Die ersten Tage nach Tschernobyl

Verharmlosung im Osten, Panik im Westen

Atomkraftwerk Tschernobyl 1979
Tagelang wusste niemand, was in Tschernobyl passiert war © picture alliance / dpa / Vladimir Samokhotsky
Von Vanja Budde · 26.04.2016
In den ersten Tagen nach der Havarie in Tschernobyl war unklar, was sich eigentlich ereignet hatte. Hinzu kam große Verunsicherung: Die Bürger in Ost und West wussten nicht, ob sie sich darauf verlassen konnten, was man ihnen erzählte.
"Sebastian Pflugbeil, Jahrgang 47. Ich war mit meiner Familie an dem Wochenende, an dem Tschernobyl passiert ist, an der Ostsee und habe dann von den Schweden erfahren, die das als erste bemerkt hatten, dass irgendwas in der Luft rumschwirrt – am Montag. Über die westdeutschen Nachrichtensender kam das.
Ich habe Physik studiert, bin dann in die Medizin gegangen, in die Grundlagenforschung in der Akademie der Wissenschaften, und habe mich nebenbei mit Strahlenfragen befasst. Und so war ich, als Tschernobyl passiert ist, wahrscheinlich so ziemlich der Einzige, der außerhalb der Beamten, die das berufsmäßig machten, so ungefähr verstanden hat, wie das mit den Strahlen funktioniert."
"Mein Name ist Manfred Haferburg, ich bin Kernenergetiker von Beruf und habe 1973 angefangen, in Greifswald im damaligen Kernkraftwerk zu arbeiten und mit einer steilen Blitzkarriere bin ich dann fünf Jahre später Oberschichtleiter gewesen, sprich ich war dann verantwortlich für alle laufenden Reaktorblöcke. Ich bin dann von dieser Position entfernt worden, weil ich kein Parteimitglied war, und weil ich mich auch geweigert habe, für die Staatssicherheit Informationen zu sammeln.

Die Ostmedien berichteten zuerst gar nicht

Am 26. April 1986 war ich in der Slowakei und habe dort am Simulator Leute ausgebildet. Das ist unmittelbar beim Kernkraftwerk Jaslovské Bohunice, auch so eine große russische Anlage vom gleichen Typ, wie wir sie auch in Greifswald hatten. Wie haben wir von Tschernobyl erfahren? Im Deutschlandfunk habe ich von Tschernobyl erfahren, weil die Ostmedien gar nichts berichteten."
Sebastian Pflugbeil: "Die erste offizielle Nachricht kam in den DDR-Fernsehnachrichten am Montagabend in der Aktuellen Kamera."
Aktuelle Kamera, 29.04.1986, 19:30, Ansagerin: "Wie der Ministerrat der UdSSR heute informierte, sind dringende Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie eingeleitet worden. Die Strahlungssituation im Kraftwerk und seiner Umgebung ist stabilisiert worden. Den Betroffenen wird die erforderliche ärztliche Hilfe erwiesen."
Manfred Haferburg: "Wir merkten das dann auch, dass die Ins-Kraftwerk-Ankommenden, die von zu Hause ins Kraftwerk mit dem Fahrrad geradelt waren, die extrem empfindlichen Eingangsmonitore zum Klingeln brachten. Die hatten sich so ein bisschen Radioaktivität in die Jacke geladen vom Fallout und brachten die empfindlichen Monitore zum Ansprechen. Dann ergab sich das, dass wir verstanden haben, dass also ein schwerer Reaktorunfall passiert war."
Aktuelle Kamera, 29.4., Ansagerin: "Nach der TASS-Meldung über eine Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine wurden keine Werte der Radioaktivität gemessen, die eine Gesundheitsgefährdung hervorrufen können. Der Leiter des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR, Professor Doktor Georg Sitzlack, erklärte heute gegenüber Pressevertretern, dass in der DDR Strahlenmessungen mit äußerster Gründlichkeit vorgenommen werden."

