Grenzöffnung gegen Schuldenerlass?

Was im Sommer 1989 wirklich geschah

63:11 Minuten
DDR-Flüchtlinge überqueren die Grenze von Ungarn nach Österreich in St. Margarethen, 19. August 1989.
DDR-Bürgerinnen und Bürger überqueren im Sommer 1989 die ungarisch-österreichische Grenze: Was hatte die Verschuldung Ungarns damit zu tun? © picture alliance / brandstaetter images / Votava
Von Anna Loll und Stephan Ozsváth · 08.11.2022
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Das Jahr 1989 markiert eine historische Zäsur. Im Sommer öffnet Ungarn die Grenze zu Österreich. Im November fällt die Berliner die Mauer. Ein aufgetauchtes Geheimdienstpapier von damals drängt nun die Vermutung auf, das vor allem Geld im Spiel war.
1989: Das war das Jahr, in dem Ungarn den Grenzzaun zu Österreich öffnete. Dann öffnete sich unter dem Druck der Menschenmassen in Berlin die Mauer. Die Bilder gingen um die Welt, das Wort von der friedlichen Revolution machte die Runde. Was aber geschah hinter den Kulissen? 

Kürzlich tauchte ein Papier des tschechoslowakischen Geheimdienstes aus dem Herbst 1989 auf, das Fragen aufwirft: Hat die Bundesregierung damals die ungarische Grenzöffnung erkauft? Welche Rolle spielte die Verschuldung der Ostblockstaaten im Westen? Wie hat die Bundesregierung im Jahr des Mauerfalls mit der Schuldenproblematik des Ostblocks Politik gemacht?

Anna Loll und Stephan Ozsváth sind diesen Fragen nachgegangen und haben mit politischen Akteuren von damals gesprochen. 

Teil 1: Ein bisher unbekanntes Geheimdienstdokument – und was der damalige ungarische Regierungschef heute dazu sagt

1989: das Jahr, in dem die Mauer fällt, in dem sich der Eiserne Vorhang öffnet; das Ende des Ost-West-Konflikts, des Kalten Krieges. Plötzlich erscheint vieles möglich: Reisefreiheit, Völkerverständigung, Entspannung. Eine friedliche Revolution.
Budapest im Spätsommer 1989: Tausende DDR-Flüchtlinge warten darauf, über Ungarn in die Bundesrepublik zu entkommen. Die Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze ist das Ende des Eisernen Vorhangs und – das wird bald klar – des Ostblocks. Mauerfall, Wiedervereinigung. Der Warschauer Pakt löst sich auf. Die Sowjetunion zerfällt.
1989: Was geschah hinter den Kulissen? Ein vor Kurzem bekannt gewordenes Dokument wirft Fragen auf. Verfasst hat es der tschechoslowakische Geheimdienst im Herbst 1989.
Adressat ist das Ministerium für Staatssicherheit, die Stasi, in Berlin, Hauptstadt der DDR. Am 6. Oktober 1989 erhält es der „Genosse Minister“, das ist handschriftlich am rechten Rand des Dokumentes vermerkt: Erich Mielke, der Minister für Staatssicherheit in der DDR.
Das Dokument liegt Deutschlandfunk Kultur exklusiv vor.

„Nach bisherigen Erkenntnissen aus diplomatischen und ökonomischen Kreisen der BRD ist offenkundig, dass die ungarische Handlungsweise im Fall der DDR-Flüchtlinge ökonomisch-finanzielle und außenpolitische Gründe hat. (...)

Die erlangten Informationen bestätigen, dass zwischen den Regierungen der BRD und der UVR [der Ungarischen Volksrepublik] eine Vereinbarung über die Zahlung eines Betrages für die DDR-Flüchtlinge in der Höhe getroffen wurde, der an die DDR bisher beim ‚Freikauf politischer Häftlinge‘ gezahlt wurde. Es wird geschätzt, dass Ungarn auf diesem Weg von der BRD 150 bis 200 Millionen Mark erhalten wird.

Um diese Summe werden der UVR [der Ungarischen Volksrepublik] die Zahlungen herabgesetzt, die sie an die BRD im Zusammenhang mit einem Regierungskredit zu leisten hat, der ihr in den vergangenen Jahren gewährt wurde. Gleichzeitig hat die westdeutsche Regierung versprochen, ihren Einfluss in Bankenkreisen der BRD geltend zu machen, damit die Privatbanken der BRD den ungarischen Wünschen entgegenkommen.”

Wurde die Grenzöffnung erkauft?

Der tschechoslowakische Geheimdienst behauptet hier: Die Grenzöffnung wurde erkauft. Mit einer Art Kopfgeld. Für alle DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die Ungarn über die Grenze in den Westen lässt, soll es pro Kopf einen Schuldenerlass gegeben haben, für einen Kredit, den Ungarn vorher bei der Bundesrepublik aufgenommen hatte. So wie die Bundesrepublik der DDR ein Kopfgeld zahlte, wenn politische Häftlinge aus dem Gefängnis in den Westen entlassen wurden. Und die Bundesregierung habe zugesagt, Ungarn bei den Privatbanken zu unterstützen.
Die Frage ist: Stimmt das? Hat die Bundesregierung die Öffnung des Eisernen Vorhangs durch finanzielle Zusagen befördert? Wie kam es, dass Ungarn im Spätsommer 1989 den Grenzzaun öffnete und damit jene Entwicklung in Gang setzte, die für die DDR das Ende bedeutete? Eine Spurensuche zu den Hintergründen der Vorgeschichte des Mauerfalls.
Stasi-Chef Erich Mielke in einem Mitschnitt des MfS, des Ministeriums für Staatssicherheit: „Jetzt komme ich zu den, zu den Häftlingen, ja… Wieso soll der denn bloß hier bei uns sitzen und frisst hier…  Wieso soll der nicht weg … weil ich denk’ ökonomisch für unsere Republik, Mensch!“
Schon Anfang der 60er-Jahre war der DDR klar, dass Devisen für sie ein Problem sein könnten. Um an Devisen zu kommen, erwog die SED mit dem Einverständnis von Mielke, Häftlinge in die Bundesrepublik zu entlassen, wenn sie Geld dafür bekam, Devisen.

Erster Gefangenenfreikauf 1963

„Also der erste Freikauf politischer Gefangener zwischen den beiden Staaten, der fand 1963 statt. Dort wurden acht Personen für den Gegenwert von etwas mehr als 200.000 DM freigekauft“, sagt Jan-Philipp Wölbern.
Er ist Historiker und Referent für Osteuropa bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und hat seine Promotion zum Freikauf von DDR-Häftlingen durch die Bundesrepublik geschrieben.
Der Grundsatz in Bonn lautete: Es sollten nur Menschen, politische Gefangene, freigekauft werden, die aus rechtsstaatlicher Sicht zu Unrecht in Haft waren.
„Davon gab es zu diesem Zeitpunkt Tausende“, sagt Jan-Philipp Wölbern. „Dann gab es Sonderaktionen, wo der Einzelpreis, wenn man die Zahl der Inhaftierten durch die Gesamtsumme teilte, auf bis zu 200.000 Mark pro Person ansteigen konnte.“
Ein Verfahren, das ständig zu Streitereien zwischen Bonn und Ostberlin führte.

