Internet-Hype

Blutzucker: Ständige Kontrolle, fragwürdiger Nutzen

Ein Mann steht mit einem orangefarbenen T-Shirt in der Natur, am linken hinteren Oberarm trägt er einen Blutzucker-Sensor.
Die Sensoren von sogenannten CGM-Systemen zur kontinuierlichen Glukoseüberwachung messen den Zuckergehalt im Gewebe unter der Haut © Imago / Pond5 Images / Maik Kleinert
In den sozialen Medien propagieren Influencer die Idee, den eigenen Blutzucker mithilfe von Sensoren zu überwachen. Das soll eine Vielzahl von Beschwerden heilen. Doch der menschliche Stoffwechsel ist ein komplexes System.
Kohlenhydrate in Fett „verpacken“, vor jedem Essen ein Glas Wasser mit Apfelessig und auf keinen Fall Süßes zum Frühstück – solche Tipps geben Influencerinnen und Influencer in den sozialen Medien an ein Millionenpublikum weiter. Das Ziel: Den Glukosespiegel im Blut möglichst konstant halten. Denn das soll gegen eine ganze Reihe von Beschwerden helfen.
Wer es ganz genau nimmt, überwacht den eigenen Blutzucker 24 Stunden am Tag per Smartphone-App, die passenden Messgeräte boomen. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist der Nutzen der Blutzucker-Überwachung für gesunde Menschen allerdings fraglich.

Was propagieren Blutzucker-Influencer?

Eine der bekanntesten Vertreterinnen des Blutzucker-Hypes ist die französische Biochemikerin Jessie Inchauspé. Auf Instagram folgen der selbst ernannten „Glukose-Göttin“ mehr als fünf Millionen Menschen, ihre Bücher sind Bestseller.
Die These von Inchauspé lautet: Wenn beim Essen der Blutzucker zu schnell stark ansteigt, ist das ungesund. Solche Blutzuckerspitzen sind der Influencerin zufolge für eine Vielzahl von Symptomen verantwortlich oder verschlimmern diese – darunter Heißhungerattacken, Müdigkeit, Migräne, Depressionen, Schuppenflechte und Darmprobleme. Die Lösung: Mithilfe bestimmter „Tricks“ wie dem herzhaften Frühstück soll der Anstieg von Glukose und Insulin im Blut abgeschwächt und verlangsamt werden.
Um den eigenen Blutzuckerspiegel besser verstehen zu können, raten viele Ernährungs-Influencer ihren Followern dazu, diesen mithilfe von Glukosemessgeräten zu überwachen. Die Sensoren der sogenannten CGM-Geräte messen den Zuckergehalt im Gewebe unter der Haut und sind eigentlich für Diabetikerinnen und Diabetiker gedacht. Die Anbieter wenden sich aber längst auch mit Geräten an gesunde Menschen, in den USA investieren Risikokapitalgeber Millionen in Start-ups, die die Produkte anbieten und entwickeln.

Was sagt die Wissenschaft?

Wenn wir Nahrung zu uns nehmen, steigt der Zuckerspiegel im Blut. Als Reaktion darauf setzt die Bauchspeicheldrüse Insulin frei, um den Blutzucker zu senken. Was nicht sofort gebraucht wird, speichert der Körper als Glykogen – unter anderem in der Leber. Bei Bedarf gibt das Organ den Zucker dann wieder langsam ins Blut ab und stellt so die gespeicherte Energie für Gehirn und Muskeln zur Verfügung.
Bei Menschen mit einer Diabeteserkrankung gerät diese Blutzuckerregulation aus dem Takt. Der Blutzuckerspiegel steigt chronisch in die Höhe, weil der Körper immer weniger auf sein eigenes Insulin reagiert oder es gar nicht mehr ausschüttet. Unbehandelt führt Diabetes zu schweren Folgeerkrankungen, deshalb müssen Erkrankte ihren Blutzuckerspiegel gut kontrollieren.

Wie viele Blutzuckerspitzen ein gesunder Mensch verträgt, wissen wir nicht genau.

