Die verpasste Jahrhundertchance
Als die Februarrevolution das Regime von Zar Nikolai II. stürzte, schien der Sieg der Demokratie in Russland sicher. Aber die Revolution endete nach einem halben Jahr im Chaos und schließlich in Lenins Putsch und der staatssozialistischen Diktatur. Hätten die Revolutionäre des Februars sich nicht selbst diskreditiert, würde Russland heute vielleicht auf 100 Jahre Demokratie zurückblicken.
Prof. Manfred Hildermeier: "Erst die Februarrevolution hat eine liberale parlamentarische Demokratie auf den Weg gebracht."
Prof. Andreas Kappeler: "Ich meine, dass sowohl Ukrainer wie Russen allen Anlass hätten, das Jubiläum zu begehen - den Zusammenbruch der zarischen Zentralmacht, die Gleichberechtigung der Nationalitäten, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat."
Auf dem Marsowo Polje - einem großen Platz im Zentrum von Sankt Petersburg - brennt eine "ewige Flamme". Sie erinnert an jene Revolution, die die Zarenherrschaft überwand und Russland die Tür öffnete für eine demokratische Zukunft. Die "ewige Flamme" des 1919 errichteten Denkmals brennt über den Gräbern von Demonstranten, die in der Februarrevolution 1917 gestorben sind.
Manfred Hildermeier: "Nach 1991, nach dem Untergang der Sowjetunion, hatte die Februarrevolution Konjunktur. Da suchte das neue demokratische Russland nach einer 'vorzeigbaren Geschichte'. Seit der Jahrtausendwende ist das in den Hintergrund getreten. Es ist einfach still darum geworden."
Prof. Manfred Hildermeier von der Universität Göttingen ist einer der profiliertesten deutschen Osteuropahistoriker.
Andreas Kappeler: "Ich bin überrascht, dass offensichtlich keine großen Feiern geplant sind - weder in der Ukraine noch in Russland. Ich erkläre mir das so, dass das Putinsche Regime allgemein gegen Revolutionen, gegen den Sturz von Regierungen und Präsidenten ist. Deswegen, glaube ich, wird die demokratische Februarrevolution auch nicht gefeiert. Weil Werte wie Demokratie und Rechtsstaat im heutigen Russland nicht hoch im Kurs stehen."
Der Historiker Prof. Andreas Kappeler von der Universität Wien gehört zu den bekanntesten Experten für Nationalitätenkonflikte in Russland und der Sowjetunion.
Andreas Kappeler: "In der Ukraine: Man erinnert sich vor allem an die nationale Revolution, an den unabhängigen Staat der Jahre 1918 bis 1921, die sogenannte Ukrainische Volksrepublik, die man als Vorläufer des heutigen Staates sieht."
Der Zar verweigerte sich allen Reformen
Russland: Das Reich von Zar Nikolai II. war einer der despotischsten Staaten des damaligen Europa. Die alte Elite verweigerte sich allen Reformen. Zu ihr gehörten - außer der Herrscherfamilie - mehrere zehntausend adlige Großgrundbesitzer und die führenden Vertreter von Bürokratie und Militär. Der Zar - seit 1894 an der Macht - war eine Persönlichkeit ohne Ausstrahlung, träge und überfordert.
Der größte Teil der Bevölkerung lebte in elenden Verhältnissen. Besonders schlecht erging es den ethnischen Minderheiten, die über die Hälfte der Untertanen ausmachten - etwa in der Ukraine, im Kaukasus, den baltischen Ländern, in Zentralasien.
Andreas Kappeler: "Schließlich kam es zu einer Russifizierung, einer sprachlichen Russifizierung gegenüber einigen Nationalitäten im Westen. In der Ukraine gab es keine einzige ukrainisch-sprachige Schule vor Februar 1917."
Während weite Teile Europas nach der Französischen Revolution die mittelalterliche Leibeigenschaft überwanden, rang sich der russische Zar erst 1861 zu einer Aufhebung der Leibeigenschaft durch.
Letztlich blieb es eine halbherzige Reform. Die Bauern - über drei Viertel der Bevölkerung - lebten ein halbes Jahrhundert später überwiegend noch in bitterer Armut und demütigender Abhängigkeit von Gutsbesitzern und Staat. Die Stahlwerker, Weberinnen oder Bergleute zwischen Riga und Irkutsk waren erbärmlichen Löhnen, gefährlichen Arbeitsbedingungen und diktatorischer Disziplin ausgeliefert. Das aufstrebende städtische Bürgertum blickte unzufrieden auf die Vorrechte des Adels.
