Online-Experten gegen häusliche Gewalt

Von Michael Engel · 09.01.2013
Niedersachsen hat den Kampf gegen häusliche Gewalt auch online aufgenommen. Bei dem bundesweit einmaligen Internetdienst "Forensikon" können Kinderärzte und Internisten Experten um Rat fragen, wenn sie den Verdacht haben, dass ihre Patienten misshandelt wurden.
Pressekonferenz im Verwaltungsgebäude der Zahnärztekammer Niedersachsen. Kameras, Mikrofone, Stative: Es herrscht ein dichtes Gedränge. Ganz vorn, in der ersten Reihe, sitzt die niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan. Rechts und links von ihr zwei Funktionäre der Kammer. Die Ministerin will über "häusliche Gewalt" sprechen und darüber, dass künftig auch die Zahnmediziner genauer hinsehen sollen, wenn bei ihren Patienten Schneidezähne aus unerklärlichen Gründen fehlen:

" ... gebrochene Kiefer, Lockerungen oder Abbrüche von Zähnen heilen nicht von alleine, und früher oder später müssen die Opfer tatsächlich zum Zahnarzt. Sie sind oft die ersten, die den Opfern begegnen, die eben etwas an Gewalt erfahren haben und das auch sichtbar ist."

Die Ministerin für "Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration" hält eine Broschüre in der Hand. "Gemeinsam gegen häusliche Gewalt" - lautet der Titel. Das 22-seitige Heft enthält "Handlungsempfehlungen".


Ortwechsel: Von der Zahnärztekammer sind es nur ein paar Kilometer zur Medizinischen Hochschule Hannover, wo Dr. Urs-Vito Albrecht für das sogenannte "Forensikon" arbeitet.

Das "Forensikon" ist ein Konsiliardienst des Instituts für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover und der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen. Das Angebot wird vor allem von niedergelassenen Medizinern in Anspruch genommen. Wenn die Ärzte ahnen, aber nicht genau wissen, ob die festgestellte Verletzung bei einem Kind vielleicht doch durch Gewalteinwirkung entstanden ist, können sie online via Internet auf die Hilfe der Rechtsmediziner zurück greifen. Urs-Vito Albrecht hat den Dienst entworfen und betreut ihn gemeinsam mit Kollegen.

Dr. Melanie Todt kommt in das Büro. Sie gehört zum Team von insgesamt fünf Rechtsmedizinern, die einen Passwort gesicherten Zugriff auf das Internet basierte "Forensikon" haben. Auf dem Computerbildschirm - im Großformat - erscheint das Portrait eines Mädchens mit roten Striemen im Gesicht.

Urs-Vito: "Und die sollen - laut Angaben der Beteiligten - von einem Gitterbettchen stammen. Und das ist ihrer Meinung nach nicht zwingend schlüssig. Sondern sie meint, dass da tatsächlich auch Kindesmisshandlung im Raum stehen könnte."

Todt: "Ja, also ich sehe auch die streifigen Rötungen im Bereich des rechten Gesichtes und da sieht man ja schon so."

Keine zehn Minuten dauert die Diskussion der beiden Ärzte. Für sie sprechen die Fotos eine eindeutige Sprache. Hier, so die rechtsmedizinische Expertin, ist der vermeintliche Unfall im Gitterbettchen mit den sichtbaren Verletzungen nicht zu vereinbaren. Todt:

"Und man sieht deutliche Ablassungen dieser Hautrötungen, was wir typischerweise sehen, wenn ein Kind oder auch ein Erwachsener einen Schlag mit der flachen Hand in das Gesicht bekommt. Aber, um das wirklich genau zu beurteilen, würde ich vorschlagen, dass wir uns das Kind persönlich einmal anschauen bei uns in der Kinderschutzambulanz, weil aufgrund von Fotomaterial ist es immer schwierig, so eine Beurteilung dann auch zu tätigen."

Zeitnah - in der Regel nur wenigen Stunden nach Eingang der Online-Anfrage - antworten die Experten der Medizinischen Hochschule Hannover. Dr. Urs-Vito Albrecht tippt gerade die E-Mail an die anfragende Kinderärztin, die das Foto von der vierjährigen Patientin in ihrer Praxis gemacht hat:

"Ich habe jetzt die Antwort formuliert für die Kollegin. Auf dem Portraitfoto des Gesichts sind streifige Hautrötungen mit Aussparungen wie Negativabdrücken entsprechend zu erkennen. Aus rechtsmedizinischer Sicht ist dieser Befund eher nicht mit einem Anstoßen an einem Gitterbett vereinbar."

Noch am selben Tag erfährt die Kinderärztin die Stellungnahme der Rechtsmediziner aus Hannover. In der Regel werden Eltern und Kinder noch einmal in die Praxis gebeten, um über die eigentümliche Verletzung des Kindes zu sprechen. Vielleicht gibt es noch eine andere Erklärung, vielleicht zeigen sich die Eltern kooperativ. Was bleibt, ist das Jugendamt - in dramatischen Fällen die Polizei. Todt:

"Das Forensikon ist nur ein Ratgeber, und wenn wir den Verdacht auch bestätigen, es könnte sich hierbei um eine Gewalteinwirkung von fremder Hand handeln, dann ist es in der Sache der Kinderärzte, die Polizei oder das Jugendamt einzuschalten. Und wir werden dann mit einem offiziellen Gutachten beauftragt, dann muss das Kind aber nochmal untersucht werden. Es macht keinen Sinn, Hämatome bei Kindern nach einer Woche zu beurteilen. Da muss alles sehr zeitnah erfolgen."

Die häusliche Gewalt in der Gesellschaft nimmt zu, sagen die Experten in Hannover. Das Forensikon - der rechtsmedizinische Expertenrat per Mausklick - kann nur eine der möglichen Antworten sein.
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