Geschichte ohne Gräuel

21.06.2013
Der New-York-Korrespondent der "Welt", Hannes Stein, schreibt in seinem Roman über die letzten hundert Jahre. Dazu erschafft er eine bessere Welt ohne Völkermord und Kriege. Die Satire allerdings bekommt einen zynischen Ton: Viele unserer heutigen Kunstwerke wären ohne Krieg nicht entstanden.
Die Weltkriege fallen aus, der Erste, der Zweite, der Kalte Krieg entsprechend auch. So geht alternative Geschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus. Hannes Stein, New-York-Korrespondent der "Welt", hat sich die Historie nach sehr eigenen Regeln ausgemalt und siehe da, es ist ein kunstsinniger, lässiger Kosmos herausgekommen, eine Vergangenheit mit Schmäh.

Tatsächlich spielt diese rückwärts gewandte Science-Fiction-Posse in einem Österreich, das weder Hitler noch Haider kennt. Die Welt ist überhaupt eine freundlichere, weil die großen Katastrophen des 20. Jahrhundertes nicht stattgefunden haben, auch Auschwitz nicht. Es gibt dieses Trauma nur als Fantasieszenario. Da träumt einer von der Vernichtung der europäischen Juden, und sein Arzt, ein strammer Freud-Nachfolger, fragt sich, was das nun über die Psyche des Mannes im Besonderen und die Anthropologie im Allgemeinen auszusagen hat. Gibt es womöglich eine unterdrückte Lust an der Vernichtung, einen Todestrieb?

Grundlage für die Geschichtscollage: Der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand hat am 28. Juni 1915 genug vom diplomatischen Parkett. "I bin doch net deppat, i fohr wieder z'haus", sagt er in Sarajewo nach dem ersten Attentat (das zweite, noch am selben Tag, sollte bekanntlich gelingen). Und deshalb eben kein Weltenbrand. Stattdessen: die Donaumonarchie als intakter Vielvölkerstaat mit Wien als exzentrischem Mittelpunkt.

Angst vor einem kleinen Gefreiten mit monströsen Plänen muss hier keiner haben, auch im benachbarten deutschen Kaiserreich pulsiert entsprechend das jüdische Geistesleben. Geflohen nach Amerika ist in dieser Parallelwelt niemand, die Vereinigten Staaten sind kaum mehr als eine Ansammlung von Steppen und Prärien. Lubitsch und Wilder drehen nicht in Kalifornien, sondern zwischen Josefstadt und Berlin.

Wenn Gefahr droht, dann aus dem All: Ein Komet saust auf die Erde zu; die Romanfiguren werden für die Verhinderung der Katastrophe eingespannt: der k.u.k Hofastronom Dudu Gottlieb, seine untreue Gattin, deren Liebhaber, dazu kommen diverse Philosophen, Rabbis und andere Intellektuelle.

Stein spielt die großen Kontroversen des 20. Jahrhunderts mit satirischer Verve durch: Psychoanalyse, Zionismus, Existentialismus, Nihilismus - was die Geistesgeschichte aufzubieten hat, wird diskutiert. Man kann den Roman als gewitzte Einführung in die ideologischen Bewegungen der Moderne lesen.

Nicht zur Sprache bringen kann und darf dieser Text allerdings: Mit der Aussetzung der historischen Gräuel verschwindet auch ein Großteil der modernen kulturellen Imagination im Nichts. Der von Stein entworfene Kosmos ist künstlerisch arm dran. Kafka und Mann, Zweig und Rilke können in dieser Alternativwelt nicht schreiben, Picassos "Guernica" entsteht ebenso wenig wie die Klagegesänge des Blues. Die Frage, ob wir auf solche Kunst zugunsten einer friedvolleren Geschichte verzichten würden, ist zynisch. Aber sie begleitet diesen heiter-klugen Text als düsterer Akkord.

Besprochen von Daniel Haas

Hannes Stein: Der Komet
Galiani Verlag, Berlin 2013
272 Seiten, 19,60 Euro

Links auf dradio.de:

"Vertrackte Form von Heimweh" als Grundidee - Der Schriftsteller Hannes Stein über "Der Komet"
Ein Blick über die Grenzen