Hässliches Misstrauen

12.07.2011
Eifersucht, Besitzansprüche, sexuelle Triebe haben die Theorien von Sigmund Freud geprägt. Wie sehr er selbst davon beherrscht war, kann man der intimen Korrespondenz zwischen ihm und seiner Braut Martha Bernays entnehmen, die jetzt erstmals in einer ungekürzten Ausgabe erschienen ist.
"Du wirst doch werden, wie ich will", schreibt Sigmund Freud am 22. Oktober 1882 an die 21-jährige Martha Bernays, mit der er sich am 17.6.1882 heimlich verlobt hat. Ein Jahr später ist aus dem nicht gerade bescheidenen Anspruch jene Formel geworden, die dem ersten Band der "Brautbriefe" als Titel dient: "Sei mein, wie ich mir’s denke". Heute sind die zwischen 1882 und 1886 geschriebenen Briefe längst ein Mythos, 1539 an der Zahl. Zweimal hatte Martha Bernays erwogen, die Dokumente einer "überaus entbehrungsreichen Aufbruchszeit" und leidenschaftlichen wie konfliktreichen Liebesbeziehung zu vernichten: am 13.9.1886, dem Tag der Hochzeit von Freud und Bernays sowie nach Freuds Tod im Jahr 1939.

Der erste Band der auf fünf Bände konzipierten, ungekürzten Ausgabe hält viele Überraschungen bereit. Lange bevor Freud - zusammen mit dem befreundeten Wiener Arzt Josef Breuer - die "Studien über Hysterie" (1895) und die "Traumdeutung" (1900) veröffentlicht, begegnet man dem frisch Promovierten (1881 hatte er seinen Doktortitel in der Medizin erworben) zwischen ärztlicher Praxis und wissenschaftlicher Forschung, Gehirnanatomie und Psychiatrie. Die eigentliche Essenz des Briefwechsels aber ist, dass die aus einem jüdisch-orthodoxen Gelehrtenhaushalt stammende Martha Bernays endlich zu Wort kommt. Als Ehefrau und Mutter der sechs Kinder ist sie zwar lebenslang an Freuds Seite, doch nun hören wir sie selbst sprechen, klug und resolut.

Die zwischen Juni 1882 und Juli 1883 ausgetauschten Briefe offenbaren: die voreheliche Existenz des späteren Begründers der Psychoanalyse ist von extremen "Verstimmungen", sprich Eifersucht und Misstrauen, erfüllt. Den Liebenden plagt nicht nur die räumliche Entfernung zwischen Wien und Wandsbek, die wegen Geldmangels und den rigiden Klinikalltag unüberwindbar scheint. Zur Folter wird ihm die fehlende Kontrolle über das Leben der Geliebten, das ihm rätselhaft und daher gefährlich erscheint. Rivalen sprießen wie Pilze aus dem Boden. 1882/83 ist es vor allem der Musiker Fritz Wahle. Freud scheut nicht davor zurück, Martha den Umgang zu untersagen und bezeichnet sich kokett als "Despot" – sie ihn im Gegenzug als "sanften Tyrann". Auch gegen den Bernays’schen Familienclan, hauptsächlich gegen die Mutter Emmeline Bernays, geht der Werbende offensiv vor, da er Martha in eine "Aschenbrödelrolle" gedrängt sieht. Doch Martha weiß sich den Vereinnahmungen zu widersetzen. Sie antwortet selbstbewusst, mit analytischem Verstand und sicherem Federstrich: "Der ganze Brief war ein Ausfluß hässlichen Mitrauens."

So ahnt man bei der Lektüre bereits etwas von jenem Sigmund Freud, den Michel Foucault zu den "Diskursivitätsbegründern" der Moderne zählt. In welchem Maß er Selbstanalyse betrieben haben muss, lässt der Briefwechsel lediglich ahnen. "Mir ist es Bedürfnis, in den Dingen zu wühlen, um ihre Wahrheit ans Licht zu bringen", bekennt er. Freuds Methoden des Entzifferns individueller wie kultureller Codes sind Teil der modernen Geistesgeschichte. Die Brautbriefe als rhetorisch eindrucksvolle und mental anrührende Dokumente gelesen, lassen erste Anfänge dafür deutlich erkennen.

Besprochen von Carola Wiemers

Sigmund Freud / Martha Bernays: Sei mein, wie ich mir’s denke, Die Brautbriefe, Juni 1882 – Juli 1883, Band 1 der ungekürzten Ausgabe in fünf Bänden
Hrsg. von Gerhard Fichtner, Ilse Grubrich-Simitis und Albrecht Hirschmüller
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011
625 Seiten, 48,00 Euro
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