"Dieser Unfall war absehbar"

Manfred Haferburg: "Es hat mich erzürnt, aber nicht überrascht, dass die DDR-Medien geschwiegen haben, weil das immer so war. Es machte einen trotzdem wütend, weil damit ja eigentlich ein völlig undemokratisches System offensichtlich wurde, was da gepflegt wurde. Und für mich als Technologen, der eine Hochrisikoanlage betrieb, war das unakzeptabel."
Sebastian Pflugbeil: "Dieser Unfall war für mich etwas, wo ich drauf gewartet habe, dass das passiert. Das war absehbar. Und dann passierte das. Da war mir sehr schnell klar, dass das, wenn das so schnell so weit ausstrahlt und feststellbar, ein dickes Ding wird. Und dann habe ich die nächsten Wochen versucht, über die Medien und über meine Freunde im Westen halt so viele Informationen zu sammeln wie möglich. Unter anderem habe ich halt auch die Prawda schätzen gelernt, die in der DDR in allen Zeitungskiosken immer verschimmelte, weil das keiner kaufte, aber nach Tschernobyl war das eine wichtige Informationsquelle, weil da viel mehr drinstand als in den DDR-Zeitungen."
DLF, 2.5.1986, Moderator: "In der Berichterstattung über die Vorgänge in Tschernobyl können die Medien der DDR gar nicht anders, als sich an die sowjetischen Vorgaben zu halten. Trotzdem ist die Situation in der DDR insofern eine andere, als die DDR-Bürger durch die elektronischen Medien des Westens viel umfassender und ausführlicher über die Auswirkungen des Reaktorunglücks informiert sind als die Sowjet-Bürger. In dieser Situation ist das DDR-Fernsehen jetzt in die Offensive gegangen und ließ in einer Sondersendung zwei Wissenschaftler zu Wort kommen, nämlich den Direktor des Instituts für Hochenergiephysik, Professor Lanius, und den Direktor des Zentralen Instituts für Kernforschung, Professor Günter Flach."
Sebastian Pflugbeil: "Dass man den offiziellen Bewertungen nicht glauben kann, das war ja sehr, sehr schnell klar. Die ähnelten sich durchaus im Westen und im Osten, also Zimmermann zum Beispiel, der Innenminister damals, der hat auch so eine extrem abwiegelnde Einschätzung gegeben, dass da mit Sicherheit keine Gesundheitsschäden im Westen passieren würden, viel zu weit weg – und da fanden sich dann auch Wissenschaftler, die das auch so darstellten. Das war in der DDR genauso, da kamen dann Professoren aus der Akademie der Wissenschaften, Flach hieß der eine, der war Chef von dem Kernforschungszentrum in Rossendorf."

"Die Nutzung der Kernenergie in der UdSSR verteufeln"