Manfred Hildermeier: "Die bürgerlichen Eliten hatten ja in dem Staat nichts zu sagen, es gab ja keine Volksvertretung, sodass sich große Teile der bürgerlichen Eliten der liberalen Bewegung angeschlossen haben."
An der Wende zum 20. Jahrhundert entstanden - meist im Untergrund - oppositionelle Parteien, Gewerkschaften, eine kritische Presse. Unternehmer, Rechtsanwälte, Lehrer wandten sich liberalen Parteien zu, vor allem den "Konstitutionellen Demokraten" - nach der Abkürzung KD auch "kadety / Kadetten" genannt.
Die Bauern unterstützten überwiegend die gemäßigte Linke - etwa die "Partei der Sozialrevolutionäre". Die trat für die Durchsetzung einer jahrhundertealten Forderung ein:
"Das Land dem, der es bearbeitet!"
Unter den Fabrikarbeitern in dem noch schwach industrialisierten Russland hatten die marxistischen Sozialdemokraten den größten Zulauf. Die aber spalteten sich schon 1903 in zwei Strömungen auf: die Menschewiki, denen parteiinterne Demokratie wichtig war, und die radikaleren Bolschewiki, die auf zentralistische Organisationsformen setzten.
Am 9. Januar 1905 schossen Soldaten in der damaligen Hauptstadt Sankt Petersburg in eine friedliche Massendemonstration und töten weit über hundert Demonstranten. Nach diesem sogenannten "Petersburger Blutsonntag" erschütterten monatelange Unruhen das Reich und brachten die Zarenherrschaft an den Rand des Zusammenbruchs.
Schließlich war die Regierung des Zaren im Oktober 1905 zu Zugeständnissen bereit. Nur scheinbar hatte die revolutionäre Bewegung ein zentrales Ziel erreicht:
Manfred Hildermeier: "Das Ziel war eine Volksvertretung - ein Parlament. Das wurde auch erreicht - allerdings hatte es nicht allzu viele Rechte."
Immerhin, so Andreas Kappeler:
"In der Revolution von 1905 erzwangen die Aufständischen eine Demokratisierung - auch Freiheiten und Rechte für die Nationalitäten wurden verkündet."
Der Zar hatte 1905 unter dem Druck der revolutionären Bewegung Zugeständnisse gemacht, mit der Duma als gewähltem Parlament. Als sich die Lage jedoch stabilisierte, wurden die Reformen wieder zurückgedreht, Schwäche und Uneinigkeit der liberalen und linken Opposition verhinderten entschlossenen Widerstand. Den Repressalien des Staates fielen tausende, wahrscheinlich zehntausende Menschen zum Opfer.
Weltkrieg lenkt von gesellschaftlichen Verwerfungen ab
Wenige Jahre später trugen die imperialen Ansprüche des Zarenregimes zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bei. Der Krieg Russlands gegen Deutschland und Österreich-Ungarn und die Türkei 1914 war das Ergebnis internationaler Spannungen; zugleich bot er die Gelegenheit, von den Verwerfungen in der russischen Gesellschaft abzulenken.
Das liberale Bürgertum teilte die Großmachtziele, unerwartet arbeitete aber auch die Mehrheit der Linken mit der Regierung zusammen – "zur Verteidigung des Vaterlandes", wie man öffentlich bekundete. Ähnlich wie in Deutschland: der Nationalismus war stärker als der jahrzehntelang beschworene "Internationalismus" der Arbeiterbewegung.
"Dieser Krieg ist ein Eroberungskrieg. Die Kapitalisten aller Länder führen ihn zur Steigerung ihrer Profite. Dem werktätigen Volk wird dieser Krieg nichts als Vernichtung und Grauen bringen."
So kompromisslos verurteilte nur eine Partei den Krieg - die Bolschewiki um die "Berufsrevolutionäre" Wladimir Iljitsch Lenin, Lew Kamenew und Grigorij Sinowjew. Sie forderten, stattdessen solle von Sankt Petersburg bis Berlin, Paris und London ein Bürgerkrieg gegen die reaktionäre Elite des eigenen Landes beginnen. Diese Aufrufe aus dem Untergrund verhallten lange ungehört.
Aber der Krieg brachte das Regime des Zaren in wachsende Bedrängnis. Die russische Armee erlitt katastrophale Niederlagen und geriet zeitweilig an den Rand der Auflösung. Zudem hatte 1915 der militärisch fast ahnungslose Herrscher den Oberbefehl übernommen.
