Neues Buch von David Graeber

Was Bürokratie und Gewalt verbindet

Der US-amerikanische Anthropologe und Autor David Graeber stellt am 23.05.2012 sein Buch "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" im Kulturkaufhaus Dussmann in Berlin vor.
Der US-amerikanische Anthropologe und Autor David Graeber © picture-alliance / dpa / Xamax
Von Tobias Wenzel · 18.02.2016
Aktivist, Anarchist und Querdenker: Nach seinem Weltbestseller "Schulden" veröffentlicht David Graeber jetzt "Bürokratie". Darin provoziert der Anthropologe erneut mit seinen systemkritischen Ideen. Tobias Wenzel hat ihn in London besucht.
Es rührt sich nichts in David Graebers Büro in der Eliteuniversität London School of Economics. Hat der 55-jährige US-amerikanische Anthropologe und bekennende Anarchist vielleicht das Interview vergessen? Minuten später läuft er hektisch durch den Flur:
"Kann ich vielleicht noch ganz schnell nach unten gehen, um etwas zu essen? Haben Sie schon mittaggegessen?"
Es ist fast halb drei. Der Autor des Weltbestsellers "Schulden - Die ersten 5000 Jahre" schließt sein Zimmer auf, um es als Wartezimmer anzubieten und verschwindet in die Kantine. Im Büro gucken zerknickte Papiere aus Schreibtischschubladen hervor.
Zehn Minuten später kommt David Graeber, in der Hand einen Becher Tee, zurück und erläutert die zentrale These seines Buchs "Bürokratie. Die Utopie der Regeln": Die Bürokratie, die uns in den Wahnsinn treibe, fuße oft auf Gewalt. Die Sowjetunion, der bürokratische Staat schlechthin, sei utopisch gewesen. Wer sich aber nicht an die Regeln gehalten habe, sei in den Gulag gebracht worden. Das sei, wenn auch ohne Gulag, im Kapitalismus aber nicht anders:
"'Was?! Sie können Ihr Konto nicht ausgleichen? Das kann doch jeder!'
Aber in Wirklichkeit kann es niemand. Wenn man JP Morgan Chase, die größte Bank Amerikas, betrachtet, dann stellt man fest, dass sie 70 Prozent ihres Gewinns mit Gebühren und Strafen macht. Kapitalistische Gewinne entstehen also durch dieses utopische bürokratische System, das Regeln formuliert, die man nicht befolgen kann. Und wenn man sie nicht befolgt, heißt es: Etwas stimmt mit dir nicht!"
Führender Kopf der Occupy-Wallstreet-Bewegung
Graeber provoziert, mit seinen systemkritischen Ideen als weltweit renommierter Wissenschaftler und mit seinen Taten als führender Kopf der Occupy-Wallstreet-Bewegung. Er wird als bedrohlicher Revolutionär wahrgenommen:
"Ich habe viele Probleme in meinem eigenen Land gehabt. Ich kann da nicht ins Detail gehen. Aber ich war Dozent in Yale und bin vor die Tür der Uni gesetzt worden. Plötzlich konnte ich nirgendwo in den USA einen Job bekommen. Die Antiterroreinheit der Polizei scheint meinetwegen, Anrufe gemacht zu haben. Denn plötzlich wurde ich aus meiner Wohnung geworfen. Ein Staatssekretär aus den USA hat mich im Internet gestalkt. Einmal hat er mich mithilfe eines automatischen Programms eineinhalb Monate lang täglich bei Twitter beleidigt."
Während des Gesprächs führt David Graeber etliche Male den Becher mit Tee an seinen Mund, kommt aber nie zum Trinken, weil ihm zuvor schon ein neuer Gedanke in den Kopf schießt: Zum Beispiel, dass Sherlock Holmes und James Bond Bürokraten sind. Oder dass die Bürokratie ausgehend vom deutschen Postamt Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Siegeszug angetreten hat. Graeber lässt sich nur selten bremsen.
(Festnetztelefon klingelt) "Oje! Ich nehme den Hörer nicht ab. Das ist bestimmt jemand, der von mir etwas will. Ich geh überhaupt selten ans Telefon."
Anarchistische Ordnung ohne Gewalt
Mehrmals täglich bekommt er Einladungen für Konferenzen und Festivals. David Graeber, der Bestsellerautor und Anarchist, ist ein Star. Man merkt, dass er das genießt. Er, der Sohn zweier Fabrikarbeiter, die ihn früh politisiert haben. Sein Vater hatte im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft:
"Die meisten Menschen denken doch, dass der Anarchismus eine kranke Idee ist. Sie denken, es würde Chaos entstehen, jeder würde jeden umbringen. Mein Vater hat aber in Barcelona gelebt, als dort anarchistische Prinzipien herrschten. Sie haben die Polizei abgeschafft, sie haben die von oben nach unten gerichteten Behörden abgeschafft. Fabrikarbeiter haben ihre eigenen Fabriken betrieben. Busse und Züge sind aber danach genauso pünktlich gekommen wie zuvor. Ich stamme also aus einer Familie, in der Anarchismus gerade nicht als etwas Verrücktes galt."
Graeber will weder die Ordnung abschaffen noch die Bürokratie an sich. Menschen würden immer Regeln aufstellen, es sei aber wünschenswert, dass diese Regeln nicht durch Gewalt, zum Beispiel die der Polizei, gestützt würden.
Kindische Liebe zur Bürokratie
Mit unserer Sehnsucht nach Regeln erklärt Graeber, warum wir die Bürokratie, so lästig sie auch sein kann, doch insgeheim lieben. Das sei wie bei Kindern, die beim Spielen immer Regeln bräuchten:
"Bürokratie ist wie ein Spiel, auch wenn es nicht besonders Spaß macht. Aber sie hat unbestreitbar Regeln. Das gibt uns Sicherheit. Die Idee eines Kosmos, der aus einem Spiel ohne Regeln entstanden ist, macht uns Angst. Stellen wir uns Gott als solch ein regelloses Spiel vor! Würde man gerne in der Nähe eines solchen Gottes sein? Das wäre eine Katastrophe! Man möchte doch, dass sich auch die Götter an Regeln halten."

David Graeber: Bürokratie. Die Utopie der Regeln
Aus dem Englischen von Hans Freundl und Henning Dedekind
Klett-Cotta, Stuttgart 2016
329 Seiten, 22,95 Euro, als E-Book 17,99 Euro

David Graebers neues Buch "Bürokratie. Die Utopie der Regeln" kommt am 20. Februar in die Buchhandlungen. Am 4. April beginnt er seine Lesereise in Berlin. Danach ist er in Göttingen (5.4.), Frankfurt (6.4.), Köln (7.4.) und Stuttgart (8.4.).

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