Hervé Guibert: „Verrückt nach Vincent“

Liebeswahnsinnige Literatur

06:31 Minuten
Schwarzweißes, in kontrastarmen Graustufen gehaltenes Gesichtsporträt eines jungen Mannes mit nackten Schultern vor weißem Hintergrund
© Albino Verlag

Hervé Guibert

J.J. Schlegel

Verrückt nach Vincent & Reise nach MarokkoAlbino Verlag, Berlin 2021

152 Seiten

20,00 Euro

Von Dirk Fuhrig · 22.11.2021
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Als einer der ersten schrieb er Romane über seine Aids-Erkrankung. Dafür wurde der 1991 gestorbene Hervé Guibert berühmt. Aber auch den Schmerz der unerwiderten Liebe schilderte er radikal offen.
In den 80er-Jahren war eine Aids-Diagnose ein Todesurteil. Viele Jahre musste die Forschung zu dem Virus mit geringer finanzieller und institutioneller Unterstützung auskommen, ganz anders als bei der derzeitigen Coronapandemie, in der in kürzester Zeit enorme wissenschaftliche Fortschritte gemacht wurden.

Aufstrebender Pariser Intellektueller

Der 1955 geborene französische Schriftsteller und Fotograf Hervé Guibert, der auch als Kritiker für die Zeitung „Le Monde“ arbeitete, war bis zu seinem Tod im Alter von 36 Jahren ein aufstrebender, provozierender Pariser Intellektueller.
Mit dem Regisseur Patrice Chéreau hat er den Film „L’homme blessé - der verführte Mann“ gedreht. Er war ein Freund und Schüler Michel Foucaults und Roland Barthes’, dessen „Fragmente einer Sprache der Liebe“ für „Verrückt nach Vincent“ Pate gestanden haben.
Peinigende Selbstbespiegelung
Anders als das Ich in seinen teilweise zu Bestsellern gewordenen autobiografischen Romanen – „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“ oder „Mitleidsprotokoll“ –, in denen er minutiös das Fortschreiten seiner Erkrankung in allen peinigenden Einzelheiten skizzierte und zuspitzte, weiß der Erzähler in diesem frühen Text noch nichts von einer Infizierung. HIV wird nur am Rande erwähnt.
„Fou de Vincent“ heißt das Buch im französischen Original. Es geht um das, was man „Amour fou“ nennt – also eine Leidenschaft, die den Begehrenden total wahnsinnig, besessen macht, und die nicht endet: „Ich hatte Vincent 1982 kennengelernt. Seit sechs Jahren okkupierte er mein Tagebuch.“
„Abscheulich verliebt“
Der Ich-Erzähler ist hoffnungslos vernarrt in diesen jungen Mann, der sich ihm immer wieder auf brutale Weise entzieht. Trotz intensiver sexueller Begegnungen sträubt sich Vincent, sich selbst als homosexuell zu definieren. Er schaut Hetero-Pornos, und seine Freunde auf dem Sportplatz dürfen keinesfalls ahnen, dass er es mit Männern treibt.
Das Buch ist aber mehr als eine der vielen Geschichten über die Schmerzen einer nicht eingestandenen sexuellen Vorliebe. Die Selbstbetrachtung des Erzählers ist schon fast so schonungslos wie in Guiberts späteren Texten über sein Siechtum.
Bereits hier deutet sich an, wie weit der Autor zu gehen bereit ist, um sein Innenleben, seine Verzweiflung, seinen Liebeswahn zu offenbaren. „Abscheulich verliebt“ nennt er das.  

Fotografischer Blick auf eigene Existenz

Hervé Guibert war mit dem deutschen Fotografen Hans Georg Berger befreundet und hat sich von ihm über viele Jahre hinweg immer wieder ablichten lassen. Guiberts Schreibweise ist ein fotografischer Blick auf die eigene Existenz. Jede Pore von Leib und Seele, Gewaltfantasien und derbe erotische Exzesse eingeschlossen, wird gnadenlos ausgeleuchtet, jede Falte, jede Fehlstelle.
Was daraus entsteht, ist allerdings das Gegenteil einer Dokumentation. Vielmehr stilisiert der Autor sich in dieser visuellen Literatur selbst und sehr bewusst zu einem Kunstwerk.
Sprunghaftes, assoziatives Erzählen, Zeitsprünge, radikale Introspektion, oft auch manieriert und artifiziell - in dieser kurzen, liebeswahnsinnigen Erzählung ist der außergewöhnliche Schriftsteller Hervé Guibert schon ganz bei sich.

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