Gernot Böhme: „Leib“

Mehr als nur der Körper

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Blick auf den Berliner Stadtteil Marzahn mit vielen Plattenbauhochhäusern. Im Vordergrund ist der Buchtitel "Leib" von Gernot Böhme.
Die Platte als Erlebnisraum: Zur Wahrnehmung von Stadtteilen bedarf es aller Sinne, die dem Körper zur Verfügung stehen. © Suhrkamp / Imago / Peter Meissner
Von Eike Gebhardt · 28.03.2019
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Gernot Böhme nähert sich in der Essaysammlung "Leib. Die Natur, die wir selbst sind" der inneren menschlichen Natur. Doch diese ist in Gefahr. Denn der moderne Mensch verstümmelt durch Selbstoptimierung sein körperliches Sensorium.
Rand- und Grenzgebiete waren schon immer die Vorliebe von Gernot Böhme, mittlerweile emeritierter Professor für Philosophie an der TU Darmstadt. Jene unvermessenen Bereiche, die von der formalen Philosophie allzu oft ignoriert oder gar geschmäht werden.
Gefühle waren und sind ein solcher Bereich, und auch der Körper als Erfahrungsmedium lässt sich kaum wissenschaftlich schlüssig beschreiben. Was nicht bedeutet, dass es den Versuch nicht lohnt. Böhme hat über "Atmosphären" geschrieben, über "Anmutungen" – mentalitätsgeschichtliche Szenarien als Orientierungshilfen für die Gegenwart.

Erfahrung des Lebensumfelds

In seinem jüngsten Buch geht es um den "Leib", den Böhme ausdrücklich vom naturwissenschaftlich erklärbaren "Körper" unterscheidet. Letzterer, wie bei Descartes die Res extensa, sei definiert durch sein räumliches Verhältnis zu anderen Körpern bzw. Dingen. Der Leib hingegen "ist nichts anderes als das ausgedehnte leibliche Spüren" – also das körperliche Sensorium, mit dem wir unser Lebensumfeld erfahren.
"Ausgedehnt", weil dieses "Spüren" nicht nur räumliche Orientierung umfasst, sondern alle Sinne – die klassischen wie Sehen oder Hören ebenso wie kleinteiligere leibliche Empfindungen. Böhme spricht in diesem Zusammenhang von "Leibesinseln", als den Orten, "in denen man sich selbst spürt". Und die wir durchaus auch aus der Alltagssprache kennen:
"Es hat sich eingebürgert, diese Gegenden nach dem relativen Ort, an dem sie sich im körperlichen Leib befinden, zu benennen, etwa nach der Herzgegend, dem Solarplexus, der Brust oder dem Unterbauch usw. (Es gibt hier aber auch eine Beziehung zu den Chakras…)."

Struktur des Raums

Das hat zwar manchmal Anklänge an esoterische Zeitgeistthesen, aber das muss nicht automatisch eine Verwandtschaft mit diesen bedeuten. Mit Recht verweist Böhme z.B. auf Raumerfahrungen, die vom geometrischen Raum unabhängig sind, so etwa "dass man mit Kopfhörern hörend das jeweilige Geräusch räumlich hört, obgleich es ja im physischen Raum nicht stattfindet". Dass also Töne als solche "eine räumliche Qualität haben, nämlich als Strukturierung des leiblichen Raums".
Es gibt mithin Erlebnisräume, die durch unsere Sensorien, die der Autor pauschal mit dem Begriff "Leib" belegt, erschaffen und "strukturiert" werden – und gleichwohl im konkreten physischen Umfeld erfahren und erlebt werden.
Was ein wenig wie ein Kantscher Wahrnehmungsfilter klingt, ist den Sozialwissenschaften freilich längst vertraut: Die gängige Rede von "mental maps" meint, dass wir konkrete Umfelder z.B. bestimmte Stadtteile mithilfe etwa akustischer oder olfaktorischer Signale identifizieren und erleben, d.h. unser passives wie aktives Verhalten entsprechend anpassen.

Wende zur Selbstreflexion

Solche (Erfahrungs-)räume zu schaffen, haben sich die modernen Künste zur Aufgabe gemacht, betont Böhme im zweiten Teil dieser Essaysammlung. Nicht zufällig habe die Moderne die Wende zur Selbstreflexion vollzogen.
"Dass es bei vielen Kunstwerken heute nicht mehr um Bedeutungen geht, sondern um Atmosphären, demonstrieren räumliche Installationen, insbesondere akustische, ferner die ephemere Kunst und Performances. Die genannten Kunstwerke verlangen für ihre Würdigung die leibliche Anwesenheit des Betrachters."
Unüberhörbar die Polemik gegen den grassierenden Selbstoptimierungswahn, der Körper nur als Leistungsträger sieht – und ihnen sozusagen ihren eigenen Leib austreibt.

Gernot Böhme: "Leib. Die Natur, die wir selbst sind"
Berlin, Suhrkamp 2019
196 Seiten, 18 Euro

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