Gert Loschütz: "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist"

Der Erinnerung ist nicht zu trauen

07:17 Minuten
Das Cover von Gert Loschützs "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist", zeigt ein jüngere Frau in einem Mantel, die durch eine enge Großstadtgasse ein Fahrrad schiebt.
© Deutschlandradio / Schöffling & Co.

Gert Loschütz

Ballade vom Tag, der nicht vorüber istSchöffling, Frankfurt am Main 2022

202 Seiten

22,00 Euro

Von Edelgard Abenstein · 04.02.2022
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Seine Flucht in den Westen, die Suche nach Heimat und der Verdruss, trotz genauester Aufzeichnungen nie die Wirklichkeit zu fassen: Ein neu aufgelegter Roman von Gert Loschütz verarbeitet alle Themen, die den spätentdeckten Autor beschäftigen.
Es gibt Spätzünder unter den Autoren. Der 1946 geborene Gert Loschütz ist einer. Neben jeder Menge von Hörspielen und Drehbüchern ließen sich seine Romane fast an einer Hand abzählen. Erst in den letzten Jahren machten ihn zwei Bücher einem größeren Publikum bekannt: Die rätselhafte Liebesgeschichte um „Ein schönes Paar“ (2018) und der historische Roman „Besichtigung eines Unglücks“ (2021), in dem es gleichfalls um eine unergründliche Liebe geht.

Eine Flucht als roter Faden

Der neue Roman ist über 30 Jahre alt. Als er kurz nach der Wende erschien, trug er „Flucht“ als Titel - knapp, programmatisch, unsentimental. Heute heißt das Buch poetisch „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“. Wird mit der Wiederauflage, mag man sich fragen, nicht allzu absichtsvoll im Windschatten der jüngsten Erfolge gesegelt?  
Ausgeschlossen ist das nicht, wäre da nicht die Geschichte, die sich offensichtlich als roter Faden durch Loschütz’ Bücher zieht. Sie handelt von der Flucht eines kleinen Jungen Ende der 50er Jahre von Ost- nach Westdeutschland. Und sie verbindet den Autor, der tatsächlich an der Hand seiner Mutter aus dem havelländischen Genthin flüchtete, mit seiner Romanfigur. Als Thema mit Variationen taucht diese Urszene in seinen Büchern immer wieder auf.

Präzise Chronisten, unsichere Augenzeugen

Erzählt wird vom Verlust eines dörflichen Idylls, den das Kind als unheilbaren Verrat durch die heimlich die Flucht planenden Eltern erfährt, von der Ankunft in der unwirtlich düsteren„Schieferstadt“ im Nordhessischen. Weder dort noch sonst irgendwo wird der Ich-Erzähler heimisch werden. Später zieht er als Reiseschriftsteller durch die Welt, nichts hält ihn lange. Auch eine Liebesbeziehung scheitert. Die einzige Konstante in seinem Leben: Immer wenn jener Fluchttag sich jährt, stellt sich zuverlässig ein Unglück ein.
Wie in Loschütz’ anderen Romanen ist der Beruf des Ich-Erzählers kein Zufall. Allesamt notieren sie – mal als Fotograf, mal als Journalist oder Schriftsteller - was sie sehen, zeichnen auf, halten sich genau an die Fakten. Sie erscheinen als präzise Chronisten, und sind doch nur unzuverlässige Augenzeugen. In der „Ballad vom Tag“ ist es die Freundin Vera, an die der Erzähler seine Aufzeichnungen richtet, als wolle er sich der Seriosität seiner Erinnerungen vergewissern.

Bewusst inszenierte Operneffekte

Immer wieder fragt die Skeptikerin, stimmt das wirklich? Natürlich nicht, gibt er zu, wenn der ärgste Feindes aus der Schule Jahrzehnte später zufällig auf einer irischen Insel auftaucht. Der dramaturgische Trick ist entlarvt. Aber natürlich geht es dem Autor, wie es sich für eine Ballade gehört, um dramatische Zuspitzung, um opernhafte Effekte.
Und es geht um Stimmungsbilder. Darin ist Loschütz ganz groß. Hinreißend die leicht dahingetupften Szenen, vom Schlittenfahren in eiskalten Wintern, vom Barfußlaufen durch helle Sommerwiesen, vom Geruch der Kiefern, den weiten Blicken. Träumerisch schön. „Sieh dir alles genau an“, hatte ihm damals die Mutter vor dem Weggehen aufgetragen. Es ist diese sinnliche Prosa, die beim Lesen eine entrückte Kindheit wachruft, ganz egal wo man sie erlebt hat. Es muss nicht unbedingt Genthin sein.
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