Gerichtsmediziner und Krimi-Autor Michael Tsokos

Misshandelte Kinder "haben keine Lobby"

Der Rechtsmediziner Michael Tsokos im Funkhaus von Deutschlandradio Kultur
Der Rechtsmediziner Michael Tsokos im Funkhaus von Deutschlandradio Kultur © Deutschlandradio / Matthias Horn
Michael Tsokos im Gespräch mit Ute Welty · 09.04.2016
Behörden und das Umfeld schreckten häufig vor einem Eingriff in die Familien-Privatsphäre zurück, sagt Gerichtsmediziner und Krimi-Autor Michael Tsokos. Als Botschafter des Deutschen Kindervereins will er gemeinsam mit Sebastian Fitzek für das Tabu-Thema sensibilisieren.
Um Kindesmisshandlung besser vorzubeugen, fordert der Rechtsmediziner und Autor Michael Tsokos mehr Öffentlichkeit für das Thema und die Scheu vor dem Eingreifen zu überwinden. "Unser Aufruf ist, genauer hinzuschauen", sagte Tsokos im Deutschlandradio Kultur. Im Interesse der von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung betroffenen Kinder gelte es, die nachvollziehbare Scheu vor dem Eingriff in die Privatsphäre von Familien zu überwinden.
Tsokos, der am Samstagabend in Berlin gemeinsam mit Bestsellerautor Sebastian Fitzek zu einer Charity-Lesung zugunsten des Deutschen Kindervereins einlädt, will als Botschafter des Vereins Politik und Öffentlichkeit stärker sensibilisieren. Das Thema rutsche immer wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung. Mit misshandelten und toten Kindern, "da haben Sie keine Lobby und da können Sie wenig Politik machen", sagte der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Berliner Universitätsklinik Charité.

Scheu vor Eingriffen in Familienstrukturen

Alarmierende Warnzeichen für Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter oder Ärzte seien blaue Flecken und "geformte Verletzungen", die beispielsweise ein Schuh- oder Fingerabdruckprofil wiedergeben, erklärte der Rechtsmediziner. Aber auch subtilere Zeichen, wie verschmutzte Kleidung oder Karies bei Kleinkindern seien Warnhinweise darauf, dass ein Kind vernachlässigt sein könnte. Um Kinder besser vor Gewalt zu schützen sei die Aufmerksamkeit des direkten Umfeldes essentiell: Hier gelte es besser über Anlaufstellen wie Kinderambulanzen oder Sprechstunden öffentlicher Stellen zu informieren. Es gebe aber auch Hilfsangebote großer Wohnungsbaugesellschaften. Mit seiner Aufklärungskampagne wolle der Deutsche Kinderverein mit Sitz in Essen auch auf Erstanlaufstellen aufmerksam machen.
Gründe für die Scheu vor dem Eingreifen in die Privatsphäre von Familien lägen auch in den Erfahrungen der deutschen Geschichte, sagte Tsokos. Bei staatlichen Stellen wie Jugendämtern herrsche angesichts von zwei früheren Diktaturen mit jeweils erheblichen Eingriffen in familiäre Strukturen oft eine Scheu, in solche Familienstrukturen einzugreifen. Ein derartiges Tabu und Ängste, Grenzen zu überschreiten, bewirkten jedoch ein gut gemeintes Schweigekartell. Dies gelte es zu durchbrechen: "Auch weil ich denke, wir sind es den Kindern, die misshandelt, die missbraucht oder vernachlässigt werden schuldig," erklärte der Autor der Streitschrift "Deutschland misshandelt seine Kinder", der auch gemeinsam mit seinem Co-Autor Andreas Gößling mit einer "True-Crime-Trilogie" als Krimi-Autor in den Bestsellerlisten vertreten ist.

Prof. Dr. Michael Tsokos, Jahrgang 1967, leitet das Institut für Rechtsmedizin der Berliner Charité und das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin. Seit 2014 ist er zudem ärztlicher Leiter der Berliner Gewaltschutzambulanz. 2014 veröffentlichte er gemeinsam mit der Rechtsmedizinerin und Fachärztin Saskia Guddat das Sachbuch "Deutschland misshandelt seine Kinder", in dem die beiden Mediziner drastische Misshandlungsfälle schildern und den deutschen Kinderschutz scharf kritisieren. Neben wissenschaftlicher Fachliteratur schrieb Tsokos drei populäre Sachbücher über Rechtsmedizin. Als Kriminalautor veröffentlichte er 2012 gemeinsam mit Co-Autor Sebastian Fitzek den Thriller "Abgeschnitten". Am 1. April 2016 erschien der zweite Teil seiner gemeinsam mit Andreas Gößling verfassten "True-Crime-Trilogie" mit dem Titel "Zersetzt".


Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Lesen für einen guten Zweck, und zwar für einen sehr guten Zweck: Beststellerautor Michael Tsokos will auf das Problem Kindesmisshandlung aufmerksam machen, und er tut das heute Abend, indem er zusammen mit Sebastian Fitzek zum Charity-Thriller-Abend einlädt zugunsten des Deutschen Kindervereins. Heute Abend trifft also der gute Zweck auf den realen Schrecken sowie auf die literarische Lust am Grusel, denn die Krimis von Sebastian Fitzek sind nichts für schwache Nerven, werden aber millionenfach verkauft, und Michael Tsokos ist eben nicht nur Bestsellerautor, sondern auch Leiter des Institutes für Rechtsmedizin an der Berliner Charité. Guten Morgen, Herr Tsokos!
Michael Tsokos: Schönen guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Sie und Sebastian Fitzek haben schon zusammen geschrieben, Sie haben zusammen gespielt, jetzt lesen Sie gemeinsam, um eben auf misshandelte Kinder aufmerksam zu machen. Was hat Sie genau dazu bewogen, diesen Abend, diese Aktion zu gestalten?

Botschafter des Deutschen Kindervereins

Tsokos: Wir sind beide, sowohl Sebastian als auch ich, Botschafter des Deutschen Kindervereins mit Sitz in Essen und sind von dem Geschäftsführer Rainer Rettinger angesprochen worden. Er hat auch andere prominente Unterstützer, zum Beispiel Andreas Bourani ist auch Botschafter, hat ein Charity-Konzert gegeben, und insofern war das naheliegend, dass wir das, was wir können, nämlich lesen, aus unseren Büchern lesen und die Leute mit Geschichten unterhalten, auch für einen guten Zweck machen.
Welty: Haben Sie nicht Angst vor diesem gewaltigen Spagat, denn trotz dieses ernsten Hintergrundes kommen ja wohl die meisten, um zwei sehr erfolgreiche Autoren zu sehen.
Tsokos: Ja, das Thema Kindesmisshandlung wird auch in der Lesung selbst nicht im Vordergrund stehen. Wir werden natürlich sagen, und die Zuschauer wissen das eigentlich auch, dass die Lesung sämtliche Einnahmen, auch einen Teil der Bucheinnahmen von den Büchern, die verkauft werden, eben dem Deutschen Kinderverein zugutekommen. Das ist also eine Charity-Lesung, aber die Lesung selbst soll unterhalten, eben eine Best-of-Fitzek-und-Tsokos-Lesung, das heißt, wir lesen aus verschiedenen unserer Bücher, aber das Thema Kindesmisshandlung ist in der Lesung selbst außen vorgeklammert. Zum Ende wird noch mal Rainer Rettinger auf die Bühne kommen und ein paar Worte dazu sagen, aber wir wollen natürlich unterhalten, denn Sie haben völlig recht, ansonsten wäre es unheimlicher Spagat: Leute zahlen Eintritt am Samstagabend und werden mit Grausamkeiten konfrontiert. Das muss man eben unterhaltsam verpacken, und das sind dann unsere Thrillergeschichten.
Welty: Wenn es darum geht, vor allen Dingen auch Geld zu sammeln – was kann mit diesem Geld geschehen, wo kann man ansetzen, um Informationen, um Aufklärung zu betreiben?
Tsokos: Der Deutsche Kinderverein ist insbesondere engagiert mit Aufklärungskampagnen überhaupt erst mal auf das Thema aufmerksam zu machen. Der Deutsche Kinderverein versucht die Menschen miteinander zu vernetzen, die in diesen Gebieten tätig sind. Das sind unheimlich viele Organisationen in Deutschland, die aber teilweise gar nicht miteinander vernetzt, nicht in Kontakt sind. Das ist auch eine Aufgabe des Deutschen Kindervereins, Kontakte zu schaffen, aber auch Öffentlichkeitskampagnen insbesondere mit prominenten Gesichtern zu starten.
Welty: Woran liegt das denn, dass das immer noch so sehr notwendig ist? Also wenn ich an 1987 denke, da hat Suzanne Vega die Geschichte von der misshandelten Luca musikalisch umgesetzt, hat sie vertont. Das Thema ist also auf dem Schirm.