Nicola Guess, Ernährungswissenschaftlerin

Welchen Nutzen aber ein gesunder Mensch davon hat, den eigenen Blutzuckerspiegel im Tagesverlauf haargenau zu tracken, ist wissenschaftlich fragwürdig. „Wie viele Blutzuckerspitzen ein gesunder Mensch verträgt, wissen wir nicht genau“, sagt die Ernährungswissenschaftlerin Nicola Guess von der britischen Oxford-Universität. In Beobachtungsstudien sei keine schädliche Wirkung von Blutzuckerspitzen festgestellt worden.
Dazu kommt, dass der menschliche Stoffwechsel deutlich komplexer ist, als sich über ein Blutzuckermessgerät erkennen lässt. Der Glukosespiegel im Blut wird von vielen anderen Faktoren beeinflusst als nur der Reihenfolge der Nahrungsmittel oder der Uhrzeit. So kann das individuelle Maß an Schlaf, Bewegung oder Stress, aber beispielsweise auch die Ernährung vom Vortag dazu führen, dass Menschen auf dieselbe Mahlzeit ganz unterschiedlich reagieren. Die Blutzucker-Influencer im Netz blenden diese Komplexität aus, weil ihr Erfolg auf der Vermittlung von einfachen Botschaften beruht.
Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass die Blutzuckermessung Diabeteserkrankungen vorbeugt. Die CGMs haben „keinen signifikanten Einfluss auf das Gewicht und auch keinen signifikanten Einfluss auf andere kardiometabolische Risikofaktoren“, erklärt Guess.

Was ist problematisch am Blutzucker-Hype?

Social-Media-Trends wie die Blutzuckermessung greifen oft zu kurz, geben dabei aber vor, seriös und wissenschaftlich fundiert zu sein. Auch Jessie Inchauspé reichert jede Wortmeldung mit Verweisen auf wissenschaftliche Studien an. Aber: „So funktioniert Wissenschaft nicht“, kritisiert Guess. Ziel der Influencer sei es, schnell viel Geld zu verdienen. „Aber das geht nur, indem man Dinge hypt.“
„Dieser Hype ist parawissenschaftlich und unbegründet“, urteilt auch der Ernährungsmediziner Matthias Riedl. Zwar basierten Inchauspés Ernährungsregeln auf Studien, seien aber dennoch nur teilweise richtig und setzten den falschen Fokus.

Dieser Hype ist parawissenschaftlich und unbegründet.

Matthias Riedl, Ernährungsmediziner

Das gilt Riedl zufolge für die meisten Ernährungs-Hypes aus dem Internet. So seien die Informationen von Influencern bezogen auf Ernährung einer Studie zufolge zu 70 Prozent falsch.
Durch die ständig neuen Ernährungsregeln in den sozialen Medien seien viele Menschen zudem völlig verwirrt und wüssten nicht mehr, was sie essen sollen, sagt Nicola Guess.
Gesundheitsbewusste Menschen tun sich nichts Gutes, wenn sie ihren Körper und ihr Essen ständig kontrollieren. Das kann theoretisch sogar Stress auslösen, der sich wiederum negativ auf den Blutzuckerspiegel auswirken kann. Zudem bringen ständige Kontrollen und rigide Ernährungsregeln das Risiko mit sich, ein zwanghaftes Essverhalten zu entwickeln.

Wie wirken sich Gesundheitstrends auf die Gesellschaft aus?

Gesamtgesellschaftlich betrachtet haben die Online-Hypes keinen nennenswerten Effekt. Für den Soziologen Friedrich Schorb sind sie ein Ausdruck von „Healthismus“: Gesundheitsbewusstsein werde zur Weltanschauung, im Zuge von Körperkult und Fitnessindustrie bauen Menschen große Teile ihrer Identität auf ihrem Ernährungsverhalten auf.
„Gesundheit wird als etwas betrachtet, das man durch harte Arbeit und entsprechendes Verhalten erreichen kann“, sagt Schorb. So werde suggeriert, dass jeder für seine Gesundheit ausschließlich selbst verantwortlich sei. Dabei fallen entscheidende Gesundheitsfaktoren wie die soziale und finanzielle Situation unter den Tisch. Wer nicht mithalten könne, dem werde unterstellt, selber schuld zu sein, so der Soziologe.
Das Gegenteil ist aber der Fall, wie Studien zu Adipositas, Bluthochdruck und Bewegungsmangel beweisen: Social-Media-Hypes verbessern die allgemeine Gesundheit nicht. Kein Wellness-Trend der letzten Jahre hat die Menschen in Deutschland, Europa, den USA tatsächlich glücklicher und gesünder gemacht.

Was bedeutet das für die Ernährung?

In einem Punkt hat Influencerin Jessie Inchauspé unbestritten Recht: Selbst kochen ist gesund. Das ist allerdings keine neue Erkenntnis. Was Menschen ganz grundsätzlich fit und gesund hält, ist seit Jahrzehnten wissenschaftlich gut belegt und allgemein bekannt: nicht rauchen, häufig selbst kochen, frische Zutaten verwenden, viel Gemüse, Obst und Vollkornlebensmittel essen, Pausen zwischen den Mahlzeiten einhalten, wenig süße Getränke und Alkohol konsumieren und sich viel bewegen. Die Prinzipien eines gesunden Lebens sind also einfach und längst bekannt. Ein Blutzuckermessgerät wird für diese Ernährungsgrundsätze nicht gebraucht.
kau
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