Das Problem ist dann in den 70er-Jahren durch eine Pauschalierung gelöst worden. Man hat dann auf Basis der Durchschnittswerte eine Summe ermittelt, sich darauf geeinigt, die bei knapp unter 96.000 DM pro Häftling lag. Dabei ist es dann im Wesentlichen auch bis 1989 geblieben.

Jan-Philipp Wölbern, Historiker

Bis einschließlich 1989 kamen über den Häftlingsverkauf mehr als 31.000 DDR-Bürgerinnen und Bürger in den Westen. Die Gegenleistung: rund 3 Milliarden D-Mark.
Es gab noch ein zweites Land, mit dem die Bundesregierung diesen Deal, Devisen gegen Menschen, praktizierte. Das war Rumänien, um Rumäniendeutschen die Ausreise zu ermöglichen. Soweit bekannt, gab es kein anderes Ostblockland, mit dem die Bundesrepublik solcherart Geschäfte machte – bis 1989.

Budapest 1989 – „Die Angst bestimmte alles“

Zehntausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger machen in diesem Sommer in Ungarn Urlaub und bleiben im Land, auch als ihr Urlaub vorbei ist. Sie wollen nicht zurück in die DDR. Viele stranden auch bei Imre Kozma, dem Gründer des Wohltätigkeitsdienstes des Souveränen Malteserordens in Ungarn in Zugliget, einem Stadtteil von Budapest. Überall stehen Trabants, überall sind Stasiagenten, auch Angehörige der westdeutschen Botschaft.
Die DDR-Flüchtlinge sind misstrauisch, erzählt Kozma: „Die Atmosphäre war sehr frostig. Die Angst bestimmte alles. Es dauerte bestimmt eine Woche, bis diese Flüchtlinge uns akzeptierten. Sie haben nur sehr schwer verstanden, dass wir auf ihrer Seite sind und dass sie keine Angst haben müssen, dass wir sie an die DDR-Behörden ausliefern.“
Eine heikle Situation für die ungarische Regierung. Denn die DDR-Behörden machen Druck, die DDR-Bürger nach Hause zu schicken. So sehen es die Verträge des Warschauer Paktes vor. Der damalige Botschafter Ungarns in der Bundesrepublik Deutschland, István Horváth, betont, welchen Tanz auf der Rasierklinge die Ungarn mit ihrem Premierminister Miklós Németh damals vollführten.
Miklós Németh und Gyula Horn sitzen beim Kongress der Ungarischen Sozialistischen Arbeiter nebeneinander.
Die DDR-Behörden machen Druck: Ungarns Regierungschef Miklós Németh (l) und sein Außenminister Gyula Horn im Jahr 1989.© picture alliance / brandstaetter images / Votava
„Es wird immer vom Abbau der Grenzanlagen gesprochen“, erklärt er. „Aber ein viel wichtigerer Schritt von uns war, dass Anfang 1989 die Polizei und der Staatssicherheitsapparat damit aufhörte, die DDR-Bürger, deren Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen war, einzusammeln und an die DDR-Behörden auszuliefern.“
Die Ungarn dürfen bereits seit 1987 in den Westen reisen. Warum also die Bürger der sozialistischen Bruderstaaten daran hindern?
Imre Pozsgay, mittlerweile verstorbener Reformkommunist, erinnerte an eine Regelung im Warschauer Pakt, die den ganzen Ostblock zum Völkergefängnis machte: „Der Warschauer Pakt verpflichtete die Mitgliedstaaten, gegenseitig die Staatsbürger auszuliefern, wenn sie sich gesetzeswidrig im Land aufhalten.“

Zigtausende Ostdeutsche verlängern ihren Urlaub

Das ist 1989 der Fall, weil Zigtausende Ostdeutsche ihren Urlaub über die erlaubte Zeit hinaus verlängern. Die Regierung des Reformkommunisten Miklós Németh ist also in einer Zwickmühle.
Er lässt schon seit dem Frühjahr die Grenzanlagen abbauen. Im Mai durchschneiden die Außenminister von Österreich und Ungarn, Alois Mock und Gyula Horn, vor der Weltpresse bei der Grenzstation Hegyeshalom den Grenzzaun.
Für den Abbau der Grenzanlagen hatte sich Miklós Németh Anfang März 1989 das Plazet des KPdSU-Chefs Michail Gorbatschow geholt, hat der mittlerweile verstorbene Autor des Buchs „Der erste Riss in der Mauer“, Andreas Oplatka, erzählt.
„Also was den ersten Schritt angeht, den Abbau des Eisernen Vorhangs, den teilten die Ungarn im März – der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh – in Moskau Michail Gorbatschow, dem Generalsekretär der KPDSU mit“, so Oplatka.

Im Endeffekt kann man sagen, dass Gorbatschow nickte und sagte, das könnt ihr tun. Dort hatten die Ungarn den sowjetischen Segen.

Andreas Oplatka, Historiker

Ein Versprechen Gorbatschows

Besuch bei Miklós Németh im Sommer 2022. Im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur erinnert er an die Unterredung mit dem sowjetischen Reformer so:
„Michail Sergejewitsch, wir haben entschieden, dass es in Ungarn ein Mehrparteiensystem geben wird. Selbst wenn ich der Erzengel Gabriel wäre und die Mitglieder meiner Regierung die besten Engel: Nach 40 Jahren Einparteienherrschaft werden sie uns bei freien Wahlen von der Macht entfernen. Was wirst Du – Michail Sergejewitsch – dann mit Deinen in Ungarn stationierten 80- bis 100.000 Soldaten tun? Und was mit Deinen atomaren Mittelstreckenraketen, die auf Italien und Frankreich zielen? Das wird eine Koalitionsregierung sicher nicht einfach runterschlucken. Darauf schlug er auf die Stuhllehne, und sagte: ‚Miklós, solange ich in diesem Stuhl sitze, wird sich 1956 nicht wiederholen.‘“
Im Herbst 1956 hatten sich Aufständische gegen die Sowjets erhoben. Fast 200.000 Ungarn flohen Ende 1956 ins Ausland. In Ungarn nahmen die Sieger Rache: Mehr als 350 Todesurteile wurden gefällt und vollstreckt.
1989 war die Situation eine andere, aber konnte Miklós Németh trotz aller Beteuerungen Gorbatschows ihm gegenüber dem Reformer in Moskau trauen? Die orthodoxeren „Bruderstaaten“ machten Druck, um den Reformkurs zu stoppen.
Der Historiker Andreas Oplatka: „Ceausescu hat während des ganzen Jahres 1989 versucht, eine Front der sozialistischen Länder gegen Ungarn zusammen zu schmieden. Das gelang nicht, weil Gorbatschow nicht mitspielte. Es gab natürlich Opposition gegen Ungarn oder Besorgnis wegen Ungarn in der DDR, in der Tschechoslowakei, in Rumänien und Bulgarien. Das waren die vier – immer noch orthodox geführten – Länder.“
Und weiter: „Es gibt einen Brief von Honecker, Ende April verabschiedet – an die Leitungsorgane der SED. In diesem Brief heißt es: ‚Genossen, Ungarn ist für den Sozialismus praktisch verloren.‘ Anfang Juli, am Warschauer-Pakt-Gipfel in Bukarest, haben Ceausescu und Zivkov (Bulgarien) Reden gehalten, in denen sie gegen Polen und Ungarn ein gemeinsames Vorgehen forderten. Aber auch da spielte Gorbatschow nicht mit.“

Ungarns Premier beginnt zu verhandeln

Miklós Németh beginnt zu verhandeln – er ist 1989 der Premierminister Ungarns. Er hat den Schießbefehl aufgehoben, er lässt den Grenzzaun abbauen, Ungarn führt ein Mehrparteiensystem ein. Kurzum: Es steht schon mit einem Fuß außerhalb des sozialistischen Lagers.
„Im Sommer, Ende Juli, Anfang August, werde ich mit den Folgen meiner Entscheidungen konfrontiert“, erzählt Miklós Németh im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. „Ich mache Urlaub am Plattensee. Alle Campingplätze sind voll. Am Straßenrand sind Zelte. Tausende und Abertausende DDR-Bürger halten sich hier auf.“
Zwischen 60 und 120.000 DDR-Bürger – diese Zahl kursiert – kehren nach Ablauf ihres Urlaubs nicht in die DDR zurück.

