Die Mundhöhle − ein unterschätztes Organ

So erschließen sich Säuglinge die Welt

08:50 Minuten
Ein Baby sitzt auf einem Bett und steckt sich die Finger in den Mund.
Das erste und wichtigste Tastorgan im Leben ist der Mund, sagt Hartmut Böhme. © Imago / PhotoAlto / Laurence Mouton
Hartmut Böhme im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 14.03.2019
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Kein Organ unter vielen, sondern geradezu der Ursprung des Lebens: Das ist die Mundhöhle für den Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme. In der Kunst war sie allerdings lange Zeit ein Unort: Bis in die Moderne blieb dort der Mund fest geschlossen.
Welches ist das wichtigste Tastorgan? Auf diese Frage findet der Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme eine überraschende Antwort: die Mundhöhle.
Alles Leben beginnt im Mund, behauptet er in seinem Buch "Das Orale". Denn mit dem Mund beginne die Welterschließung - noch bevor wir richtig sehen, fokussieren oder überhaupt so etwas wie Objekte unterscheiden können.
"Das fängt am ersten Tag des Geboren-Werdens an, und deswegen ist die Säuglingsforschung eigentlich für die Erkundung dessen, was der Mundraum für uns als Menschen bedeutet, von großer Wichtigkeit", sagte Böhme im Deutschlandfunk Kultur.
Außerdem würden im Mundraum die Laute produziert: "Also etwas, was in uns vorging, nach außen hin für andere in Erscheinung zu bringen."

Ein Unraum der Kunstgeschichte

In der Kunst- und Kulturgeschichte war der Mundraum dem Literaturwissenschaftler zufolge lange Zeit ein "Unraum":
"Deswegen sieht man in der Malereigeschichte auch, dass außer betrunkenen Bauern und verkommenen Subjekten oder allenfalls Sänger, die das Halleluja ausstoßen, der Mund immer geschlossen ist. Niemand lächelt – fast – in der Kunstgeschichte."
Denn der Mund sei als obszöner Ort wahrgenommen worden: "Ein bloßes Loch, eine bloße Negativität, etwas Schwarzes, Geheimmnisvolles, Intimes, und das wird nicht gezeigt."
Erst in neueren Formen der Kunst habe eine Erkundung des Mundraums stattgefunden - bis in dessen Inneres hinein: "Das ist etwas sehr Modernes."
(uko)

Hartmut Böhme ist Kultur- und Literaturwissenschaftler und emeritierter Professor am Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin. 2013 hat er das Buch "Das Orale" herausgegeben, das Erkenntnisse aus Medizin, Literatur, Psychologie und anderen Disziplinen zum Thema versammelt. 2015 erschien von ihm der Band "Das Dentale. Faszination des oralen Systems in Wissenschaft und Kultur" (Quintessenz Verlag 2015, 480 S.,98 €). Derzeit bereitet Böhme eine Ausstellung zum Thema vor, die voraussichtlich nächstes Jahr zu sehen sein wird.

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