Gerd Koenen: "Die Farbe Rot"

Marx und die Diskrepanz zwischen Theorie und Realität

Cover von Gerd Koenen "Die Farbe Rot", Hintergrund Moskauer Metro-Station der Revolutionshelden
Cover von Gerd Koenen "Die Farbe Rot", Hintergrund Moskauer Metro-Station der Revolutionshelden © Imago / cover C.H.Beck Verlag
Von Jacqueline Boysen · 30.09.2017
Der Historiker Gerd Koenen holt weit aus für seine Kommunismus-Geschichte, startet in der Urgemeinschaft, kommt zum Christentum und landet über die Revolutionen in der Gegenwart. Dabei bietet er Erklärungen für die nicht verblassende Strahlkraft der Ideen von Karl Marx - damals wie heute.
Das Sein bestimmte schon lange vor Karl Marx und Friedrich Engels das Bewusstsein. Gerd Koenen schlägt den großen Bogen der Menschheitsgeschichte und beschreibt Facetten von Armutsbekämpfung, Solidarität und der Suche nach einem gesellschaftlichen Miteinander. Und, er liefert Erklärungen für die nicht verblassende Strahlkraft der von Karl Marx angerührten Farbe Rot in den verschiedenen Epochen.

"Du schließt die Augen und schaust in die Sonne, und durch deine Lider hindurch siehst du die Farbe deines Blutes – ein Karminrot. Dies ist die Farbe deiner leiblichen Existenz." - So elegisch beginnt kein gewöhnliches historisches Sachbuch. Hier wird der Leser hineingezogen in eine persönliche und zugleich doch akademische, eine epische und ganzheitliche Analyse dessen, was wir als leuchtendes Rot am linken Ende des politischen Farbenspektrums kennen:
"Rot ist die Farbe, die dich mit allen anderen Menschen 'kommunistisch' verbindet. Gerade deshalb ist sie aber auch die Farbe der äußersten Gegensätze und der tiefsten Trennungen. Blut bedeutet Leben oder Tod. Und wenn Blutsbande, Blutsbrüderschaften, Blutopfer die intensivsten Verbindungen zwischen den Menschen stiften, so bildet 'eigenes und fremdes Blut' die älteste Schranke. Zugleich ist Rot jene Elementarfarbe, für die es in den meisten Sprachen der Welt von Beginn an ein eigenes Wort gegeben hat, gleich nach Weiß und Schwarz."

Kulturelle Überlegungen theoretisch fassen

Mit elementaren Betrachtungen zur emblematischen Farbe Rot, beginnt Gerd Koenen seinen umfangreichen Band zum "Kommunismus als Weltgeschichte". Schon die Eingangsworte lohnten das Nachdenken, doch der Autor verlangt Aufmerksamkeit für weitere mehr als 1100 Seiten. Auf diesen breitet Gerd Koenen in erfreulich lesbarer Weise mit vielerlei Anekdoten und anhand einer Fülle von Zitaten der Kritiker wie der Klassiker marxschen Denkens aus, was das Faszinierende und Fürchterliche am Kommunismus ist. Der Kommunismus, so Koenens Ausgangsfeststellung, war der erste Versuch, kulturelle Überlieferungen theoretisch zu fassen, seine Vordenker beschworen den "neuen Menschen" und erhoben mit "atheistischem Furor" einen totalitären Gestaltungsanspruch. All dies wirke auch im 21. Jahrhundert fort:
"Hält man sich … an die bekannte Feststellung des Ägyptologen Jan Assmann, wonach das 'kulturelle Gedächtnis' der Menschheit 'über Jahrtausende hinweg' Stoffe speichert und tradiert, dann ist klar, warum wir auch als Bewohner einer 'globalisierten' und 'säkularisierten' Welt unsere religiösen Vorprägungen,… populären Volksmythen und überkommenen Alltagsbräuche nicht einfach abstreifen können, selbst wenn wir das wollten."
Der Philosoph Karl Marx
Der Philosoph Karl Marx© imago stock&people
Koenen beschreibt, dass stärker als die Utopie, stärker auch als Nöte und Bedrängnis, das Bedürfnis gewesen sei, 'sich eine Vorgeschichte auf den Leib zu schreiben, eine Tradition zu erfinden, in der man zuhause sein würde', eine ideologische Wärmestube. Der 1944 in Marburg geborene Historiker weiß, wovon er schreibt, denn auch er war einst überzeugtes Mitglied des SDS und des straff maoistischen Kommunistischen Bunds Westdeutschlands – als junger Genosse träumte er, wie er selbst später formulierte, einen "Kindertraum vom Kommunismus". Aus diesem erwachte er nach eigenem Bekunden 1982, aufgeschreckt und hitzig bekehrt durch die Beschäftigung mit der polnischen Solidarnosc. Auf die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts datiert Koenen denn auch den Höhepunkt des roten Zeitalters, das er beschreibt:
"Der Zenit der sozialistischen Weltbewegung, war im Jahr 1980 ungefähr. Zweiundzwanzig Volksrepubliken in der Welt, Äthiopien usw., das war alles plötzlich weg. Das muss man als Historiker erstmal konstatieren. Das andere ist, dass natürlich die Kommunistische Partei Chinas nach wie vor an der Macht ist."