Ich musste entscheiden. Was wird? Also habe ich entschieden, dass wir das so lösen, dass wir die Ostdeutschen aus Ungarn lassen.

Miklós Németh, ehemaliger Premierminister Ungarns

Im August 1989 gibt es die Generalprobe für die Grenzöffnung. Ungarische Oppositionsparteien organisieren am 19. August 1989 ein Picknick in der Nähe der Grenze bei Sopron, erzählt einer der Organisatoren, László Magas.
„1989, als man schon anfing, den Eisernen Vorhang abzubauen, wollten wir Soproner eine Art Freudenfest organisieren“, erinnert er sich. „Wir haben dem den Titel gegeben: ‚Bau ab und nimm mit‘. Jeder konnte sich ein Stück Stacheldraht mitnehmen, von uns gab es eine Urkunde dazu. Deshalb haben wir auch Plakate auf Deutsch gemacht – um sie zu den Österreichern zu bringen.“

Ein Völker verbindendes Picknick

Paneuropäisches Picknick nennen die Veranstalter das Völker verbindende Ereignis. 3000 Flyer verteilen sie – in Ungarn und in den grenznahen Gemeinden in Österreich, je zur Hälfte in ungarischer und in deutscher Sprache, erzählt László Nagy, damals Oppositionspolitiker vom Ungarischen Demokratischen Forum und Teil des Organisationsteams.
Das Archivbild zeigt jubelnde DDR-Flüchtlinge, die am 19.08.1989 Österreich erreichen. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten ein paneuropäisches Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze in Sopron, Ungarn, bei dem ein Grenztor geöffnet wurde, zur Flucht in den Westen. Diese erste Massenflucht war der Anfang vom Ende für die DDR mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. dpa (zu dpa Serie 25 Jahre Mauerfall - "Das Paneuropäische Picknick im ungarischen Sopron am 19.08.1989") ++
Hunderte DDR-Bürger nutzen am 19. August 1989 ein Paneuropäisches Picknick an der Grenze in Sopron, Ungarn, bei dem ein Grenztor geöffnet wurde, zur Flucht nach Österreich.© picture alliance / dpa / Votava
„An diesem Tag, dieses Tor war geöffnet, von drei Uhr bis sechs Uhr, also drei Stunden. Weil wir wollten ermöglichen, dass die österreichischen Freunde von Rust, St. Margarethen, den nahestehenden Gemeinden leichter zu unserem Picknick kommen“, erklärt er.
Imre Kozma im 200 Kilometer entfernten Budapest bekommt über seine Kanäle auch Wind vom Paneuropäischen Picknick. Er bereitet „seine“ Flüchtlinge darauf vor.

Wir wussten von dieser Veranstaltung. Etwa zwei Tage vorher erfuhren wir davon und wir bereiteten uns vor. Eine ganze Nacht lang fertigten wir die Landkarten für sie. Wir markierten dort entsprechende Treffpunkte auf den Straßen nach Sopron. Aus unserem Lager kamen so etwa 350 Ostdeutsche nach Sopron.

Imre Kozma

Schirmherren des Picknicks sind der Europaparlamentarier Otto Habsburg-Lothringen mit seiner Paneuropa-Union und der Reformkommunist Imre Pozsgay. Beide kommen nicht. Habsburg schickt seine Tochter Walburga. Die ungarische Regierung niemanden.
Premier Miklós Németh ist sich der symbolischen Bedeutung des Ost-West-Treffens am Grenzzaun bewusst: „Das war für mich wie Manna vom Himmel. Großartig, sagte ich. Das sieht Moskau, das sehen die sogenannten befreundeten Staaten (die Bruderstaaten), Tschechoslowakei, Rumänien.“

„Hier dreht sich das Rad der Geschichte“

Der Testballon steigt. Tausende kommen aus Ost und West zum Picknick nach Sopron. Grenzschützer Árpád Bella schaut am Nachmittag des 19. August 1989 nur noch zu, wie mehr als 700 DDR-Bürger das Tor im Grenzzaun stürmen.
Walter Sobel sagt unter Tränen: „Jetzt sind wir bei Mama und Papa, bei Oma und Opa. Alles wird gut!“ Eine Filmszene aus dem Sommer 1989. Walter Sobel mit seiner Tochter auf dem Arm, beim Grenzübertritt.

Das Gefühl des Grenzübertritts ist unbeschreiblich, das kann man kaum in Worten wiedergeben. Man sieht es auf dem Bild, dass ich meine Tochter voller Emotionen im Arm hatte und sie gedrückt habe und wir es endlich geschafft hatten, im Westen zu sein.

Walter Sobel, Zeitzeuge

Gefilmt hat die Szene der Arzt und Hobbyfilmer György Kárpati aus Sopron. Er filmt von Österreich aus die Massenflucht der Ostdeutschen, hält Weltgeschichte in Bild und Ton fest. „Ich war Augenzeuge dieser Freudentränen, das ist für mich unvergesslich. Da konnte man wissen: Hier dreht sich das Rad der Geschichte.“
Noch jemand ist erleichtert: der ungarische Premierminister Miklós Németh. Im Nachhinein ist das Paneuropäische Picknick bei Sopron am 19. August 1989 wie eine Generalprobe für den Fall der Mauer in Berlin.
Miklós Németh im Rückblick: „Es fand statt und mehr als 600 Ostdeutsche gingen über die Grenze – ohne dass ein Schuss fiel. Ich wurde nicht verhaftet, es gab keine russische Invasion. Gorbatschow hielt sein Wort, das er mir am 3. März 1989 gegeben hatte.“

Die Gründe für Némeths Entscheidung

„Was war die ungarische Motivation?“ Fragt der Historiker Andreas Oplatka und hat diese Antworten:
„Im ersten Schritt technisch: Der Eiserne Vorhang in Ungarn war in schlechtem Zustand. Wirtschaftlich: Eine Erneuerung hätte das Land viel zu viel gekostet, das große ökonomische Schwierigkeiten hatte. Und der dritte Grund: politisch. Die Ungarn konnten zu der Zeit schon frei reisen, auch in den Westen frei reisen, und sie fragten sich: Warum sollen wir die eigene Bevölkerung mit solchen Mitteln bewachen? Wo die doch legal auch ausreisen können. Fremde Staatsangehörige, DDR-Bürger bewachen, das ist nicht unsere Aufgabe. Soll die DDR dafür schauen.“
Die SED-Führung tobt, sie interveniert. Vergeblich. Denn Miklós Németh hat seine Entscheidung längst gefällt. Es ist die ungarische Konsequenz der Einsicht: Im Wettkampf der Systeme hatte der Ostblock verloren. Politisch und ökonomisch.
„Also, wann geht das los mit den westlichen Krediten für die Ostblockländer?“ André Steiner ist Professor an der Universität für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Potsdam. „Das ist dann insbesondere in den 70ern. Also es gibt natürlich schon Vorläufer in den 60ern, aber ab den 70ern steigen diese Kredite stark an, das hat mehrere Ursachen.“
Der Wohlstand im Westen wächst, deshalb muss er auch in den sozialistischen Ländern wachsen. Doch die Wirtschaftsleistung reicht nicht, um die wachsenden Konsumbedürfnisse zu befriedigen. Mit westlichen Krediten soll die Wirtschaft modernisiert und produktiver werden.