DDR-Rundfunk, 2.5.1986, Günter Flach: "Und insofern ich absolutes Unverständnis hier äußern muss dafür, wie man solch eine technische Situation, so möchte ich das einmal bezeichnen, zu einer derartigen Kampagne nutzen kann, um die friedliche Nutzung der Kernenergie in der UdSSR zu verteufeln."
Manfred Haferburg: "Ja, so war das in der DDR, das war das Schnitzler-Prinzip. Da haben sich Professoren nicht ausgenommen. Der Klassenfeind war per se böse. Der Sozialismus war per se gut. Da konnte gar nichts falschgemacht werden, da: Die Partei hat immer Recht. Und natürlich hat die Staatssicherheit jegliche Äußerung von Fachleuten, zum Beispiel, über Tschernobyl unterdrückt, und zwar drakonisch. Wer es gewagt hat, auch dann da den Mund aufzumachen, der lebte gefährlich zu dieser Zeit."
Sebastian Pflugbeil: "Was mich beinahe noch mehr ärgert: Also denen kann ich das irgendwie nachsehen in einer Diktatur, dass man so tanzt, wie der Diktator das gerne hat – gut. Aber dass wichtige Wissenschaftler in der Bundesrepublik auf eine ganz ähnliche Weise die Sache verharmlost haben, das nehme ich ihnen übel. Die hätten das nicht müssen. Mir kann keiner erzählen, dass sie es nicht besser verstanden haben. Das empfinde ich immer noch als gravierenderen Fehlgriff als das, was die Leute in der DDR getrieben haben."
Radio DDR 1, Ansagerin: "Noch immer versuchen bestimmte westliche Medien, aus der Havarie am sowjetischen Kernkraftwerk von Tschernobyl politisches Kapital zu schlagen."
Manfred Haferburg: "Mit dem Unfall in Tschernobyl wurde eigentlich noch mal die Rolle der Medien in der DDR so richtig klar für mich. Die Medien waren nicht da, um Menschen zu informieren, sondern die Medien wurden benutzt, um Menschen zu manipulieren und zu desinformieren oder sagen wir so: Manipulation durch Desinformation."
Radio DDR 1, Ansagerin: "'Hören Sie Klaus-Dieter Kröber.' Kröber kommentiert: 'Der sowjetische Pressesprecher Lomeiko kritisierte in einem Interview für die Fernsehgesellschaft ABC die Berichterstattung von US-Medien als irreführend und aufbauschend. Er warf die Frage auf, wer es nötig habe, diese Atmosphäre von Psychose und Misstrauen und ein Bild der lügenden Russen zu schaffen. Was alles die heutige westdeutsche 'Bild' nicht daran hindert, solche Sätze in ihr Millionenpublikum zu schleudern, wie: 'Alle verseucht. Welche Gefahren bei uns? Atomfabrik brennt noch immer. Hungersnot in Russland.' Hier sehen Sie gewissermaßen wie in einem Prisma die billige Absicht von Brunnenvergiftern, die man leider nicht nur in der bundesdeutschen Massengazette Bild findet.'"
Manfred Haferburg: "Die Informationspolitik war zu dieser Zeit schon fragwürdig, von beiden Seiten. Im Osten gab es eine katastrophale Verharmlosung und das verunsicherte die Leute, weil ja jeder wusste, dass hier verharmlost und zurückgehalten wird, weil ja der Große Bruder keine Havarien hat und keine Größten Anzunehmenden Unfälle mit seinen Reaktoren. Was nicht sein durfte, konnte nicht sein. Das war die eine Quelle der Angst, die die Leute hatten. Und die andere Seite war, dass im Westen die Westmedien von einer Horrormeldung in die andere stolperten und Angst verbreiteten und auch Angst machen. So. Und dazwischen irgendwie lag die Wahrheit."

"Wir bekamen keine konkreten Angaben"

Aktuelle Kamera, Ansager:"Im Zusammenhang mit der Reaktorhavarie im sowjetischen Kernkraftwerk DDR gab der Sprecher des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR, Doktor Sc. Wolfgang Rüder, folgende Erklärung ab: 'Im Gebiet der DDR erfolgt kontinuierlich eine ständige Überwachung der Radioaktivität in der Umwelt. Die Ergebnisse zeigen, dass keine Gesundheitsgefährdung für Bürger der DDR besteht.'"
Sebastian Pflugbeil: "Wir waren halt gezwungen, darüber nachzudenken, was wir den Kindern zu essen geben können. Wir kriegten ja keine konkreten Angaben, wie groß die Gefahr in der DDR wirklich ist, also wie die Messwerte in der DDR sind. Ich hatte vier Kinder, die waren Freitrinker in der Schule, das heißt, die kriegten die Milch umsonst, die es zum Frühstück immer gab, solche Tetra Paks, und in der Zeit nach Tschernobyl blieben viele Milchtüten stehen, weil die Kinder von zu Hause informiert waren: Lasst die Milch stehen. Und die anderen, die tranken dann zwei und drei solche Dinger, das Gleiche mit Salat, den gab's normalerweise in der Schulküche kaum und nach Tschernobyl ging das. Mit einem Mal gab es fast jeden Tag Salat in der Schule und die informierten Kinder ließen den stehen und die anderen aßen mehrere Portionen. Das zu beobachten, das war schon bitter."
Manfred Haferburg: "Diese Desinformation, die die DDR-Medien verbreiteten, das hat mich richtig krank gemacht, dahin gebracht, wo ich letzten Endes gelandet bin, nämlich nach Hohenschönhausen. Ich habe das nicht ausgehalten."
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