Haiti in der Dauerkrise

"Wir sind Gefangene im eigenen Land"

24:17 Minuten
Wandbild mit dem ermordeten Präsidenten Jovenel Moise gegenüber seiner Residenz in Pétioville.
Wandbild von Präsident Jovenel Moïse: Seine Ermordung wirft noch heute viele Fragen auf. © Deutschlandradio/ Thomas Milz
Von Thomas Milz · 26.10.2021
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Im Juli wurde Haitis Präsident Jovenel Moïse unter mysteriösen Umständen ermordet. Seither herrscht Chaos. Kriminelle Gangs kontrollieren den Lebensmittel- und Benzinmarkt. In ihrer Verzweiflung versuchen immer mehr Haitianer zu fliehen. Aber wohin?
Auf dem internationalen Flughafen in Port-au-Prince spielen sich derzeit dramatische Szenen ab. Über 10.000 haitianische Migrantinnen und Migranten sind seit Mitte September von den US-amerikanischen Behörden an der texanischen Grenze aufgegriffen und nach Haiti gebracht worden. Die meisten von ihnen lebten seit Jahren in Südamerika, vor allem in Chile und Brasilien. Aber dort hat die Pandemie Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet und die Währungen abstürzen lassen.

Unerwünschte Haitianer in den USA

Ernesto und seine Familie verließen Haiti vor neun Jahren und lebten seitdem in Brasilien. Dann entschied man sich, ins gelobte Land USA weiterzuziehen. Doch dort sei man nicht willkommen gewesen, erzählt der aufgebrachte Ernesto am Flughafen von Port-au-Prince. "Sie haben uns wie Hunde behandelt", erzählt er. "Vier Tage haben sie uns in einem eiskalten Zimmer gehalten. Meine Tochter und ich haben jetzt eine Grippe. Ich will kein Geld, ich will mir nur schnell neue Papiere holen und dann wieder weg. Denn hier gibt es keine Arbeit. Ich verstehe nicht, wieso die Kerle uns hierhergebracht haben. Das sind alles Gangster."
Um neue Papiere zu bekommen, wird Ernesto die Behörden schmieren müssen. Bis zu 1000 Dollar pro Pass sollen die Beamten in Haiti verlangen. Und für Flugtickets zurück nach Brasilien muss man bis zu 2000 Dollar zahlen. Wer reiche Verwandte im Ausland hat, kann sich das leisten. Ernestos Familie ist aber arm, so wie die allermeisten in Haiti.
Mehrere Personen bei der Ankunft der Abgeschobenen am Flughafen Port-au-Prince.
Ankunft der Abgeschobenen am Flughafen von Port-au-Prince.© Deutschlandradio/ Thomas Milz
Ihre Heimat erkennen viele Migranten nicht mehr wieder. Haiti ist ein Land im Chaos, das seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse am 7. Juli führungslos dem Abgrund entgegen taumelt. Die Versorgung ist zusammengebrochen, die Gewalt ufert aus. Der Staat ist nicht mehr in der Lage, seinen Bürgern grundlegende Menschenrechte zu garantieren.
Man müsse statt von Migranten von Flüchtlingen sprechen, fordert die Menschenrechtsaktivistin Yolene Gilles. Der haitianische Staat sei bankrott, der Präsident tot, ermordet in seinem eigenen Zimmer. "Das zeigt den hohen Grad an Unsicherheit in diesem Land." Aber niemand kümmere sich um die Sicherheitslage in Haiti. "Man kann nicht mehr rausgehen. Man kann nicht mal eben in den Park oder einkaufen gehen. Man muss es sich gut überlegen, man muss andere um Hilfe bitten. Nirgendwo kann man hin, nicht nach Norden, nicht nach Süden. Die Bande 400 Mawozo kontrolliert jetzt auch noch die Grenzregion zur Dominikanischen Republik. Die Haitianer sind Gefangene in ihrem eigenen Land."
Die Gang 400 Mawozo hat erst vor Kurzem 17 US-amerikanische Missionare entführt. Als Lösegeld fordern sie eine Million Dollar – pro Person. Andere Banden haben sich auf den Schwarzmarkt mit Benzin und Lebensmittel konzentriert.