Die Überlegung war damals, also in Polen wurde das ganz explizit so formuliert, in der DDR im Übrigen auch: Dass man diese westlichen Kredite nimmt, damit die Wirtschaft modernisiert und mit den entsprechenden Produktivitätsgewinnen dann letztendlich auch die Kredite zurückzahlen kann und sozusagen beide Seiten damit was gewonnen haben.

André Steiner, Historiker

Verschuldung im Westen und ihre Folgen

In der Praxis funktioniert das jedoch nicht. Die Wirtschaftskraft bleibt vergleichsweise niedrig und den sozialistischen Ländern fällt es immer schwerer, die Kredite zurückzuzahlen. Die Verschuldung der Ostblockländer in der kapitalistischen Welt steigt und steigt, nicht aber die Produktivität der eigenen Wirtschaft. Hinzu kommen die Ölpreissteigerungen auf den Weltmärkten. Das ist ein Problem für die Sowjetunion und die Ostblock-Staaten. Denn sie finanzieren sich vor allem durch Exporte von Rohstoffen und deren Folgeprodukte.
Dann heben die USA Anfang der 80er-Jahre auch noch den Leitzins an, zur Bekämpfung der Inflation im eigenen Land, und Kredite werden teurer.
Historiker André Steiner: „Damit stiegen natürlich die Kreditkosten und das vergrößerte wiederum nun sozusagen die Probleme, von denen dann alle Ostblockländer mehr oder weniger erfasst waren, also insbesondere Polen, Ungarn und die DDR.“
Polen ist das erste Land, das in die Zahlungsunfähigkeit abrutscht. 1981. Die Proteste im Land gegen die Regierung werden so massiv, dass die Armee das Kriegsrecht verhängt. Das nächste Land, dem die Zahlungsunfähigkeit droht, ist Ungarn. Zwischen 1985 und 1987 hat sich die Nettoverschuldung Ungarns verdoppelt, die Inflation liegt bei fast 20 Prozent. Ungarn braucht allein 2,5 Milliarden Dollar jährlich für Zins- und Kapitaldienst. Ökonomische Hilfe aus Moskau ist nicht zu erwarten.
Miklós Németh weiß das, er ist Volkswirt. Er kennt die Risiken, die damit einhergehen, sich Geld vom Westen zu leihen.

 Mehr als 96 Prozent der 20 Milliarden Dollar Staatsschulden Ungarns waren Kreditaufnahmen auf dem freien Finanzmarkt, das lief also über die Banken. Wenn ich als Ungarn pleitegehe, muss ich in den Londoner Club gehen. Dort diktieren mir die Wertpapierbesitzer.

Wenn ich aber pleitegehe und ein guter Teil meines Kredits zwischen Staaten abgeschlossen ist, verhandle ich mit dem Pariser Club. Und dort kann ich dann mit den Deutschen, den Holländern, den Franzosen darüber reden: Wieviel erlasst ihr mir?

Miklós Németh, ehemaliger Premierminister Ungarns

Ungarn in der Schuldenfalle

Miklós Németh wird im November 1988 Premierminister Ungarns. Zuvor war er sieben Jahre lang im Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei zuständig für die Wirtschaftspolitik. Er ist gleichsam der Buchhalter der Partei. Sein wichtigster Job ist, in Bonn Geld zu besorgen: 1987 ist es eine Milliarde DM.
„Mein Vorgänger Károly Grósz hat eine Milliarde Deutsche Mark bekommen. Aber den Kredit – 250 Millionen, 250 Millionen und 500 Millionen vom Bund – habe ich 1986/1987 verhandelt – mit Alfred Herrhausen, Lothar Späth und Franz Josef Strauß. Unterschrieben hat das Károly Grósz 1988“, erzählt er.
Und wann kam das Geld? „Sofort, noch 1988. Aber dieses Geld war natürlich zu wenig“, erklärt er. „Bei 20 Milliarden (Schulden) eine Milliarde Deutsche Mark – auch wenn mit günstigen Konditionen – bleibt nur an der Oberfläche. Also: Als wir damit fertig waren, starteten wir die nächste Runde.“
Ungarn ist, nicht als einziges Ostblockland, in eine Schuldenfalle der kapitalistischen Welt geraten.

Geheimes Treffen auf Schloss Gymnich bei Bonn

Am 25. August 1989 trifft Miklós Németh auf Schloss Gymnich bei Bonn Bundeskanzler Helmut Kohl. Das Treffen findet unter höchster Geheimhaltung statt. Mit dabei sind nur die beiden Außenminister Horn und Genscher und eine Übersetzerin, die Németh – aus Angst vor Stasi-Wanzen – selbst mitbringt. Im Nebenraum ist unter anderem Horst Teltschik der Chef des Kanzleramtes, Horst Teltschik.
Horst Teltschik erinnert sich: „Na, das ist mit mir vereinbart worden. Der Termin und so. Aber der sollte nur unser Regierungschef, insofern war kein Mitarbeiter dabei.“
Die Autorin merkt an: “Da wird immer dieser berühmte Satz von Herrn Németh kolportiert: ‚Ich verkaufe keine Menschen‘.“ Horst Teltschik entgegnet: „Das habe ich noch nie gehört. Wer sagt denn das?“
Miklós Németh erinnert sich folgendermaßen: „Er (Kohl) fragte: ‚Was wollen Sie im Gegenzug?‘ Ich sagte: ‚Sie denken, ich will jetzt Kopfgeld für die DDR-Bürger. Herr Bundeskanzler, Ungarn und ich – wir sind keine Menschenhändler. Wir wollen dafür kein Geld.‘ Wurden die Schulden erlassen? Nein!“
Miklós Németh behauptet: Die Informationen im Dokument des tschechoslowakischen Geheimdienstes stimmen nicht. Keinesfalls hätten die Ungarn Menschen verkauft, wie die DDR es getan hat.

Diese Dokumente habe ich in meinem Leben noch nie gesehen. Auch nicht überprüft. Aber erlauben Sie mir ein paar kleine Fragen aufzuwerfen: Es gibt viele Dokumente darüber, wie man uns und die Polen, Gorbatschow eingeschlossen, versucht hat anzuschwärzen.

Miklós Németh, ehemaliger Premierminister Ungarns

Ein berechtigter Einwand: Zum Überlebenskampf der alten Gewalten in den Regimen der orthodox-kommunistischen Ostblockländer gehörten auch Geheimdienstintrigen. Doch die Frage ist damit noch nicht beantwortet: Welche Rolle spielte die Schuldenfalle, die ökonomische Notlage, bei der Grenzöffnung 1989? Wie hat die Bundesregierung damit Politik gemacht?

