Perverse, Narzissten und Psychotiker

26.05.2011
Die narzisstische Charakterstörung avanciert allmählich zu einem Massenphänomen, behauptet der französische Soziologe Alain Ehrenberg. Und schuld daran ist angeblich die moderne Arbeitswelt.
Welche Charaktere trifft man heute in den Chef-Etagen der Wirtschaft? Ehrenberg beruft sich auf neueste Studien aus Frankreich:

Die Führungspositionen sind oft ... von Perversen, Psychotikern und gleichgültigen Paranoikern besetzt.

Narzisstische Störungen der Persönlichkeit also, und zwar aller Couleur, haben französische Soziologen und Psychologen in den Leitungen von Unternehmen ausgemacht.

Ein Narzisst ist ein Charakter mit instabilem Selbstwertgefühl, es schwankt zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsempfinden.

Das schwankende Selbstwertgefühl wird ängstlich versteckt und ist der Grund dafür, dass man sich laufend selbst bespiegelt. Darum haben Narzissten auch kaum ein Ohr und schon gar kein Herz für die Bedürfnisse ihre Mitmenschen.

Warum trifft man diesen Typus so häufig in den Chefetagen der Wirtschaft? Ganz einfach, sagt Ehrenberg: Weil ein Charakter mit viel Ellenbogen und wenig Mitgefühl gut gerüstet ist, in einer gnadenlosen Profit-Wirtschaft Karriere zu machen. Aber laut Statistik sind narzisstische Störungen generell im Vormarsch. Nicht nur im Management. Auch bei Arbeitern und bei Arbeitslosen.

Die Leiden seien verursacht ... durch das Verschwinden der wahren Gesellschaft. Jener Gesellschaft, in der es echte Arbeitsplätze, echte Familien, eine echte Schule und eine echte Politik gab, in der man zwar beherrscht, aber beschützt wurde.

Die These ist weit verbreitet, versichert Ehrenberg. Sowohl in Psychologen-Kreisen als auch bei Soziologen in Frankreich, aber auch in den USA. Die Franzosen und die Amerikaner haben sich immer besonders für Sigmund Freud und die Psychoanalyse interessiert, darum ist die Geschichte des "psychischen Unbehagens" in diesen Kulturen auch besonders gut dokumentiert.

Um jene Geschichte geht es in den ersten beiden Teilen dieses Buches. Teil eins behandelt Frankreich, Teil zwei die USA. Jedes Mal wird die Entwicklung politischer und wirtschaftlicher Strukturen betrachtet, parallel dazu die Historie der Psychiatrie und der Psychotherapie. Im dritten Teil überschreitet der Autor die Horizonte des Nationalen und wagt eine Prognose zur Entwicklung der psychischen Gebrechen in der postindustriellen Gesellschaft.

Seit den 1970er-Jahren sei die Psychoanalyse zu einer Weltanschauung avanciert, zumindest in gebildeten Kreisen, zumindest in Frankreich und den USA. Doch es gebe einen wesentlichen Unterschied, sagt Ehrenberg:

Die amerikanische Psychoanalyse ist medizinisch, sie stellt ein therapeutisches Bündnis mit dem Patienten her. Die französische ist literarisch und philosophisch, in Frankreich haben sich die Psychoanalytiker selbst zu Soziologen gemacht, um ihre Gesellschaft zu kritisieren.

Der Autor denkt zuerst an Jacques Lacan und dessen prägenden Einfluss auf die französische Sozialwissenschaft seit den 1950er-Jahren. Schon 1938 hatte der Psychoanalytiker Lacan ein kommendes Zeitalter des Narzissmus prophezeit. 50 Jahre später ist die "narzisstische Charakterstörung" eine der meistgestellten Diagnosen von Psychologen in den USA.

Unsere Psyche wird in der frühen Kindheit geprägt, durch Familienbeziehungen. Das ist die Grundüberzeugung von Sigmund Freud, darauf basiert seine Psychoanalyse. Aber ein Familienklima entwickelt sich nicht im luftleeren Raum, es wurzelt im Nährboden einer Gesellschaft. Dass die narzisstische Charakterstörung heute allmählich zu einem Massenphänomen avanciert, hängt mit dem neuen "Unbehagen am Arbeitsplatz" zusammen:

Das Unbehagen am Arbeitsplatz erscheint als ein Hauptaspekt des Unbehagens in der Kultur. Es besteht darin, dass die soziale Bindung immer unsicherer wird.

Zeit- und Honorarverträge anstatt jahrzehntelange Betriebszugehörigkeit, unverbindliche Praktika und immer wieder einmal arbeitslos: so sieht ein Arbeitnehmer-Leben heute aus. Kein Wunder, so Ehrenberg, dass sich Menschen in dieser Situation massenhaft auf sich selbst zurückziehen und narzisstische Züge entwickeln. Oder aber Burn-out Syndrome und Depressionen. Wegen Überforderung und Angst, den Job zu verlieren.

Es ist vor allem die Arbeitswelt von heute, welche die Saaten einer gestörten Kindheit massenhaft aufgehen lässt. Das ist die unbehagliche Botschaft dieses Buches. Ein durchaus sperriger Text – aber auch ein gehaltvoller, wertvoller Beitrag zu einer kritischen Theorie der postindustriellen Gesellschaft.

Besprochen von Susanne Mack

Alain Ehrenberg: Das Unbehagen in der Gesellschaft
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
531 Seiten, 29,90 Euro