Über Träume, Ängste und Sex

Rezensiert von Brigitte Neumann · 05.05.2006
Anlässlich von Sigmund Freuds 150. Geburtstag ist die elf Stunden lange Höredition "Entdeckungen auf der Coach" erschienen. Hanna Schygulla, Gudrun Landgrebe, Roger Willemsen und andere lesen Texte des berühmten Psychoanalytikers über Träume, Ängste, die psychische Impotenz bei Mann und Frau, Krieg, Religion und - schon damals aktuell - die demographische Katastrophe.
"Hast Du wohl verdrängt!" parierte man Vergesslichkeiten seiner Mitmenschen noch vor 30 Jahren anspielungsreich. Heute ist es eher üblich zu frotzeln: Na? Alzheimer?

Freuds einst revolutionäres Ideengebäude über die Zerlegung der menschlichen Seele ist ein wenig aus der Mode gekommen. Als zeitgemäß gelten Hirnforschung und Neurowissenschaft. Da beschäftigt man sich mit Messbarem: mit Strömen, chemischen Reaktionen, Substanzen, mittels derer die Gehirntätigkeit zu verändern wäre und mit der Einpflanzung von Elektrochips, die in der Lage sind, mit natürlichen Nerven zu verwachsen.

Die Hirnforschung verneint im Großen und Ganzen das Wesen einer menschlichen Natur, die aus sozialen Erfahrungen hervorgeht. Das aber war die These der Psychoanalyse, die Sigmund Freud Anfang des letzten Jahrhunderts als naturwissenschaftliche Methode etablierte.

1900 erscheint sein erstes Werk "Die Traumdeutung".

"Die Traumarbeit zwingt uns, eine unbewusste psychische Tätigkeit anzunehmen, welche umfassender ist, als die uns bekannte, mit Bewusstsein verbundene."

"Wer den Traum versteht, kann auch den psychischen Mechanismus der Psychosen und Neurosen durchschauen."

Angst war einer der beiden meistgenannten Gründe, weswegen Menschen Sigmund Freud konsultierten. Zum Beispiel Katharina. In einem Ausflugslokal in den Alpen sprach ihn die junge Frau an, denn sie hatte gehört, Dr. Freud könne Leute nur durch Reden heilen. Er bat sie, sich zu setzen und zu erzählen, wann sie den ersten Anfall hatte. Als sie vor Jahren durch ein Fenster beobachtete, wie der Onkel es mit der Köchin trieb. Freuds Nachfragen ergab, dass sich der Onkel in betrunkenem Zustand desnachts öfter an ihr zu schaffen machte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Er ließ jedes Mal von ihr ab, wenn sie schrie und ihn beschimpfte.

"Ich sagte ihr also, als sie ihre Beichte geendigt hatte: Jetzt weiß ich schon, was Sie sich damals gedacht haben, wie Sie ins Zimmer hineingeschaut haben. Sie haben sich gedacht: Jetzt tut er mit ihr, was er damals bei Nacht und die anderen Male mit mir hat tun wollen. Davor haben Sie sich geekelt, weil Sie sich an die Empfindung erinnert haben, wie Sie in der Nacht aufgewacht sind und seinen Körper gespürt haben."

Zwischen dem Fall Katharina und dem Text "Über die allgemeine Erniedrigung des Liebeslebens" liegen 17 Jahre. Gudrun Landgrebe liest geduldig, mit einem Unterton des Erstaunens, was Freud über seelische Impotenz herausgefunden hat. Bei Frauen nennt er die Unüberwindbarkeit des Sexualverbots aus der Kindheit als Grund für Frigidität. Bei Männern nennt er die Ursache "Dirnenliebe". Sie können die Frau, die sie respektieren, nicht sexuell begehren.
Und es klingt fast nach Kapitulation, wenn der Seelenarzt schreibt ...

"Ich glaube man müsste sich, so befremdent es auch klingt, mit der Möglichkeit beschäftigen, dass etwas in der Natur des Sexualtriebs selbst dem Zustandekommen der vollen Befriedigung nicht günstig ist."

... und etwas weiter heißt es – auch nicht gerade ermutigend ...

"So müsste man sich denn vielleicht mit dem Gedanken befreunden, dass eine Ausgleichung der Ansprüche des Sexualtriebs mit den Anforderungen der Kultur überhaupt nicht möglich ist."

Dass der Verzicht auf Triebbefriedigungen ein der Grundlagen der menschlichen Kulturentwicklung zu sein scheint, führt Freud zu einer Prophezeiung von apokalyptischem Ausmaß:

"Seit unvordenklichen Zeiten zeiht sich über die Menschheit der Prozess der Kulturentwicklung hin. Ich weiß, andere heißen ihn lieber 'Zivilisation'. Diesem Prozess verdanken wir das Beste, was wir geworden sind und ein Gutteil von dem, woran wir leiden. Seine Anfänge sind dunkel. Sein Ausgang ungewiss.
Vielleicht führt es zum Erlöschen der Menschenart, denn er beeinträchtigt die Sexualfunktion in mehr als einer Weise. Und schon heute vermehren sich unkultuvierte Rassen und zurückgebliebene Schichten der Bevölkerung stärker als hochkultivierte."

Was wir heute von Huntington oder Schirrmacher lesen, hat Freud am Vorabend des Zweiten Weltkriegs bereits geschrieben. Er ist damals 76. Das eben gehörte Zitat ist Teil eines öffentlichen Briefwechsels, den Freud mit Einstein geführt hat. Die Ausgangsfrage hieß: Warum Krieg?

Der Text ist von aktueller Brisanz und gut verständlich. Was nicht von allen Stücken Freuds in dieser Höredition zu behaupten ist. Hier braucht der Hörer Mut zur Lücke: einfach auslassen. Das allerdings hätte auch schon der Verlag tun können. Freuds Kunstinterpretation "Der Moses des Michelangelo" quält und taugt nur als Einschlafhilfe. Wer auf keinen Fall elf Stunden Freud im Original hören will, kann die CDs auch einzeln erwerben und sollte sich vielleicht auf die beiden wunderbarsten Stücke konzentrieren: Die von Gudrun Landgrebe gelesenen Texte über das Liebesleben. Und das Hörbuch über Literatur, Religion und Krieg, konzentriert gelesen von Michael Krüger.

Sigmund Freud - Die Höredition
"Entdeckungen auf der Coach"

Kassette mit elf CD
99 Euro
Der Hörverlag
Die CDs sind auch einzeln erhältlich für Euro 14,95 Euro