Teil 2: Im Prinzip waren alle Warschauer-Pakt-Staaten pleite

Fritz Bartel ist Assistant Professor an der Texas University in den USA. Der Historiker beschäftigt sich mit der Verschuldung des Ostblocks und deren Folgen – seit er erfuhr, dass dieser 1989 mit 90 Milliarden US-Dollar bei westlichen Banken und Regierungen verschuldet war. Aufgeschrieben hat er seine Rechercheergebnisse in seinem vor Kurzem erschienen Buch “The Triumph of Broken Promises”.
„Ich habe nicht verstanden, warum Kommunisten Kredite von Kapitalisten aufnehmen und warum Kapitalisten Kredite an Kommunisten vergeben haben. Es schien mir sehr klar eine Frage zu sein, die es wert ist, untersucht zu werden“, sagt er.
Das Dokument des tschechoslowakischen Geheimdienstes, das die Autorin ihm vorlegt, ist dem Professor neu: Anfang Oktober 1989 behauptet der tschechoslowakische Geheimdienst: Ungarn habe seine Grenze gen Westen gegen Geld geöffnet, für einen Schuldenerlass für einen Kredit, den Ungarn 1987 erhalten hatte, mithilfe einer Bürgschaft der Bundesregierung über eine Milliarde Mark.
Fritz Bartel meint, die Details des Dokumentes zu verifizieren, sei sicher interessant, wenn auch schwierig. Aber am Ende sei es egal, wie Ungarn wirtschaftlich geholfen worden sei.

Letzten Endes, denke ich, läuft es aufs Gleiche hinaus: Die ungarische Führung ist an der wirtschaftlichen Gesamtleistung des Landes interessiert, und sie betrachtet die Abschiebung von Menschen in den Westen als eine Möglichkeit, diese wirtschaftlichen Probleme zu lösen.

Fritz Bartel, Historiker

Es war nicht nur der Druck von der Straße

Öffnung gen Westen gegen Geld aus dem Westen. Mit dieser Praxis sei Ungarn nicht allein gewesen im Ostblock. Der Druck war immens. Bartel spricht von einem “Zwang zur Kreditwürdigkeit” in den 1980er-Jahren im Fall von Ungarn, aber auch bei der DDR oder Polen und der Sowjetunion. Diese Zwangslage sei ein“ Schlüsselfaktor für die Revolutionen von 1989“.
Auch wenn der Druck von der Straße, der Mut der Demonstranten bewundernswert und wichtig gewesen sei: Allein ausschlaggebend sei er nicht für den Systemwechsel gewesen, glaubt Bartel.
„Man sieht vor allem in ostdeutschen Dokumenten, dass sie sich bewusst sind, dass sie die Westdeutschen bei Laune halten müssen, um andere Länder bei Laune zu halten“, erklärt er. „Hopp oder topp: Die Westdeutschen entscheiden über deinen Ruf in der Welt.“
Die Kreditwürdigkeit der Ostblockstaaten ist ein entscheidender Faktor 1989. Auch andere Länder wie Japan vergeben Kredite. Aber sie lassen sich wesentlich durch die Einschätzung der Westdeutschen leiten.
Es gilt also: “Wenn die Westdeutschen Sie nicht mögen oder denken, dass Sie in finanziellen Schwierigkeiten sind oder nicht mögen, dass Sie Ihr eigenes Volk unterdrückt haben oder Ähnliches: Dann hat das nicht nur Auswirkungen auf westdeutsche Banken, die Ihnen Kredite geben, oder auf die westdeutsche Regierung, die Ihnen Kredite gibt, sondern auf die Meinung aller kapitalistischen Banken in westlichen Ländern“, erklärt er.
Beim Fall des Eisernen Vorhangs und der Mauer, sagt der Historiker von der Universität Texas, handele sich weniger um eine “friedliche Revolution von unten”, sondern mehr noch um eine “von Eliten verhandelte Revolution“.

„Diese Straße wurde 1947 geschlossen“

Unterwegs mit László Magas in der Nähe von Sopron. „Wir fahren jetzt dorthin, wo die Ostdeutschen am 19. August 1989 den Grenzzaun durchbrachen. Von Sopron-Köhida führt eine drei Kilometer lange Straße dorthin.“
Der Politiker war 1989 ein Oppositioneller, heute sitzt er für die Regierungspartei Fidesz im Stadtrat der Barockstadt an der österreichischen Grenze. Er zeigt auf die Straße.
„Diese Straße wurde 1947 geschlossen, als der Eiserne Vorhang gebaut wurde. Bis 1989 konnte man diese Straße nicht benutzen“, erklärt er.

Der Eiserne Vorhang zog sich nicht entlang der Landesgrenze, sondern verlief ungefähr drei Kilometer weiter im Landesinneren. „Wenn jemand an den Zaun kam, wurde das sofort gemeldet. Die Grenzwächter konnten auf diesen drei Kilometern dann die sogenannten Grenzverletzer fassen. Das war also der sogenannte Eiserne Vorhang.

Im August 1989 hat hier, in Sopron, das paneuropäische Picknick stattgefunden, eine Art Testballon für die Grenzöffnung. Die Bilder, wie zwischen 600 und 700 DDR-Bürgerinnen und Bürger nach Österreich fliehen, gehen um die Welt. Und sie verfehlen ihre Wirkung nicht.
Andreas Skladny wollte schon immer weg aus der DDR. Seine Frau Sabine bald auch. „Eigentlich waren wir so da angekommen, dass man so sagt: Wir sind jetzt Ende 20 und bis zur Rente wird sich in diesem Land nichts ändern. Wo du sagst, du lebst nur einmal und das soll es jetzt gewesen sein. Also so waren meine Gedanken, dass man sagt: Nee, ich will hier weg, will noch was von der Welt sehen.“
"In der DDR das Verhör, in Ungarn durch Mais und Rüben, und das alles weil wir Kohl und die Freiheit lieben!!" steht auf einem Zettel geschrieben am Fenster eines Trabanten. Das "DR" auf dem "DDR" Schild ist durchgestrichen. Das Auto ist vollgepackt. Grenzöffnung an der ungarisch-österreichischen Grenze am 19. August 1989.
"In der DDR das Verhör, in Ungarn durch Mais und Rüben. Und das alles weil wir Kohl und die Freiheit lieben!!" – Zettel in der Heckscheibe eines vollgepackten Trabants.© Getty Images / Corbis / Sygma / Patrick Robert
Anfang September, die Sommerferien sind gerade vorbei, packen sie ihren 9-jährigen Sohn Robin ins Auto. „Ich habe das gespürt, dass es kein, dass es kein normaler Urlaub ist“, erinnert er sich. „Es war schön mit Wetter wie Urlaub, nur mit dem einen Ziel, wenn Urlaub vorbei: Wir fahren in die eine Richtung und nicht wieder zurück“, ergänzt Andreas Skladny.
Die Grenze gen Westen geht um Mitternacht auf, ohne Schüsse, ohne Gewalt: Der Eiserne Vorhang ist offen, in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989.

