Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus

Die Mall als Bühne der Selbstinszenierung

Der Shopping-Tempel "Mall of Berlin" in der Leipziger Straße wurde 2014 eröffnet.
Blick in den 2014 eröffneten Shopping-Tempel "Mall of Berlin" © dpa / picture alliance / Tim Brakemeier
Von Ingo Arend · 20.06.2016
Der Kapitalismus ist offenbar nicht tot zu kriegen, auch wenn seine Gegner noch immer darauf hoffen. Neuerdings, so beschreibt es der Kulturwissenschaftler Gernot Böhme, tritt er in einer ästhetischen Variante auf. Dagegen helfe nur eine Art psychosozialer Widerstand.
"Wollen wir den Kapitalismus verschönern oder die bestehende Gesellschaftsformation überwinden und den Kapitalismus beseitigen?" Die Frage, die das Onlineportal "Scharf links" diskutiert, darf man wohl als rhetorisch verstehen. Für die politische Linke hat sich an der hässlichen Fratze des Systems nichts geändert.
Wenn der Kulturwissenschaftler Gernot Böhme nun nach dem "Ästhetischen Kapitalismus" fragt, geht es ihm weder um dessen ästhetische Ehrenrettung noch um kosmetische Systemchirurgie. Er versteht ihn vielmehr als weitere Entwicklungsetappe einer historischen Gesellschaftsformation. Für den Darmstädter Philosophieprofessor konnte aus dem System, dem schon die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts vergeblich die Totenglocke läutete, deshalb der "fortgeschrittene" Kapitalismus werden, weil er die "Ökonomie der Bedürfnisse" veränderte. Um sein stetiges Wachstum zu sichern, transformierte er den "Konsum zur Lebenserhaltung" zum "Konsum zur Lebenssteigerung". Aus Bedürfnissen wurden "Begehrnisse". Nur sie lassen sich endlos steigern.

Tauschwert einer Ware dominiert inzwischen ihren Gebrauchswert

Unter Begehrnissen versteht Böhme nicht nur Luxus-Konsum wie Kaviar oder Pelzmäntel sondern die schwer bestreitbare Tatsache, dass die "meisten Güter, die wir kaufen, heute nicht zum Gebrauch, sondern zur Ausstattung des Lebens gedacht sind". Dieser "Surplus-Konsum" dient für Böhme in erster Linie dazu, "eine Person, einen Lifestyle, eine Gruppen- und Schichtzugehörigkeit zu inszenieren". Politökonomisch gesprochen dominiere der Tauschwert der Ware inzwischen ihren Gebrauchswert.
Böhmes datiert die "ästhetische Produktion" auf die Mitte der sechziger Jahre. Das spiegelt zwar eine sehr westliche Perspektive. Der Wert seines Buches liegt aber darin, dass er nicht in das kulturkritische Lamento über die Macht des schönen Scheins anstimmt. Sondern den "ästhetischen Kapitalismus" aus seiner ökonomischen Basis herleitet.

Regression der Architektur zur Oberflächengestaltung

Man merkt dem schmalen Band an, dass er eine Sammlung bereits publizierter Aufsätze aus den Jahren 2003 bis 2012 ist. Die Grundthesen des Autors wiederholen sich oft. Seine Deutung der Mall als Bühne der Selbstinszenierung und des "Konsums als Lebensvollzug" ist so wenig neu wie sein Beispiel der in den sechziger Jahren erbauten Frankfurter "Nordweststadt". Überzeugender sind Böhmes Beispiele zur Regression der "Architektur zur Oberflächengestaltung". Lesenswert ist auch, wie er den ästhetischen Kapitalismus in die Theoriegeschichte von Herbert Marcuses "Triebstruktur und Gesellschaft" bis zu Jean Baudrillards "Ökonomie der Zeichen" einbettet.
Um die neueste Variante des Kapitalismus zu überwinden, deutet Böhme eine Art psychosozialen Widerstand an. Sein Rat, mit einer "Haushaltung seiner Bedürfnisse seine Souveränität gegenüber dem Wirtschaftssystem" zurückgewinnen" klingt freilich nach den zwiespältigen Tugenden Askese und Konsumverzicht, mit der die Grünen im Wahlkampf regelmäßig Schiffbruch erleiden. Und dass dem ästhetischen Kapitalismus damit die Schönheit einer gerechten Wirtschaftsform abzuringen wäre, würden die GenossInnen von "Scharf links" vermutlich bezweifeln.

Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus
Suhrkamp, Berlin 2016
160 Seiten, 14,00 Euro

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