Der Präsidentenmord wirft viele Fragen auf

In Pétionville hoch über Port-au-Prince liegt das Anwesen, in dem Präsident Jovenel Moïse ermordet wurde. Ein kleiner Bach fließt vorbei, dann stößt man auf mächtige Mauern, Eisentore verwehren den Eintritt.
Doch in den frühen Morgenstunden des 7. Juli konnte sich ein Kommando kolumbianischer Söldner ohne Widerstand Zugang zu dem Haus verschaffen und den Präsidenten in seinem Schlafzimmer töten. Kein einziger der Leibwächter wurde dabei getötet. Wie kann das sein?
Um den Tod von Jovenel Moïse kreisen viele Gerüchte. Mal sollen es Drogenkartelle gewesen sein, die den Mord in Auftrag gaben. Auch haitianische Politiker der Opposition könnten hinter dem Mord stecken. Sie hatten seit Monaten Moïses Rücktritt gefordert. Oder waren es Unternehmer, denen der Präsident lukrative Staatsaufträge streichen wollte?
Laut Polizei steckt ein evangelikaler Prediger hinter dem Mord. Er soll die kolumbianischen Söldner unter falschem Vorwand nach Haiti geholt haben, um sich mit ihrer Hilfe nach Moïses Tod selbst zum Präsidenten aufzuschwingen. Daran glaubt hier jedoch niemand. Es muss Komplizen auf höchster Ebene gegeben haben, in der Polizei und in der Justiz, und einen mächtigen Geldgeber, um die aufwendige Kommandoaktion zu finanzieren.
"Heute existiert in Haiti eine Voyoucratie, eine Herrschaft der Mafias, die das Land komplett kontrollieren", analysiert der Journalist und Schriftsteller Michel Soukar die derzeitige Lage. "Das geht von oben nach unten, alle Institutionen wurden korrumpiert. Die Exekutive, Legislative, die Judikative, alles ist verkommen und alles ist korrumpiert durch das schmutzige Drogengeld, das jetzt auch noch den Waffenhandel finanziert."

Haiti ist abgeschrieben von der Welt

Haiti und die Gewalt – das ist eine unheilvolle Liaison seit den Tagen der brutalen französischen Kolonialherrschaft. Grausam rächten sich danach die rebellierenden Sklaven im Unabhängigkeitskrieg an den weißen Kolonialherren und Napoleons Truppen. Doch die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft hat sich bis heute nicht erfüllt, erklärt Michel Soukar. "Die haitianische Gesellschaft wurde aus dem Kolonialismus, der Sklaverei und dem Rassismus geboren, mit all seinen Konsequenzen. Diejenigen, die 1804 dieses Land gründeten, ersetzten nur die französischen Kolonialherren." Heute gebe es keine weißen Kolonialherren mehr, dafür aber schwarze Kolonialherren und Mulatos, die Mischlinge. "Gemeinsam nutzen die ihre meist schwarzen Mitbürger aus, als Dienstboten, Putzfrauen oder gar als Sklaven. Ein Vertreter dieser Elite sagte mir einst: Du hältst Haiti für ein Land. Aber für uns ist es lediglich ein Geldautomat."

In den letzten Wochen hat sich die Versorgungslage in Haiti noch weiter zugespitzt. Benzin für Autos und Stromgeneratoren gibt es fast nur noch auf dem Schwarzmarkt. In Haiti gehen buchstäblich die Lichter aus.
Müllberge in den Straßen von Port-au-Prince.
Auch die Müllabfuhr funktioniert in Haiti nicht mehr.© Deutschlandradio/ Thomas Milz

Ungleiche Nachbarn in der Dominikanischen Republik

Nur 300 Kilometer weiter östlich von Port-au-Prince liegt Santo Domingo, die Hauptstadt der Dominikanischen Republik. Dort ist man stolz auf seine Geschichte. Santo Domingo ist die älteste europäische Ansiedlung in der neuen Welt, das Haus, in dem einst Christoph Kolumbus für einige Monate lebte, ist Teil der Sightseeing-Tour, genau wie die von den Spaniern gegründete Universität.
Historisches Zentrum von Santo Domingo mit Kolumbus-Statue und einer Band die auf dem Platz spielt.
Historisches Zentrum von Santo Domingo mit Kolumbus-Statue: Hier ist man stolz auf sein historisches Erbe.© Deutschlandradio/ Thomas Milz
Haiti und die Dominikanischen Republik teilen sich die Insel Hispaniola, sie sind also engste Nachbarn. Doch ihre Geschichte trennt sie. Die französische Kolonie Haiti wurde wegen ihres Reichtums einst die Perle der Antillen genannt. Damals war der spanische Teil der Insel das Armenhaus. Doch das ist lange her. Die Dominikanische Republik hat sich in den letzten Jahrzehnten ein stabiles Wachstum erarbeitet, auch dank des europäischen Tourismus.
Im alten Gouverneurspalast von Santo Domingo können sich die Touristen ein Bild von der Geschichte Hispaniolas machen. Sie ist voll von Streitigkeiten und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Nachbarn. So erinnert man sich in der Dominikanischen Republik sehr genau an die 22 Jahre, die man zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter der Herrschaft Haitis stand. Jenem Haiti, das sich 1804 von den französischen Sklavenhaltern befreite, um dann – wenige Jahre später – seine Nachbarn zu unterjochen, erklärt der Museumsführer. "Sie haben die Dominikaner damals regelrecht versklavt. Dabei hatten sie selbst erst kurz davor die Sklaverei abgeschafft. Sie haben uns sehr schlecht behandelt, erhöhten die Abgaben, die die Bauern an die haitianische Regierung bezahlen mussten."
Das ist lange her, möchte man meinen, und von den Massakern, die der dominikanische Diktator Rafael Leónidas Trujillo in den 1930er-Jahren an Haitianern verübte, erfährt man in dem Museum auch nichts.
Die Dominikaner halten sich für Spanier, für Europäer, und schauen auf die Haitianer herab, die sie als minderwertige Afrikaner bezeichnen, klagen in der Santo Domingo lebende Haitianer. "Sie halten uns Haitianer für schmutzig und eklig. Sie glauben, dass wir uns nicht waschen. Nicht alle, aber manche", sagt Reynante Regis, die seit 14 Jahren in der Dominikanischen Republik lebt. Andererseits habe sie hier berufliche Chancen, die sie in Haiti nicht hat. "Es gibt Diskriminierung. Aber das lasse ich nicht an mich ran. Das macht mir nichts. Ich bin zum Lernen und Arbeiten hier, zu sonst nichts."