Kohls Vertrauter erinnert sich

München 2022. Termin mit Horst Teltschik. 1989 war er der außenpolitische Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, dessen Redenschreiber und Vertrauter, einer der Strategen der Regierung.
„Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, war natürlich schon unsere Überlegung: Wie entwickeln wir die Beziehungen zu den Warschauer-Pakt-Staaten, also neben der Sowjetunion. Die Sowjetunion aber hatte Priorität, klar. Aber es war klar: Wir müssen auch die Bündnispartner der Sowjetunion ins Auge nehmen und versuchen, Beziehungen zu entwickeln“, sagt er.
Dabei spielt Geld eine immer größere Rolle. „Denn im Prinzip waren alle Warschauer Pakt Staaten, einschließlich der Sowjetunion, waren sie im Prinzip alle pleite. Sie brauchten alle Kredite.“ Und Horst Teltschik war der, der die Kredite verhandelte. Zum Beispiel in Ungarn. „Kádár sprach mit mir hauptsächlich über seinen Wunsch, Kredite zu bekommen.“
János Kádár war bis 1988 Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und über Jahrzehnte der mächtigste Mann in Ungarn.

Ich sagte ihm, der Bundeskanzler sei dafür durchaus offen, aber es setze voraus, dass er die Reformpolitik fortsetze. Da sagte er mir: ‚Wir haben die Probleme, weil wir Reformen eingeführt haben.‘ Und sie könnten jetzt nicht weitere Reformen vorantreiben, weil sie solche ökonomischen Probleme hätten. Ja, sagte ich, dann ist es schwieriger, Kredite zu bekommen.

Horst Teltschik, Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl

Kádár will nicht reformieren. Also gibt es auch kein Geld von der Bundesrepublik. Erst mal. Bei seinem Besuch bekommt Horst Teltschik die Gelegenheit, zwei Sekretäre des Zentralkomitees der ungarischen Partei kennenzulernen und unter vier Augen sprechen zu dürfen.

„Wir müssen Kádár loswerden“

„Das war Miklós Németh, später Ministerpräsident, Sekretär für Wirtschaft, der mir im Prinzip nur eine Botschaft mitgab: Wir müssen Kádár loswerden… Aber wenn sie das täten, bräuchten sie Kredit. Gut, das habe ich zur Kenntnis genommen“, erzählt Horst Teltschik. „Dann habe ich den Sekretär für internationale Beziehungen kennengelernt, Herrn Horn und der erzählte mir im Prinzip die gleiche Botschaft.“
Tatsächlich dankt Kádár am 27. Mai 1988 ab, der neue Chef der Kommunistischen Partei wird Károly Grósz.
„Zum ersten Besuch von Ministerpräsident Grósz waren zwei Deutsche nämlich im Auftrag des Kanzlers zusammen mit Herrn Herrhausen, Chef der Deutschen Bank. Unser Auftrag war, mit Herrn Grósz wie verabredet jetzt einen Kredit von einer Milliarde zu verhandeln. Das haben wir auch getan und es war auch erfolgreich“ erzählt Horst Teltschik.
Ungarn bekommt eine Milliarde DM 1987 von einem Bankenkonsortium, angeführt von der Deutschen Bank aus Luxemburg. Die Bürgschaft gibt die Bundesregierung.
Aber mit Grósz geht es auch nicht so richtig weiter, sagt Horst Teltschik.
„Dann wurde mir die Nachricht gegeben von Horn und Németh: Wir müssen selber übernehmen. Und so kam es ja auch. Németh wurde Ministerpräsident und Horn Außenminister“, erzählt er. „Da gab es dann auch Kredit, und ich habe da viele Gespräche mit ihnen geführt. In der Phase der beiden wurde die Grenze geöffnet durch diese berühmte Szene, wo die den Stacheldraht durchschnitten und dann dieses berühmte Frühstück, wo die Grenze geöffnet wurde für die DDR-Flüchtlinge.“
Bundeskanzler Helmut Kohl steigt mit Berater Horst Teltschik aus einem Auto anlässlich eines Besuches bei Bundespräsident Walter Scheel im Palais Schaumburg in Bonn, 1976.
"Sie brauchten alle Kredite": Horst Teltschik (l.) war seit den 1970er-Jahren Berater von Helmut Kohl (M.).© imago / Sven Simon
Kurz danach folgt das Geheimtreffen auf Schloss Gymnich bei Bonn, am 25. August 1989, zwischen der ungarischen und der westdeutschen Regierung: Die Regierung Kohl gewährt den Ungarn noch einmal einen 500 Millionen DM-Kredit.

Der Zeitpunkt war für Ungarn günstig

Ein formales Junktim, also eine Verbindung zwischen Grenzöffnung und Kredit, habe es hier nicht gegeben, betont Teltschik. Es sei für Ungarn einfach ein guter Zeitpunkt gewesen, um Hilfe zu bitten, nachdem sie der Bundesregierung beim paneuropäischen Picknick ihre Entschlossenheit zur Öffnung des Landes zum Westen demonstriert hatten.
Auch Miklós Németh streitet einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Geld und der Grenzöffnung ab. Die Unterzeichnung des Kreditabkommens ließ er jedoch verschieben. Damit ein zu dichter zeitlicher Zusammenhang mit der Grenzöffnung am 11. September 1989 keinen Verdacht erregen sollte?
Miklós Németh hat Helmut Kohl zumindest ausdrücklich um die Terminverschiebung gebeten.

Rufen Sie die Banken an und die Ministerpräsidenten der Länder, dass wir diesen Kreditvertrag im Zusammenhang mit der Grenzöffnung nicht unterzeichnen. Denn die Welt wird diesen Milliardenkredit damit verknüpfen, dass ich die Erlaubnis zur Grenzöffnung gegeben habe. Auf den 1. September war die Unterzeichnung terminiert – lassen Sie uns nicht unterschreiben. Verschieben wir das, bis sich das beruhigt hat. Das war meine dritte Bitte an Kohl.

Miklós Németh, ehemaliger Premierminister Ungarns

Bitte Nummer eins an Kohl war eine wohlwollende Behandlung durch die EU. Bitte Nummer 2: „Ich werde bald die wahre Auslandsschuld Ungarns bekannt machen. Das wird eine Riesenunruhe in der internationalen Finanzwelt auslösen. Bitte überzeugen Sie Thatcher, Mitterand und Präsident Bush, dass wir nicht bestraft werden.“
1984 sind es 9,4 Milliarden US-Dollar. Dann, im November 1989, verkündet Németh: Die Auslandsverschuldung liegt bei knapp 20 Milliarden US-Dollar. Ungarn braucht Ende der 1980er-Jahre Kredit, sagt Miklós Németh. „250, 250, 500 Millionen – so wie ein Erstickender die Luft zum Atmen braucht.“

Verschuldung bis zur Kreditunwürdigkeit

Für die Banken im Westen ist es eine interessante Situation. Kredite, wie sie die ungarische Außenhandelsbank aufnimmt, haben eine Laufzeit von einem halben Jahr. Die Staaten wenden sich dafür zumeist an den sogenannten “Euro-Geldmarkt” in Luxemburg. Dort haben alle großen deutschen Banken Vertretungen. In Luxemburg sind die Kreditbedingungen in den 1980er-Jahren besonders gut. Allerdings nicht mehr für Ungarn.
Das Land ist Ende der 80er-Jahre nicht mehr kreditwürdig. Sein Limit ist bei den Banken ausgeschöpft, sagt Christopher Kopper. Er ist Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Eines seiner Forschungsschwerpunkte: Staatsschuldenkrisen.
„So gesehen kam dann natürlich ein von der Bundesregierung verbürgter zinsgünstiger Kredit der deutschen Banken an den ungarischen Staat im September 89 gerade recht“, erklärt er.
Und den Banken auch. Denn durch die Bürgschaft der Bundesregierung können die Banken nicht verlieren, nur gewinnen: Zahlt der Schuldner, in dem Fall Ungarn, den Kredit zurück, streichen die Banken die Zinsen ein. Gibt es einen Ausfall, springt der Staat, also die Steuerzahler, ein und begleicht den Ausfall.

