Greenpeace-Experte zu Tschernobyl

Warum der alte Sarkophag gefährlich bleibt

Der neue Sarkophag, der den Reaktor von Tschernobyl verhüllen soll.
Der neue Sarkophag für die Kernkraft-Ruine in Tschernobyl © imago stock&people
Tobias Münchmeyer im Gespräch mit Nana Brink · 29.11.2016
Löst die neue Schutzhülle über den verstrahlten Überresten des Atomkraftwerks Tschernobyl alle Probleme? Nein, meint Tobias Münchmeyer von Greenpeace: Wenn die alte Hülle darunter auseinanderbreche, drohe neue Strahlengefahr. Die Ruine müsse schnellstmöglich komplett beseitigt werden.
Gut zwei Wochen lang war das größte bewegliche Bauwerk der Welt auf Schienen unterwegs: Eine gigantische Hülle aus Stahl für den Sarkophag von Tschernobyl, die so groß ist wie der Frankfurter Hauptbahnhof. Knapp zwei Milliarden Euro hat sie gekostet, 40 Länder tragen die Kosten, Deutschland steuerte 200 Millionen Euro bei.
Die Hülle wird über die alte Schutzhülle gestülpt und soll ein Jahrhundert lang den Austritt von Radioaktivität aus der Kernkraftwerk-Ruine verhindern. Ist die Gefahr, die von dem 1986 havarierten Atomkraftwerk in der Ukraine ausgeht, damit gebannt?

Gefahr ist nicht gebannt

Nein, meint Tobias Münchmeyer, stellvertretender Leiter der Politischen Vertretung von Greenpeace. Es handele sich nur um eine Zwischenlösung für 100 Jahre.
"Aber innerhalb dieser 100 Jahre oder innerhalb der nächsten Jahre eigentlich sogar muss hier sehr viel passieren. (…) Der Atommüll, der unter der alten, maroden Hülle ist, der muss geborgen werden und der muss zwischengelagert werden und der muss irgendwann auch irgendwo endgelagert werden (…). Und um diese Bergung überhaupt in Angriff zu nehmen, muss man verhindern, dass dieser alte Sarkophag nun auseinanderbricht und die Strahlenfracht, also vor allem den radioaktiven Staub freigibt. Der hätte sich, wenn man gar nichts getan hätte, dann eben über weite, weite Teile der Ukraine verteilen können."
Wie kann – unter diesen Bedingungen – der Rückbau der Tschernobyl-Ruine vonstattengehen? Für die Arbeiten, sagt Münchmeyer, würden Roboter eingesetzt, um das Strahlenrisiko zu minimieren.
Sperrzone bei Tschernobyl
Sperrzone bei Tschernobyl: Wer hier arbeitet, setzt sich einem hohen Risiko aus.© picture alliance / dpa / Andrei Aleksandrov
Danach gefragt, wie er die Situation rund um das ehemalige Atomkraftwerk empfinde, sagt Münchmeyer: Es sei "ein bedrückender, ein gespenstischer Ort", mit verlassenen, pflanzenüberwucherten Hochhaussiedlungen, der deutlich mache, dass die "gesellschaftlichen und finanziellen Kosten unüberschaubar" seien. Die "Mär von der billigen Atomkraft" sei spätestens seit dem Reaktorunglück widerlegt. Katastrophe wie die in Fukushima seien ein deutlicher Beweis dafür.

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Vor 30 Jahren, im April 1986, war die Welt plötzlich eine andere, der GAU fand statt in der damaligen Sowjetrepublik, Tschernobyl, heute Ukraine. Die Katastrophe hatte gigantische Ausmaße und sich tief in das Bewusstsein aller gegraben, die sie bewusst erlebt haben – und ist leider nicht ohne Folgekatastrophen geblieben, siehe Fukushima. Seit Tschernobyl wird nun darüber nachgedacht, wie man der Strahlung Herr wird, die immer noch von der Atomkraftruine ausgeht.
Gut zwei Wochen nun war das größte bewegliche Bauwerk der Welt unterwegs, nämlich der neue Sarkophag für Tschernobyl. Wenn Sie sich mal Bilder ansehen im Internet, das sieht wirklich aus wie ein riesiger Käfig aus Stahl, so groß wie die Halle des Frankfurter Hauptbahnhofs, ein Zwei-Milliarden-Euro-Projekt, finanziert durch 40 Staaten, und heute nun soll sie eingeweiht werden. Und einer, der sich seit Langem damit beschäftigt, ist Tobias Münchmeyer, stellvertretender Leiter der politischen Vertretung von Greenpeace. Schönen guten Morgen!
Tobias Münchmeyer: Guten Morgen!
Brink: Was wissen Sie denn aktuell aus Tschernobyl, konnten die Arbeiten wirklich erfolgreich abgeschlossen werden, kann der Sarkophag heute über die Ruine gestülpt werden?
Münchmeyer: Ja, so ist es. Es sind jetzt also die letzten Zentimeter, die noch zu machen sind. Das war eine Distanz von 327 Metern, diese neue Hülle hat ja … hat man ja bauen müssen in einem gebührenden Abstand vom Unglücksreaktor, weil die Strahlung einfach noch zu hoch ist. Theoretisch hätte man ja auch versuchen können, eine Hülle über den alten Sarkophag-Anstand auch direkt zu bauen, aber das wäre zu gefährlich gewesen.
Brink: Wie kommt denn nun die Hülle dahin, also, wer bewegt sie, wenn Sie sagen, die Strahlung war so intensiv, dass man da eigentlich nicht bauen konnte?
Münchmeyer: Die wird bewegt auf einer Schiene, auf einer Teflonschiene. Und da stehen also hydraulische Winden links und rechts von dieser Hülle und die schieben diese Hülle Schritt für Schritt immer in so 60-Zentimeter-Schüben in Position und dort ist jetzt die Hülle mehr oder weniger angelangt.