Manfred Hildermeier: "Das war eine höchst unglückliche Entscheidung, die er da getroffen hat, denn damit hat er die Verantwortung übernommen für mögliche Niederlagen. "
Auch Korruption und Misswirtschaft in der Zarenregierung führten zum Zerwürfnis mit Linken, Liberalen und gemäßigten Konservativen.
Für Empörung sorgte schließlich die Affäre um den okkultistischen "Heiler" Grigorij Rasputin, der Einfluss auf Nikolai II. gewonnen hatte. Adlige Verschwörer ermordeten Rasputin. 1916 schrieb der angesehene liberale Politiker Georgij Lwow an den Zaren:
"Für den Sieg im Krieg vergaß das Volk seine Unterdrückung. Aber die Entfremdung zwischen der Regierung und dem Volk ist gefährlich, verhängnisvoll."
Es kam zu Unruhen unter den Frontsoldaten, angesichts von Hunger und Inflation auch unter der städtischen Bevölkerung. An den Protestaktionen beteiligten sich auffallend viele Fabrikarbeiterinnen. Soldaten weigerten sich, auf Streikende zu schießen. Wachsende Vorbehalte gegen Nikolai II. - aus ganz anderen Gründen - gab es auch unter der Militärführung:
Manfred Hildermeier: "Die hat seit 1916 erkannt, dass mit diesem Zaren das Land nicht zu mobilisieren war - und dass das Voraussetzung war, um den Krieg noch zu gewinnen."
Anfang 1917 hatte der Zar jeden Rückhalt verloren.
"In allen Fabriken Petrograds" - wie St. Petersburg seit Kriegsbeginn russifizierend hieß – "haben die Anhänger des Streiks die Oberhand gewonnen. Um zwei Uhr mittags begannen an vielen Stellen Unruhen, die von Soldaten angezettelt wurden. Haufen von Menschen zogen durch die Straßen und schrien 'Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Polizei!'. Vor allem die massenhafte Beteiligung von Offizieren an den Demonstrationen zog Aufmerksamkeit auf sich."
Arbeiterfrauen zetteln eine Revolte an
Das stand in einem Bericht der Geheimpolizei vom 13. Februar 1917. Zehn Tage später zettelten Arbeiterfrauen eines Armenviertels Petrograds eine Revolte an, die sich umgehend mit Streikbewegungen der Fabrikarbeiter verband und zu einer revolutionären Bewegung auftürmte.
Dieser Tag, der 23. Februar nach dem damals in Russland noch geltenden Julianischen Kalender, der 8. März nach dem heutigen Gregorianischen Kalender, gilt als Beginn der Februarrevolution. Auch in anderen Großstädten kam es zu Straßenkämpfen. Am 27. Februar schickte der Kommandant von Petrograd ein Telegramm an das Hauptquartier:
"Die Mehrheit der Truppen hat den Gehorsam verweigert und will nicht gegen die Aufständischen kämpfen."
Die Führung der Protestbewegung übernahmen - zögernd, von den Ereignissen überrascht - die linksliberale Partei der "Konstitutionellen Demokraten", der "kadety", und die "Sozialrevolutionäre". Die Bolschewiki spielten zunächst kaum eine Rolle.
Zar Nikolai wollte gewaltsam eingreifen, aber manövrierte sich selbst ins Aus.
Manfred Hildermeier: "Als die Streiks zum Sturz des Regimes führten, da hat ihn die Eisenbahnergewerkschaft, als er versuchte, mit einem Sonderzug zurück nach Petrograd zu kommen, auf einem Gleis abgestellt."
Demokratische Politiker und hohe Militärs drängten den Zaren zur Aufgabe. Er versuchte noch, einen seiner Brüder als Nachfolger durchzusetzen - dieser lehnte jedoch ab. Am 3. März unterzeichnete Nikolai II. die Abdankungsurkunde. Die Monarchie war am Ende.
Die genaue Zahl der Toten in der Februarrevolution ist nicht bekannt. Wahrscheinlich waren es mehrere Tausend - auf jeden Fall waren es wesentlich weniger als in der gescheiterten Revolution von 1905.
Der Schriftsteller Konstantin Paustowski hielt sich in einer Kleinstadt auf, als die Nachricht vom Sturz des Zaren sich verbreitete:
"Um ein Uhr nachts begannen die Glocken aller Kirchen der Stadt und der Umgebung zu läuten. In den Fenstern flammten Lampen auf. Die Straßen füllten sich mit Einwohnern. Unbekannte fielen einander weinend in die Arme."