Geld und politische Zugeständnisse

Christopher Kopper sieht – anders als die Beteiligten selbst: Teltschik und Németh – wie sein Kollege Fritz Bartel durchaus einen Zusammenhang zwischen dem Kredit und dem im wahrsten Sinne des Wortes einschneidenden Ereignis im September 1989.
Die ersten DDR Flüchtlinge am Grenzübergang Suben zwischen Deutschland und Österreich halten ihre Reisepässe in die Kamera, 11. September 1989.
September 1989: Flüchtlinge aus der DDR zeigen am Grenzübergang Suben zwischen Deutschland und Österreich ihre Pässe.© imago / Jochen Tack
Nämlich: „Dass die ungarische Regierung am 10. September 1989 die Grenzen nach Österreich für DDR-Flüchtlinge aufgemacht hatte, um damit einen Kredit von einer halben Milliarde Mark von bundesdeutschen Banken zu bekommen, für den die Bundesregierung haftete“, sagt er.
Verbindungen zwischen politischen Zugeständnissen und Geld habe es immer wieder gegeben, auch wenn sie selten formell festgehalten wurden, wie beim DDR-Häftlingshandel mit der DDR, sagt Christopher Kopper. Er hat solche Deals selbst miterlebt. Denn der Historiker ist nicht nur Professor, sondern auch Sohn von Hilmar Kopper, dem ehemaligem Vorstand der Deutschen Bank.
„Ja, ich war bei der Unterzeichnung des zweiten Milliardenkredits selber dabei. Mein Vater hat ja dann noch ein kleines Essen gegeben für seinen ostdeutschen Kollegen Dr. Werner Polze“, erzählt er.
Die Unterzeichnung des Vertrags über den von CSU-Chef Franz Josef Strauß eingefädelten Milliardenkredit fand im Privathaus der Koppers in Kronberg bei Frankfurt am Main statt. Sie sollte vorerst geheim bleiben. Denn die Zustimmung des Bundeskabinetts stand noch aus.

Ich weiß noch, dass dann Herr Dr. Polze meinen Vater bat, kurz noch in Ostberlin anrufen zu dürfen, und wir haben ihm dann gezeigt: Also oben im Fernsehzimmer ist ein Telefon, da können Sie dann frei auswählen. Ich war natürlich nicht beim Telefongespräch dabei, aber ich habe dann durch die nicht ganz geschlossene Tür gehört, dass er seinen Gesprächspartner mit Alexander angeredet hat.

Ich vermute daher, dass es Alexander Schalck-Golodkowski war, der dann die Nachricht bekam: Gleich wird der Vertrag unterzeichnet.

Christopher Kopper, Historiker

Der inzwischen verstorbene Alexander Schalck-Golodkowski war der Devisenhändler der DDR und noch einiges mehr, vor allem aber der Chef der Abteilung für Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenhandel der DDR. Gemeinsam mit den SED-Kadern Gerhard Schürer und Günter Mittag war er einer der wenigen Personen in der DDR, die außer Erich Honecker die katastrophalen Zahlen der DDR-Wirtschaft kannten.

Die DDR vor dem Bankrott

Honecker ignoriert die Zahlen weitgehend, Sparen ist für ihn keine Option. Die DDR steht vor dem Bankrott.
In der Not wendet sich Alexander Schalck-Golodkowski im Frühjahr 1983 an den Erzfeind: an den CSU-Chef Franz Josef Strauß, den bayrischen Ministerpräsidenten. Der erzählt jedem, der er es hören will, dass er Kommunisten hasse. Aber er trifft sich mit Schalck.
Fritz Bartel von der Texas University hat sich die Verhandlungen genau angeschaut: „Schalck sagt ihm sehr schnell, dass die DDR an keiner Art von Konditionalität für diese Kredite interessiert ist. Strauß ist dafür durchaus offen, denn es geht ihm, wie er später sagt, darum, ‚die DDR so süchtig nach der DM zu machen, wie ein Drogensüchtiger nach Heroin‘.“
Im Mai 1989 nimmt die Verschuldung der DDR monatlich um rund 500 Millionen DM zu auf 49 Milliarden. 1991 würde die DDR zahlungsfähig sein. Um den Bankrott abzuwenden, müsste sie massiv sparen, der Lebensstandard der Bevölkerung müsste um 30 Prozent gesenkt werden. Doch niemand in der Regierung will dafür verantwortlich sein. Also bleibt nur eins: Die DDR braucht neue Kredite.
Anfang November 1989 reist Alexander Schalck-Golodkowski nach Bonn. Er will zehn Milliarden DM von der Bundesregierung haben. Doch die Bundesregierung weigert sich. Denn die DDR will keine Garantien für Reformen abgeben. Nur mündliche, vage Absprachen. Das ist Kohl diesmal zu wenig.

Das war zu einer Zeit, als es in der DDR massive Proteste für Reformen gibt. Und so kommen die Westdeutschen zu dem Schluss: Wenn wir den Ostdeutschen Geld geben wollen, muss das die Aufhebung der verfassungsmäßigen Aufhebung der Vorherrschaft der Kommunistischen Partei in der DDR und den Übergang zu freien und fairen Wahlen beinhalten.

Fritz Bartel, Historiker

Deutliche Worte von Kanzler Kohl

Am 26. Oktober 1989 telefoniert Kanzler Kohl das erste Mal direkt mit Egon Krenz, dem Nachfolger von Erich Honecker, und findet deutliche Worte: Geld gebe es nur, wenn Krenz freie Wahlen zulasse und aufhöre, die Ostdeutschen einzusperren und wenn er anfange, die Wirtschaft der DDR zu liberalisieren.
Krenz spricht von Erpressung und ordnet doch an, ein weitreichendes Reisefreiheitsgesetz zu erarbeiten. Das soll am 10. November 1989 in Kraft treten. Durch die verunglückte Pressekonferenz von Günter Schabowski drängen die Berliner schon am Vorabend zur Mauer – mit den weltbekannten Konsequenzen.
Der Mauerfall geschieht in einem Augenblick, als die SED bereits unter ökonomischen Druck der Bundesrepublik bereit ist, ihre Tore zu öffnen und damit die Existenzgrundlage ihres Staates aufs Spiel zu setzen.
Jahre später, bei einer Untersuchung der Bundesbank, kommt heraus, dass die Verschuldung der DDR nicht so hoch war, wie die DDR-Führung dachte. Sie hatte offenbar den Überblick verloren.

Wie pleite war die DDR?