Nur eine Zwischenlösung

Brink: Viele von uns können sich ja noch sehr gut daran erinnern, wie das vor 30 Jahren war, als der GAU wirklich stattfand, von dem man ja nicht dachte, dass er wirklich hier stattfinden würde. Und seitdem beschäftigt uns ja die Frage, ob das noch weiterstrahlt. Ist denn diese Hülle nun die Lösung für all diese Probleme, wird die Strahlung damit gebannt sein?
Münchmeyer: Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine Zwischenlösung, ein Provisorium für 100 Jahre. Das klingt ja erst mal gut, das klingt ja erst mal nach einer ganz, ganz langen Zeit, aber innerhalb dieser 100 Jahre oder innerhalb der nächsten Jahre eigentlich sogar muss hier sehr viel passieren. Weil, allen ist klar: Der Atommüll, der unter der alten, maroden Hülle ist, der muss geborgen werden und der muss zwischengelagert werden und der muss irgendwann auch irgendwo endgelagert werden, wie das überhaupt mit Atommüll in jedem Land ist, in Deutschland ja auch.
Und um diese Bergung überhaupt in Angriff zu nehmen, muss man verhindern, dass dieser alte Sarkophag nun auseinanderbricht und die Strahlenfracht, also vor allem den radioaktiven Staub freigibt. Der hätte sich, wenn man gar nichts getan hätte, dann eben über weite, weite Teile der Ukraine verteilen können. Diese Gefahr ist mit dem heutigen Tage erst einmal gebannt. Dennoch ist Eile geboten, weil, der Rückbau unter der neuen Halle ist auch ganz, ganz wichtig. Weil, wenn der nicht schnell erfolgt, dann könnte die alte Hülle unter der neuen zusammenbrechen und dann könnte man gar nichts mehr praktisch an Arbeiten ausführen innerhalb der neuen Hülle. Deswegen muss unter Hochdruck weitergearbeitet werden.
Brink: Mit Verlaub, wie muss ich mir denn diesen Rückbau vorstellen, wer macht den, wie geht das vor sich?
Münchmeyer: Das kann zum großen Teil nur über Roboter beziehungsweise über Fernsteuerung funktionieren. An der unteren Innenseite der neuen Hülle sind Kräne, riesige Kräne angebracht, bei denen gibt es noch Schwierigkeiten bei der Funktionstüchtigkeit, aber die werden hoffentlich dann auch in Betrieb gehen können in den kommen Monaten. Und dann muss man, ja, Schritt für Schritt Einzelteile auseinandernehmen, auseinanderschrauben, um Schritt für Schritt diesen alten, maroden Sarkophag freizulegen.

Gespenstischer Ort

Brink: Das ist ja nun ein gigantisches Unterfangen. Wir haben jetzt gerade mal so ein bisschen die Größenordnung auch klargemacht, dieser neue Sarkophag wird also so groß sein wie die Halle des Frankfurter Hauptbahnhofs. Sie waren dieses Jahr zum zehnten Mal in Tschernobyl, wie hat dieser Ort auf Sie gewirkt?
Münchmeyer: Ja, es ist ein gespenstischer Ort, es ist ein lebloser Ort, Menschen leben dort in der engeren Umgebung überhaupt nicht mehr. Und es ist ein ganz bedrückender Ort, vor allem natürlich die Stadt Prypjat, in der 50.000 Menschen gelebt haben, die liegt anderthalb Kilometer entfernt, das ist also eine Hochhaussiedlung, die jetzt überwuchert ist und durchwachsen ist durch die Natur. Die Natur holt sich das teilweise zurück, bestimmte Tierarten breiten sich aus, andere meiden die hohe Strahlung. Also, es ist schon ein sehr gespenstischer Ort.
Brink: Welche Lehre müssen wir dann ziehen aus der Beschäftigung mit Tschernobyl?
Münchmeyer: Ja, die Lehre ist vor allem erst mal die, dass die Risiken mit der Atomkraft verbunden riesig sind und dann letztendlich sowohl die gesellschaftlichen Kosten als auch die finanziellen Kosten unüberschaubar sind. Weil, wenn wir jetzt einfach mal absehen vom menschlichen Leid, was Tschernobyl hervorgerufen hat, wenn man sich die Kosten ansieht, allein diese Hülle, allein dieses Provisorium wird am Ende etwa 1,8 Milliarden Euro gekostet haben. Übrigens, etwa 300 Millionen kommen davon aus Deutschland.
Und die Kosten werden weiter steigen, weil eben die Bergung und die Zwischenlagerung von dem Atommüll sehr, sehr kostenaufwändig sein wird. Also, die Mär von der billigen Atomkraft ist spätestens seit Tschernobyl, eigentlich schon vorher, aber spätestens seit Tschernobyl vollständig widerlegt.
Brink: Der Atomexperte Tobias Münchmeyer von Greenpeace. Schönen Dank, Herr Münchmeyer, für das Gespräch! Und heute wird der riesige Sarkophag für die Reaktorruine vier, den Block vier in Tschernobyl, eingeweiht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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