Gewalteskalation in Nahost

"Israels Straßen brennen"

08:46 Minuten
Noa Yedlin stützt ihr Kinn auf die linke Hand, sie hat volles, lockiges Haar. im Hintergrund ist eine Bücherwand zu sehen.
Noa Yedlin lebt in Tel Aviv. Die Schriftstellerin sieht eine tiefe Spaltung innerhalb der jüdischen Bevölkerung. © Iris Nesher
Noa Yedlin im Gespräch mit Joachim Scholl · 17.05.2021
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Die Autorin Noa Yedlin fürchtet sich vor einem Auseinanderbrechen der israelischen Gesellschaft mehr als vor den Raketen der Hamas. Neben dem Konflikt zwischen jüdischer Mehrheit und arabischer Minderheit sei auch die politische Spaltung gefährlich.
In Israel und dem Gazastreifen ist die Gewalt in den vergangenen Tagen eskaliert: Die Hamas schießt Raketen zu Tausenden ab, die israelische Luftwaffe schlägt zurück. Noa Yedlin, preisgekrönte und gefeierte Autorin in Israel, lebt in Tel Aviv. Auf Deutsch erschien von ihr gerade der Roman "Leute wie wir".
Auch auf Tel Aviv habe es Raketenangriffe gegeben, berichtet sie, "sodass wir mitten in der Nacht in die Schutzräume gehen mussten, die Kinder über die Schulter gelegt". Doch sie sei gesund und am Leben. Dann fügt sie hinzu: "Ich mache mir sehr große Sorgen um die tiefere Bedeutung dessen, was gerade in Israel geschieht. Was da passiert, ist viel beunruhigender auf lange Sicht als die Raketen, die jetzt abgefeuert werden, die ohnehin keine allzu große Gefahrenquelle für uns bedeuten."
Es fühle sich definitiv wie Krieg an, sagt Yedlin. Und es sei "ein Krieg, der an zwei Fronten gekämpft wird". An einer Front kämpfe Israel gegen die Hamas – ein schlimmer Krieg sei das, "aber nichts Neues", seit vielen Jahrzehnten flamme er immer wieder auf. Und wenn keine strategische Lösung gefunden werde, wenn sich nicht grundlegend etwas ändere, sei auch kein Ende in Sicht.

Auf der Straße werden Menschen gelyncht

"Dann gibt es die zweite Front, die interne Front", sagt Yedlin. "Israels Straßen brennen, die Städte im Landesinneren, wo es bisher eine friedliche Koexistenz gab, die Symbole waren für das Zusammenleben, für Solidarität zwischen Palästinensern und Israelis." Dort gebe es nun schlimme Gewalt: "Da werden arabische Menschen und israelischen Menschen auf den Straßen gelyncht von der jeweils anderen Seite. Man kann es wirklich nicht anders nennen. Das sehe ich auch als eine Folge der wirklich schlimmen Vernachlässigung der arabischen Minderheit in Israel."
Jüdische Mehrheit und arabische Minderheit seien die Haupt-Konfliktparteien in Israel. Doch "darüber hinaus gibt es auch noch eine andere Teilung der jüdischen Gesellschaft, eine wachsende Gewalt zwischen Linken und Rechten. Und da sehe ich auch eine Gefahr für einen Krieg innerhalb der Juden selbst", so Yedlin. Der aktuellen Regierung wirft sie vor, die "Spaltung" der israelischen Gesellschaft voranzutreiben.

Die tiefere Bedeutung des Schreibens

Mit anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern sei sie sich einig, dass das Schreiben derzeit Trost bringe, sagt Yedlin. "Das Wichtigste ist, dass das Schreiben nicht nur Dinge sichtbar macht, sondern dass es auch die tiefere Bedeutung dessen zeigt, was es heißt, ein Mensch zu sein. Das Wissen, dass wir Menschen sind, sorgt dafür, dass man andere nicht einfach so als schlecht bezeichnen kann."
"Alle Menschen haben Hoffnungen, darüber schreiben wir", so Yedlin. "Wir sind alle Menschen. Und wenn man über Menschen schreibt oder über Menschen liest, dann ist man nicht mehr so einfach in der Lage, Gewalt als Lösung zu sehen."
Sie hoffe, dass die Lebensarbeit der Schriftsteller nicht vergebens sei, betont sie: "Es ist nicht umsonst, denke ich. Noch hört uns jemand zu, wir schreiben, und wir wissen nicht, wer zuhört. Es erreicht immer irgendjemanden auf der Welt, auch wenn wir im Dunkeln sitzen. Irgendwo wird es ankommen, und am Ende gibt es unserer Arbeit vielleicht ein gewisses Gewicht. Vielleicht erzähle ich das auch nur, um weitermachen zu können. Aber ich glaube wirklich daran."
(mfu)
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