Die Strahlkraft der Farbe Rot

Der Historiker umkreist in großen Linien Urgemeinschaft und Christentum oder auch die gewaltsamen vormarxistischen Revolutionen – das Sein bestimmte schließlich schon lange bevor Karl Marx und Friedrich Engels die Welterklärung um den historischen Materialismus bereicherten das Bewusstsein.
Der Autor lässt dem Leser viel Raum für die eigene Deutung der beschriebenen Wirkmächte in der bürgerlichen und der sozialistischen Gesellschaft. Und er gibt immer wieder Erklärungen für die nicht verblassende Strahlkraft der von Karl Marx angerührten Farbe Rot in den verschiedenen Epochen.

Zwischen Ideal und Zerstörungskraft

Koenen liefert eine anregende und bisweilen aufregende Ideengeschichte, die schließlich das "Ur-chaos der Russischen Revolution" beschreibt, die Weltkriege, die Teilung der Welt im Kalten Krieg, der bekanntlich auch ein "Heißer" war, bis hin zum ambivalenten chinesischen Sonderfall – einem Kommunismus, der zugleich Katalysator ist für einen entfesselten Kapitalismus. Vor allem vermisst er streng die Diskrepanz zwischen Theorie und Realität, zwischen dem Ideal einer gerechteren Welt und der Zerstörungskraft einer politischen Ideologie, die stets den Kampf mit anderen Denkschulen führt, denen sie sich a priori überlegen glaubt.
Josef Stalin
In Russland huldigt man heute wieder Josef Stalin© picture-alliance / dpa
Der Gegenwart, China und den post-kommunistischen Systemen widmet der Historiker eine differenzierte Analyse. Dass im staatsoffiziellen Geschichtsbild Russlands heute dem Diktator Stalin erneut gehuldigt wird, erklärt er dabei ebenso ausführlich wie den Rückfall in autoritäre Strukturen in ehemals unfreien Ländern. Die Menschen seien mit der vor einem Vierteljahrhundert gewonnenen Freiheit überfordert.
"Das ist eine Denkform, dass der Staat, der fürsorgliche Staat, der patriarchalische Staat, der nationale Staat letztlich auch alles richten soll, die nicht nur Kommunisten gehabt haben. Und wenn Sie auf den Auseinanderfall der Sowjetunion scheuen, dann ist es doch kein Zufall, dass in praktisch allen Republiken, in die das Land zerfallen ist, erst einmal die Führer und in vielen Fällen bis heute die alten Parteichefs waren. … Die konnten das System austauschen. Sie machen sich jetzt plötzlich zu Vätern der Nation. Und dann funktioniert dasselbe Versprechen auf einer nationalen Ebene: 'Wir sind der fürsorgliche, nationale Staat, der für Euch alle sorgt.' Also kann das sowjetische und kommunistische Denken sich auch plötzlich in ein nationalreligiöses Denken übersetzen."
Damit beschreibt der Historiker Prägungen, die bis heute fortwirken – und auch in der stabilen Demokratie in Deutschland inzwischen zu unübersehbaren politischen Verwerfungen geführt haben. Doch so wichtig Erklärungsmuster für das Verständnis komplexer Zusammenhänge, die sich nicht einfach bei Google finden, sind und so reich die Weltgeschichte an Schattierungen der wichtigen Farbe Rot ist – bisweilen blendet die schiere Fülle des aufgehäuften Materials den Leser.
An Strahlkraft hätte die vorgelegte Universalgeschichte nicht eingebüßt, wenn Gerd Koenen seinen Text gestrafft hätte. Sein abschließender Appell wäre auch dann noch einleuchtend: Wisst um die Vergangenheit und bewahrt den offenen Blick auf die Gegenwart.

Gerd Koenen: "Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus."
C.H. Beck, München, 2017
1133 Seiten, 38 Euro

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