mit Haiti nur Katastrophe in Verbindung bringen. Dabei ist unsere Insel wunderschön. Wir haben Strände, Früchte, Kultur. Ich singe, damit sich die Leute an diese Seite von Haiti erinnern."