Das Tor zur Demokratie war geöffnet
Russland war erlöst von der Zarenherrschaft. Das Bürgertum wollte Mitgestaltung der politischen Verhältnisse, die bäuerliche Mehrheit hoffte auf eine gerechtere Verteilung des Landes und auf die Überwindung der Armut. Das Tor zur Demokratie und zu einer wirtschaftlichen Entwicklung des Landes wie in Westeuropa war geöffnet.
Manfred Hildermeier: "In der Februarrevolution hat sich ein Komitee des Parlaments gebildet und hat, als der Zar abtrat, die Macht übernommen. Es gab ja noch die Duma, das Parlament - es ist eine Vertretung der bürgerlich-städtischen und adligen Elite gewesen."
Auch wenn die Duma - 1912 gewählt - kein demokratisches Parlament war, waren in ihr doch oppositionelle Abgeordnete vertreten. In einem Telegramm wandte sich der Duma-Präsident am 1. März 1917 an die Armeeführung:
"Das Komitee von Mitgliedern der Duma teilt Euer Exzellenz mit, dass der gesamte Ministerrat abgesetzt und die Regierungsgewalt auf das Komitee übergegangen ist."
Georgij Lwow, ein nachdenklicher und zugleich energischer Politiker, führte die neue Provisorische Regierung aus Liberalen und gemäßigt Konservativen. Einziger Vertreter der Linken - zuerst Justizminister, dann Kriegsminister - war der Sozialrevolutionär Aleksandr Kerenski, ein populärer Rechtsanwalt.
Die Provisorische Regierung versprach freie Wahlen, sie garantierte grundlegende demokratische Rechte - die Freiheit der politischen und gewerkschaftlichen Organisation und der Presse, die Unabhängigkeit der Justiz, das Wahlrecht für Frauen, die Gleichberechtigung der ethnischen und religiösen Minderheiten. Das war mehr, als die meisten europäischen Demokratien und die USA damals erreicht hatten.
Einflussreichste Partei in den Monaten nach der Februarrevolution wurden die Sozialrevolutionäre, die vor allem die Landbevölkerung vertraten und auf eine Art bäuerlichen Sozialismus setzten.
Eine wichtige Rolle spielten zunächst auch die "Konstitutionellen Demokraten". In Opposition zur Provisorischen Regierung standen - außer den geschwächten Rechtsaußen-Parteien - die marxistischen Bolschewiki.
Die demokratischen Parteien waren sich einig über weitreichende soziale Reformen nach den Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung. Dann sollte das Land der Großgrundbesitzer an die vielen Millionen Kleinbauern und Landarbeiter verteilt werden - umstritten zwischen Liberalen und Linken war die Höhe der Entschädigungen.
Aufschwung der nationalen Kulturen
Die Industriearbeiter erwarteten Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen. Das war nicht alles. Der Historiker Andreas Kappeler:
"Obwohl die Russen weniger als die Hälfte der Bevölkerung des Imperiums stellten, war die Februarrevolution eine russische Revolution. Die nichtrussischen Nationalitäten reagierten aber auf die Revolution, sie nutzten den neuen Spielraum, den ihnen die demokratische Republik bot.
Es entstand nach der Februarrevolution - wie schon in der Revolution von 1905 - sehr schnell eine nationale, muttersprachliche Presse und nationale Parteien, ein Aufschwung der nationalen Kulturen. Schon eine Woche nach der Revolution trat in Kiew eine Art Vorparlament zusammen, die Zentral-Rada. Sie forderte für die Ukraine eine Autonomie im Rahmen eines föderativ gegliederten russischen Staates."
Das war eine Hypothek für die Februarrevolution. In die Erwartung sozialer und demokratischer Reformen mischten sich sofort Forderungen nach nationaler Autonomie, teilweise auch nach staatlicher Unabhängigkeit – ähnlich wie in der untergehenden Sowjetunion um 1990.
Die entscheidende Frage für die Bevölkerung war aber die Fortsetzung oder Beendigung des Kriegs. In Worten waren alle demokratischen Parteien für einen raschen Frieden. Tatsächlich setzten die Politiker um Lwow und Kerenski jedoch den Krieg fort.
Die Provisorische Regierung besaß - wie das Duma-Komitee - kein eindeutiges demokratisches Mandat. Gleichzeitig wählten Soldaten, Arbeiter, manchmal auch Bauern - wie in der Revolution von 1905 - "Räte", "Sowjets". Die bürgerlichen Schichten beteiligten sich gewöhnlich nicht. Räte gab es längst nicht überall, die Abstimmungen verliefen oft chaotisch. Die Linke war gewöhnlich in der Mehrheit.