Zur Einmischung ermutigen

Tsokos: Ja, aber das Thema rutscht immer wieder, finde ich, unter den Deckel dessen, was in der Öffentlichkeit präsent ist. Gerade das Thema Kindesmisshandlung, was Familien angeht, ist natürlich etwas tatsächlich Privates. Wir haben in Deutschland nun schon zwei Diktaturen hinter uns – die Nazizeit und das DDR-Regime –, und jedes Mal gab es erhebliche Eingriffe in die Familienstrukturen, und da ist natürlich auch die große Gefahr dabei, dass man da eben Grenzen überschreitet, und deshalb hat der Staat, hat die Politik insbesondere auch natürlich Jugendämter und die Institutionen, die eigentlich den Kindern helfen sollen, häufig eine Scheu, da einzugreifen. Unser Aufruf ist, genauer hinzuschauen.

Gut gemeintes Kartell des Schweigens ?

Welty: Das heißt, es hat sich vielleicht sogar im besten Wissen oder mit dem besten Willen ein Kartell des Schweigens gebildet?
Tsokos: Ganz genau, das ist richtig, denn wenn Sie mit toten – das sage ich jetzt als Rechtsmediziner – und misshandelten Kindern …
Welty: Da haben Sie ja Kontakt und Erfahrung.
Tsokos: Ja, und da haben Sie keine Lobby, und da können Sie wenig Politik machen. Das ist ein ganz großes Problem.

Auf Warnhinweise achten

Welty: Auf welche Warnhinweise müssen denn die entsprechenden Stellen achten, also Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter und eben auch Ärzte?
Tsokos: Für mich als Rechtsmediziner steht natürlich die körperliche Misshandlung im Vordergrund. Das heißt also, blaue Flecken an Stellen, die nicht sturztypisch sind, geformte Verletzungen, die zum Beispiel einen Gegenstand wiedergeben wie ein Schuhsohlenprofil, aber auch die Finger einer auseinandergespreizten Hand bei einer Ohrfeige, aber es gibt auch subtilere Zeichen: Kinder, die in schmutzigen, dreckigen Sachen vernachlässigt in die Schule kommen, Karies bei Kleinkindern – das ist jetzt etwas, was man als dental neglect, also Zahnvernachlässigung bezeichnet –, das sind auch alles so Hinweise darauf, dass ein Kind – und Vernachlässigung fällt unter den Kontext Kindesmisshandlung –, dass ein Kind misshandelt sein könnte.
Welty: Wie wichtig ist die Aufmerksamkeit des – ich sage jetzt mal – nicht professionellen Umfelds, also Schulkameraden, Eltern von Schulkameraden, Nachbarn?

Aufmerksamkeit des Umfeldes ist essentiell

Tsokos: Diese Aufmerksamkeit ist essentiell. Es ist sehr wichtig, dass die Umstehenden möglicherweise einen ersten Verdacht haben, einen Eindruck, und dann ist es wichtig, mit öffentlichen Kampagnen darauf aufmerksam zu machen, woran kann man sich wenden, wo gibt es Kinderschutzambulanzen, wo gibt es Beratungsstellen, welche freien Träger stehen mit Sprechstunden zur Verfügung, wo gibt es da auch vielleicht in größeren Wohnungsbaugenossenschaften Kinderschutzzentren, Kinderinseln. Solche Sachen. Das ist auch ein Anliegen von uns mit dem Deutschen Kinderverein, darauf aufmerksam zu machen.
Welty: Können Sie nachvollziehen, dass viele Menschen genau das scheuen, diese Art von Aufmerksamkeit?
Tsokos: Ich kann das absolut nachvollziehen. Das ist ein Eingriff in die Privatsphäre, ein Eingriff in familiäre Strukturen. Ich kann das nachvollziehen, aber ich denke, wir sind des den Kindern, gerade den Kindern, die misshandelt werden, die missbraucht werden, die vernachlässigt werden, den Kindern sind wir es schuldig.
Welty: Rechtsmediziner und Bestsellerautor Michael Tsokos setzt sich für misshandelte Kinder ein, und das tut er unter anderem heute Abend zugunsten des Deutschen Kindervereins zusammen mit Sebastian Fitzek, den manche den deutschen Thrillerkönig nennen. Herr Tsokos, ich danke sehr für dieses Gespräch!
Tsokos: Sehr gerne!
Welty: Und wer die beiden heute Abend erleben will, kann das tun im Steigenberger Hotel am Kanzleramt in Berlin. Um 19 Uhr geht es los.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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