Giulia Corsalini: "Die Tschechowleserin"

Von der Putzfrau zur Universitätsdozentin

06:36 Minuten
Zu sehen ist das Cover des Buches "Die Tschechowleserin" von Giulia Corsalini.
© Nonsolo Verlag

Giulia Corsalini

Übersetzt von Ruth Mader-Koltay

Die TschechowleserinNonsolo Verlag, Freiburg 2021

182 Seiten

19,90 Euro

Von Maike Albath · 17.12.2021
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Nina kommt als Altenpflegerin nach Italien. Sie putzt im Supermarkt und schreibt Aufsätze über Anton Tschechow. Autorin Giulia Corsalini schreibt über Migration, aber nicht in Form eines plakativen Migrationsromans. Ihre Figur bleibt im Ungefähren.
Es ist ein merkwürdiges Taumeln, das Nina ergreift. Ein innerer Auflösungsprozess, der dazu führt, dass sich die vierzigjährige Literaturwissenschaftlerin aus Kiew immer weiter von ihrem ursprünglichen Leben entfernt und in einem Limbus verharrt.
Sie war als Altenpflegerin nach Italien gekommen, hatte ihre Familie mit Geld unterstützt, eine Diabetikerin versorgt, dann einen Lehrauftrag an der Fakultät für Slawistik von Macerata übernommen und Tag für Tag einen Supermarkt geputzt, wo sie in einer Abstellkammer übernachtete. Trotz der widrigen Umstände bescherte ihr Italien ganz neue Freiheiten: Sie schrieb einen Aufsatz über Anton Tschechow und fand im Nachdenken Trost.

Eine Frau auf der Kippe

Giulia Corsalini, selbst erfahrene Universitätsdozentin in Recanati, erzählt in ihrem bezwingenden Debüt "Die Tschechowleserin" von einer Frau auf der Kippe. Dafür erteilt sie ihrer Heldin selbst das Wort: Präzise und konzentriert schildert Nina aus der Retrospektive, wie sie den ersten Aufenthalt in dem Städtchen Macerata bewältigte und dann acht Jahre später noch einmal für einen Kongress nach Italien zurückkehrt.
Wieder entgleiten ihr die Dinge, wieder tut sie nicht das, was sie eigentlich hätte tun wollen. Fast wie eine Figur aus den Erzählungen von Anton Tschechow.

Vielschichtiger Migrationsroman

Ohne einen Anflug von Pathos wendet sich Corsalini einem sehr aufgeladenen Thema zu: der Migration. Vor allem in Italien, das erst seit rund 25 Jahren zum Einwanderungsland geworden ist, sind Migrationsromane ein regelrechtes Phänomen.
Oft handelt es sich dabei um dramatische Erfahrungsberichte, die auf Identifikation setzen und wenig Formwillen besitzen. Bei Corsalini ist es umgekehrt: Die Handlung wird nur angedeutet, die Figuren sind vielschichtig, die Gefühle komplex und kaum zu entschlüsseln. Es ist die Atmosphäre des Ungefähren, die von der ersten Zeile an besticht.

Neue Klassengesellschaft

Gleichzeitig gelingt es der Autorin, den Kosmos einer Kleinstadt ebenso plastisch zu vermitteln wie die Erniedrigungen, denen eine osteuropäische Pflegekraft ausgesetzt ist. Unsentimental nimmt Corsalini die sozialen Verhältnisse in Italien in den Blick, wo sich längst eine neue Klassengesellschaft etabliert hat.
Mit ihrem intimistischen Realismus beschränkt sich die Autorin aber nicht auf diesen Aspekt, sondern fertigt gleichzeitig eine schillernde weibliche Porträtstudie an. Nina laboriert an ihren Beziehungen. Ihren Mann lässt sie sterbend zurück, ihrer Tochter fühlt sie sich entfremdet, zu dem Lehrstuhlinhaber der Slawistik De Felice kann sie keine engere Bindung eingehen. Und über allem liegt die traumverlorene, melancholische Stimmung der tschechowschen Erzählungen.

Preisgekröntes Debüt

Giulia Corsalinis eindrucksvoller Erstling, der in Italien zahlreiche Preise gewann, ist auf Deutsch bei dem Verlag Nonsolo erschienen. Das kleine Freiburger Haus macht immer wieder durch überraschende Fundstücke auf sich aufmerksam: Nach dem Neapolitaner Nicola Pugliese und der Afroitalienerin Igiaba Scego vermittelt auch Corsalini einen anderen Blick auf Italien, jenseits von Capri-Fischern, Mafiosi und Meeresrauschen.

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