"Sie hassen uns in ihrem tiefsten Inneren"

Nach Schätzungen leben etwa 500.000 Haitianer in der Dominikanischen Republik, die meisten illegal. Dazu kommen täglich Tausende unkontrollierte Grenzgänger. Visa können sie sich nicht leisten. Diese kosten offiziell 350 Dollar, doch oft müssen die Antragssteller noch mehr dafür bezahlen.
Arbeit gibt es für die Haitianer aber genug: Sowohl im dominikanischen Bausektor wie in der Landwirtschaft sind ein Drittel der Arbeiter Haitianer. Und sie sind mit geringeren Löhnen zufrieden als die Dominikaner. Die dominikanische Regierung hat den Unternehmern nun eine Frist von drei Monaten gesetzt, ihre haitianischen Arbeiter zu legalisieren.
Zudem will man einen Grenzzaun ziehen und scharfe Kontrollen einführen, wie Präsident Luis Abinader im Februar ankündigte."Mit dieser Maßnahme wollen wir innerhalb von zwei Jahren die schweren Probleme der illegalen Einwanderung, des Drogenhandels und des Schmuggels geklauter Autos lösen, unter denen wir seit Jahren leiden. Wir wollen endlich den Schutz unseres Territoriums erreichen, den wir seit unserer Unabhängigkeit anstreben."
Doch außer dem Bau einiger Kilometer Absperrungen ist bisher nicht viel passiert. Darlene ist seit zwei Jahren in Santo Domingo. Wohl fühlt sie sich hier nicht. Sie glaubt, dass der Hass auf die Haitianer in der Geschichte begründet liegt. "Haiti war die erste freie Republik der Schwarzen", sagt sie. "Darum hassen sie uns, tief in ihrem Innersten."

Korrupte Eliten bluten das Land aus

Es ist eine Sichtweise, die viele Haitianer teilen: Die Welt um sie herum, also die US-Amerikaner, die Dominikaner, die Franzosen und viele andere wollen mit allen Mitteln verhindern, dass Haiti auf die Beine kommt. Das erste Land der Welt, in dem sich die Sklaven von ihren weißen Peinigern befreiten, darf einfach keinen Erfolg haben, so die Erklärung.
Der haitianische Ökonom Etzel Emile rät seinen Landsleuten dringend, sich stattdessen auf die eigene Verantwortung zu besinnen. Haiti habe bis in die 80er-Jahre hinein in etwa den gleichen Lebensstandard wie seine Nachbarn in der Dominikanischen Republik gehabt. Doch anschließend schlug der Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie fehl. "Unsere Elite war überhaupt nicht an der Entwicklung unseres Landes interessiert. Diese Leute haben keinerlei Beziehung zu diesem Land, so wie Ex-Präsident Martelly und dessen damaligen Premierminister Lamothe. Seit sie aus dem Amt sind, leben sie überhaupt nicht mehr in Haiti." Das Gleiche gelte für die Privatunternehmer und die Politiker. "Sie leben woanders, und haben kein Interesse an Haiti, außer dem Interesse, hier Geld zu verdienen."
Etzel Emile fürchtet, dass die alten Eliten wie Ex-Präsident Michel Martelly bei den Wahlen im nächsten Jahr trotzdem triumphieren könnten. Dabei brauche das Land dringend bessere Politiker und bessere Unternehmer.
Auch wenn er davon überzeugt ist, dass es immer Korruption geben wird. "In der Politik der Dominikanischen Republik gibt es ja auch Korruption", betont er. "Aber genau diese Leute wollen trotzdem etwas für ihr Land tun. Denn sie wissen, dass sie mehr Geld verdienen könnten, wenn es mit dem Land aufwärts geht." Die Eliten in Haiti würden den Prozess allerdings nicht verstehen. "Sie machen das Land ärmer, machen das Leben schwieriger für alle – und verdienen dadurch letztlich selber weniger. Aber das kapieren sie einfach nicht."
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