Graeber/Wengrow: "Anfänge"

Es muss nicht auf Privatbesitz hinauslaufen

06:18 Minuten
Cover von "Geschichte der Menscheit": Auf blau-gelb-roten Hintergrund stehen Titel und Autoren des Buchs.
© Klett-Cotta

David Graeber, David Wengrow

Übersetzt von Andreas Thomsen, Helmut Dierlamm, Henning Dedekind

Anfänge. Eine neue Geschichte der MenschheitKlett-Cotta, Stuttgart 2022

672 Seiten

28,00 Euro

Von Eike Gebhardt |
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Eine Monumentalgeschichte der Menschheit - das ist dieses letzte Werk des 2020 verstorbenen Anthropologen David Graeber, verfasst zusammen mit dem Archäologen David Wengrow. Sie zeigen eindrücklich, dass Geschichte und Gegenwart nie alternativlos sind.
„Eine neue Geschichte der Menschheit“ wollen sie schreiben, bescheidener geht’s nicht. Allerdings ist das gerade Mode – Yuval Harari, Jared Diamond, Francis Fukuyama oder Stephen Pinker sind für solche Werke nur die bekanntesten Namen.

Eine "teleologische Zwangsjacke"

Der Archäologe David Wengrow und der Wirtschaftsanthropologe David Graeber, beide hochrenommiert – Graeber zudem auch bekannt durch seine Rolle in der Occupy- und der Extinction Rebellion-Bewegung – wollen gleich das gesamte Narrativ sozialer Evolution aufbrechen: Sie halten den angeblich universellen Umschwung um ca. 9.000 v. Chr. vom primitiven Wildbeutertum zur landwirtschaftlichen Zivilisation samt entsprechendem plötzlichen Primat des Privatbesitzes und der damit notwendig gewordenen Verwaltung und sozialen Hierarchie, für alles andere als natürlich, geschweige denn unvermeidlich.
Ja, schlimmer noch: für eine teleologische Zwangsjacke, die vielen Kulturen nicht nur überhaupt nicht passt, sondern deren Selbstbild und der archäologischen Evidenz geradewegs widerspricht.

Es gibt keine einheitliche Fortschrittslogik

Graeber und Wengrow bieten dabei keine alternative Entwicklungslogik an, im Gegenteil: Eine solche einheitliche Stufen- oder gar Fortschrittslogik habe es nirgendwo gegeben. Immer schon und überall hätten Menschen mit allen möglichen Subsistenzformen experimentiert, mehr noch: deren Vor- und Nachteile bewusst verglichen und gewichtet und nicht selten mehrere Formen – Viehzucht, Jagd, Anbau, Handel – gleichzeitig praktiziert, das eine oder andere manchmal jahrhundertelang fallen gelassen und später wieder aufgegriffen.
Vor allem aber schienen sich die Menschen dabei oft der sozialen Folgen bewusst gewesen zu sein, schließlich hatten sie ja meist Vergleichsmöglichkeiten, z.B. durch konkurrierende Nachbarkulturen oder Handelsbeziehungen. Dieses Bewusstsein versuchen Graeber und Wengrow zu belegen - indirekt an den archäologischen Funden, direkt anhand überlieferter Gespräche, die Indigene mit den verblüfften Eroberern und Kolonisatoren führten, die ihre Gegenüber für ahistorische, weil formal ungebildete Wilde, hielten.

Es könnte alles anders sein

Wenn es aber derart viele Optionen in der Menschheitsgeschichte gab, wie kommt es dann, dass wir uns in einer einzigen geradezu festgefahren haben, die wir für den scheinbar natürlichen, wenn auch vorläufigen, Endpunkt menschlicher Entwicklung halten? So dass wir in unserem Selbstverständnis gar nicht mehr die freie Wahl, ja überhaupt keine realistische Wahl zu haben scheinen über das Gesellschaftsmodell, in dem wir leben wollen? Schon der Gedanke erscheint uns als infantiler Utopismus und wird überall von der angeblich „reifen“ Gesellschaft verhöhnt und diskreditiert.
Natürlich haben die beiden mit dieser These fast die gesamte Zunft gegen sich aufgebracht: Sie ignorierten die historischen Fakten, die überall auf der Welt für sich sprächen. Nur, gerade das tun sie nicht.
Vielmehr bringen Graeber und Wengrow eine geradezu überwältigende Fülle von Beispielen aus allen Ecken des Planeten, die von den Kollegen ihrerseits anscheinend ignoriert wurden oder eben als nicht repräsentative Ausnahmen angesehen wurden. Allerdings ist das wie mit dem schwarzen Schwan: ein einziger, eine Ausnahme eben, genügt, um die These zu widerlegen, alle Schwäne seien notwendig weiß.
Mangelnde Sachkenntnis kann den beiden wohl niemand vorwerfen, sowohl die schiere Zahl wie auch die oft verblüffende Interpretation oder zumindest Deutungsoption ihrer Gegenbeispiele gegen das Standardmodell sind beeindruckend; einzelne Beispiele von Deutungswillkür fallen gegen ihr massives Aufgebot auf 700 eng bedruckten Seiten wahrlich kaum ins Gewicht.

Wem nützt die Ungleichheit?

Die Ursprünge der heute scheinbar so selbstverständlichen Ungleichheit wollten die beiden suchen: Sie sei keineswegs mit der Landwirtschaft entstanden, nach hunderttausenden Jahren mehr oder minder egalitärer Kleingruppen; schon vorher, das heißt, über lange Strecken der Menschheitsgeschichte, gab es eine bunte Mischung sowohl hierarchischer wie egalitärer Gesellschaften.
Das Buch ist ein Plädoyer zur Emanzipation vom Einheitsmodell teleologischen Fortschritts, das womöglich überhaupt erst zur Akzeptanz der heute scheinbar unvermeidlichen Ungleichheit führte. Wem ein solches Geschichtsverständnis nutzt – auch hier schrieben die Sieger die Geschichte – diese Frage braucht, angesichts der von Graeber und Wengrow neu geordneten Archive, keine explizite Antwort, ja nicht einmal Erwähnung.
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