Michail Gorbatschow

Welthistorische Größe und Tragik

08:20 Minuten
Michael Gorbatschow 2014 am Checkpoint Charlie
Vorreiter des „neuen Denkens“, das die Weltpolitik veränderte: Michael Gorbatschow. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Von Winfried Sträter · 31.08.2022
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Mit Glasnost und Perestroika durchbrach Michail Gorbatschow herkömmliche politische Muster imperialer Mächte. Eine herausragende weltpolitische Leistung – und doch nur ein kurzer Lichtblick zwischen den globalen Machtkämpfen des 20. und 21. Jahrhunderts.
Michail Gorbatschow ist tot: ein Politiker, der etwas geleistet hat, was Staatschefs eines Imperiums eigentlich nie wollen und wozu sie nicht in der Lage sind. Gorbatschows Sowjetunion war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Weltmacht – eine imperiale Macht, die halb Europa beherrschte und global der große Gegenspieler der USA war.
Mitte der 80er-Jahre zeigte sich: Das politische und wirtschaftliche System war marode, die Sowjetunion war nur noch mit ihren Atomwaffen stark, ansonsten eine Supermacht im Niedergang. In einer solchen Situation reagieren Imperien in der Regel aggressiv. Man denke nur an das untergehende Osmanische Reich zu Anfang des 20. Jahrhunderts und den Völkermord an den Armeniern.

Aus Schwäche wurde Stärke

Die Angst in den 1980er-Jahren, dass aus dem Kalten Krieg ein heißer werden könnte, hatte viel mit dem wachsenden Ungleichgewicht zwischen den USA und der Sowjetunion zu tun. Was passiert, wenn die Sowjetunion realisiert, wie sehr sie gegenüber den USA ins Hintertreffen geraten ist? Dass Gorbatschow ab 1985 als neuer Generalsekretär der KPDSU die gefährliche Logik der Politik eines untergehenden Imperiums durchbrach: das ist seine welthistorische Leistung.
Gorbatschow brachte den Gegner, die USA, in Zugzwang, als er die Abrüstungsrhetorik des Westens beim Wort nahm und die Reagan-Administration der USA, die ganz auf Rüstung und immer mehr Aufrüstung setzte, in Zugzwang brachte. Plötzlich musste sich die Sowjetunion nicht mehr behaupten, sondern war Vorreiterin des „neuen Denkens“, das die Weltpolitik veränderte. Aus Schwäche wurde Stärke.

Eine Atempause zwischen globalen Machtkämpfen

Diese Leistung, herkömmliche politische Muster zu durchbrechen, war Gorbatschows herausragende weltpolitische Leistung, für die er zu Recht den Friedensnobelpreis bekam. Man stelle sich vor, auch die USA hätten diesen politischen Paradigmenwechsel begriffen und wären in den 90er-Jahren nicht mit dem Allmachtsgefühl der einzig verbliebenen Weltmacht aufgetreten. Die Welt hätte sich womöglich wirklich verändert – und nicht nur eine Atempause zwischen globalen Machtkämpfen des 20. Und 21. Jahrhunderts gehabt.
"Danke, Gorbi" stand 1990 auf der Mauer unter dem sowjetischen Panzer-Denkmal in Berlin.
"Danke, Gorbi" stand 1990 auf der Mauer unter dem sowjetischen Panzer-Denkmal in Berlin.© picture-alliance / dpa / Andreas Altwein
Die Kehrseite der Lebensbilanz von Michail Gorbatschow hat etwas mit der historischen Last zu tun, die sein Land, Russland, nicht loswird. Glasnost und Perestroika: welch ein Aufbruch nach 1985! 1917 waren die Menschewiki in der Februarrevolution gescheitert, als sie Russland neu aufstellen wollten. Lenins Oktoberrevolution würgte diesen Versuch der Demokratisierung Russlands ab, verkündete zwar eine revolutionäre Erneuerung des Landes, aber Lenin etablierte dann doch wieder ein Regime menschenverachtender Unterdrückung. Gorbatschows Vision war, seinem Land den Weg zu ebnen, daraus auszubrechen.

Ein wahrhaft revolutionäres Konzept

Gorbatschow setzte darauf, dass in Wirtschaft und Gesellschaft die Freiheit ungeahnte Kräfte entfesseln, dass die neue Offenheit eine Dynamik demokratischer und wirtschaftlicher Entwicklung in Gang setzen würde. Glasnost und Perestroika: Das war ein wahrhaft revolutionäres Konzept für ein Land, in dem Leibeigenschaft, Zarismus und Bolschewismus die Gesellschaft auf eine Weise gefangen gehalten hatten wie nirgendwo sonst in Europa.
Innerhalb des kommunistischen Machtapparats hat Gorbatschow nach 1985 mit hohem Geschick alle Widerstände überwunden, um sein Konzept durchzusetzen. Und doch hatte er wohl keine Chance, den gesellschaftlichen Wandel in seinem Land herbeizuführen.
Die Kräfte, die er freisetzte, waren Fliehkräfte derer, die zum sowjetischen Machtbereich, aber nicht zu Russland gehörten. Republiken wie die baltischen Staaten befreiten sich in die staatliche Selbstständigkeit.

Die Kraft der Erneuerung war zu schwach

Die russische Gesellschaft sollte Anteile am volkswirtschaftlichen Vermögen erhalten, um selbstständig wirtschaftlich handeln und Wohlstand erzeugen zu können. Eine atemberaubende Idee. Doch die Gesellschaft, bar jeder Freiheitserfahrung, war überfordert. Die alte Machtelite fand sofort Mittel und Wege, sich das Volksvermögen anzueignen und riesige Privatvermögen zu bilden. Und der Staat regierte nach Gorbatschows erzwungenen Rücktritt 1991 so, wie seit Jahrhunderten in Russland: ohne das Ethos, für die Entwicklung des Landes verantwortlich zu sein. Die Kräfte der Erneuerung, auf die Gorbatschow gesetzt hatte, waren zu schwach – und so hatte binnen weniger Jahre mit Putin der Geheimdienst Russland wieder in den Griff bekommen und führt das Land zurück in die Untertänigkeit wie zu Zeiten der Zaren und der Bolschewisten. Imperiale Kriege inbegriffen.
Herrschaft ohne Gestaltungsanspruch, Herrschaft um ihrer selbst willen: Das ist die dunkle Seite der russischen Geschichte. Dass Gorbatschow nur ein kurzer Lichtblick in dieser Finsternis war, gehört zu den traurigsten Kapiteln der modernen Geschichte Europas.

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