„Ob die DDR in dem Sinne 100 Prozent pleite ist?“ Klaus Reichenbach (CDU) hat sich 1990 beim Antritt der ersten frei gewählten Regierung in der DDR die Zahlen angeschaut. „Über Zahlen gerechnet wahrscheinlich nicht. Aber man muss die DDR insgesamt sehen.“
Er erklärt: „Ich sage jetzt mal, es war einfach so: Wenn Sie jetzt versuchen, ein Problem zu lösen wirtschaftlicher Art in der DDR und ich bezeichne das mal als ein Loch, dann haben Sie in den 70er-Jahren zwei andere Probleme damit aufgegriffen, weil Sie dann irgendwelche Reserven und entsprechenden Ressourcen nutzen konnten, um dieses Loch zu löschen. Da kamen aber zwei Neue dazu. In den 80er-Jahren war das dann ungefähr ein Verhältnis: ein Loch zuzumachen, fünf neue aufreißen.“
Bis in die 70er-Jahre sei die DDR noch einigermaßen wettbewerbsfähig gewesen. Aber dann verpasste sie die Modernisierung der Technik, der Industrieanlagen, die sie sich nicht leisten konnte. Hinzu kam die wenig effektive Planwirtschaft. Das alles potenzierte sich über die Jahre.
Ganz anders ist 1989 die Situation für die damalige Tschechoslowakei. Sie lässt im Herbst die DDR-Flüchtlinge in der Botschaft der BRD in Prag zwar ausreisen. Aber generell steht das Land sehr viel weniger unter dem Druck des Westens als seine Nachbarn.

Sonderfall Tschechoslowakei

Professor Oldřich Tůma ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik.
„Die Tschechoslowakei versuchte, ihre, sagen wir mal, Pflichten als Verbündeter Ostdeutschlands zu erfüllen, und versuchte in der Tat die tschechoslowakisch-ungarische Grenze für ostdeutsche Bürger ohne ordnungsgemäße Papiere zu schließen“, sagt er.
Die Tschechoslowakei war wirtschaftlich anders aufgestellt als Polen oder Ungarn - oder auch die DDR.

Die Tschechoslowakei hatte einige Kredite, die aber nicht so hoch waren wie die von Polen und Ungarn. Die Auslandsverschuldung der Tschechoslowakei betrug zehn Prozent der Auslandsverschuldung Ungarns oder so ähnlich. In der Tat war die finanzielle Gesamtbilanz positiv.

Oldřich Tůma, Historiker

Auf die Tschechoslowakei konnte die Bundesregierung nicht durch finanzielle Abhängigkeit Druck ausüben wie auf Ungarn, Polen und die DDR. Trotzdem stürzte Ende 1989 auch in Prag das Regime.
Grund war, da sind sich alle Beobachter einig, vor allem die Schwäche der Sowjetunion. 1989 lag sie wirtschaftlich am Boden, sie konnte und wollte ihren Vormachtanspruch nicht mehr durchsetzen. Mit Perestroika und Glasnost hatte Michael Gorbatschow in Moskau den Reformprozess eingeleitet, mit dem auch die Sowjetunion von ihrer alten Ideologie abrückte.

Gorbatschow unter wirtschaftlichem Druck

Daher war die Samtene Revolution in Prag vor allem ein Ergebnis des politischen Aufbegehrens, nicht das Ergebnis eines wirtschaftlichen Kollaps. Gorbatschow hingegen stand unter enormem wirtschaftlichen Druck.
„Helmut Kohl hat ihm ein Versprechen gegeben. Er hat Gorbatschow gesagt: Wenn wir ihm bei seiner Reformpolitik Glasnost und Perestroika helfen können, ja, werden wir das tun. Und das hat Gorbatschow nicht vergessen“, sagt Horst Teltschik.
1988 garantierte die Bundesregierung der Sowjetunion einen Kredit von drei Milliarden DM. Ein Bankenkonsortium vergab ihn, angeführt von der Deutschen Bank. Im Winter 1989/90 bat die sowjetische Regierung die Bundesregierung erneut um Hilfe bei der Versorgungskrise des Landes. Kohl ließ rund zwei Milliarden DM an Versorgungsgütern, Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs nach Russland schicken.
„Nach diesen Entscheidungen über die Besorgung von Verbrauchsgütern kam die Anfrage nach einem Kredit, und die Größenordnung waren fünf Milliarden“, sagt Horst Teltschik.

Enormer Kreditbedarf der Sowjetunion

Im Frühjahr 1989 reiste Teltschik nach Moskau, mit dem Chef der Deutschen Bank und dem der Dresdner Bank. Unter höchster Geheimhaltung, um Gorbatschow zu treffen. „Wenn wir den Kredit von fünf Milliarden, den wir drei in Moskau verhandelt haben, wenn der nicht zustande gekommen wäre, wäre die Sowjetunion im Sommer 1990 zahlungsunfähig gewesen“, erzählt er.
Eigentlich wollte Gorbatschow 20 Milliarden, sagt Historiker Fritz Bartel: „Gorbatschow stimmt schließlich dem Abzug der sowjetischen Truppen aus dem vereinigten Deutschland und dem Beitritt des vereinigten Deutschlands zur NATO grundsätzlich zu. Dann fragt er: ‚Okay, wie hoch wird der endgültige Preis sein?‘“
Kohl schlägt vor, dass die Experten das verhandeln, das müssten nicht sie tun, die Staatschefs. Der Bundeskanzler rechnet offenbar nicht damit, dass es hier Probleme geben könnte.

Dann, im August 1990, wird es ein großes Problem. Sie telefonieren wieder miteinander. Gorbatschow droht den gesamten Wiedervereinigungsprozess in die Luft zu jagen, wenn er nicht 20 Milliarden bekommt.

Fritz Bartel, Historiker

Kohl bietet acht, sagt Bartel. Gorbatschow ist das zu wenig. Am 10. Oktober 1990 dann, eine Woche nach der deutschen Wiedervereinigung: „Er (Kohl) ruft zurück und sagt: ‚Okay, wie wäre es mit zwölf Milliarden.‘ Also einfach ein Geschenk“, sagt Fritz Bartel. „Technisch gesehen war es eine Zahlung für die Wiederansiedlung sowjetischer Truppen in der Sowjetunion, aber jeder weiß, dass das Geld nicht dafür verwendet wird.“
Dann habe Kohl gesagt, um das Geschäft zu versüßen: Er gebe noch einen zinslosen Kredit dazu, in Höhe von drei Milliarden D-Mark.

Welchen Einfluss hatten die Kredite?

Ob die Wiedervereinigung ohne die massiven Finanzprobleme der Sowjetunion erreichbar gewesen wäre, mitsamt Abzug der Besatzungstruppen und Beitritt des wiedervereinigten Deutschlands zur NATO?
Ob Ungarn ohne seine massive Verschuldung, die der Bundesregierung Verhandlungsmöglichkeiten eröffnete, im Sommer 1989 den Eisernen Vorhang geöffnet hätte? Grenzöffnung gegen Finanzhilfen?
„Also vorstellen kann ich es mir schon“, sagt Sabine Skladny, die 1989 über Ungarn in den Westen geflohen ist. Ihr Mann Andreas sieht es ähnlich. „Ja, was hinter den Kulissen gelaufen ist: Man weiß es nicht.“
Grenzöffnung gegen Geld – ob Schuldenerlass oder Kredit, das ist ihnen jedoch am Ende egal. Auch ihrem Sohn Robin Skladny. „Weil es für eine positive Sache gewesen ist. Man hat was bezahlt, nicht für was Schlechtes, man hat was bezahlt für Leute, die danach in Freiheit gekommen sind“, sagt er.
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