Manfred Hildermeier: "Die Räte haben sich als basisdemokratisch verstanden. Alle Entscheidungen der Provisorischen Regierung sind zwischen der Duma und dem Arbeiter- und Soldatenrat abgesprochen worden."
Auf die Mitte-Rechts-Koalition folgte im Mai eine Mitte-Links-Regierung, wieder unter der Leitung von Georgij Lwow. Mehrere Minister gehörten zu zwei großen linken Parteien - den Sozialrevolutionären und den Menschewiki, die wie die Bolschewiki aus der Sozialdemokratischen Partei hervorgegangen waren.
Keine Verbesserung der Lebensverhältnisse
Als Spannungen zwischen Liberalen und Linken wegen der Gestaltung der Agrarreform zunahmen, trat Lwow im Juli zurück. Auf ihn folgte der temperamentvolle, oft theatralisch wirkende Sozialrevolutionär Aleksandr Kerenski als Ministerpräsident. Seine Regierung führte den Krieg mit noch gesteigerter Intensität fort – eine verhängnisvolle Entscheidung.
Denn die Fortsetzung des Krieges untergrub das Vertrauen in die neue Regierung. Die Lebensverhältnisse verbesserten sich nicht. Auch nach dem Sturz des Zaren herrschten Krieg, Hunger und Verzweiflung. Die Bauern warteten auf die Landreform, die Landreform sollte aber erst nach den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung durchgeführt werden, und die Wahlen wurden mit Verweis auf die dramatischen Ereignisse an der Front aufgeschoben.
So verspielten die Revolutionäre des "ruhmreichen Februar" innerhalb weniger Monate ihren Kredit und damit die Chancen, eine liberale Demokratie aufzubauen. Historiker Manfred Hildermeier urteilt über die Provisorische Regierung so:
"Sie hat die Erwartungen nicht erfüllt. Sie hat nicht begriffen, dass ihr die Zeit davonlief."
In der Bevölkerung verloren im Sommer 1917 gerade die Liberalen und die Menschewiki an Unterstützung. Stattdessen gewann die äußerste Linke an Einfluss, die einen Waffenstillstand und die rasche Aufteilung des Großgrundbesitzes an die Bauern auf die Tagesordnung setzte. Außerdem, so Andreas Kappeler:
"Die Bolschewiki haben früh die Bedeutung der Nationalitätenfrage erkannt. Schon 1903 stand im Parteiprogramm das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten bis hin zur Lostrennung von Russland. Das erwies sich nach dem Februar 1917 als zugkräftige Parole, um die Unterstützung eines Teils der Nationalitäten zu gewinnen."
Radikale Linke erlangt Mehrheit in den Sowjets
Die Mitgliederzahl der Bolschewiki stieg in wenigen Monaten von zehntausend auf mehr als zweihunderttausend. Über die autoritären Politikvorstellungen der Partei und ihres entschlossenen Wortführers Wladimir Iljitsch Lenin sahen viele hinweg. In vielen Sowjets und im "Gesamtrussischen Kongress der Räte" erlangte die radikale Linke die Mehrheit. Ihre Vertreter kritisierten die Regierung Kerenski immer schroffer. Soldatenräte stellten die Befehlsgewalt der Offiziere in Frage.
An der Kriegsfront scheiterte Kerenskis neue "Durchbruchsoffensive" gegen die deutschen und österreichischen Armeen im Sommer 1917. Hunderttausende Soldaten meuterten und verließen ihre Einheiten. Massenhinrichtungen von Meuterern lösten Empörung aus. Streiks und gewaltsame Land- und Fabrikbesetzungen nahmen zu.
Außerdem flackerten in einigen Regionen ethnische Konflikte auf - vor allem in der Ukraine und in Finnland, das seit 1809 zum Zarenreich gehörte.
Im Juli kam es in Petrograd zu einem seltsam planlosen Aufstand der äußersten Linken gegen die Provisorische Regierung, der rasch zusammenbrach. Die bolschewistische Politikerin Aleksandra Kollontai schrieb:
"Der Aufstand war spontan, gegen den Willen der Partei, ausgebrochen. Dennoch stand er, von Arbeitern, Matrosen und Soldaten organisiert, ganz unter bolschewistischen Parolen."
Militärrevolte bedroht Regierung
Die Lage wurde immer unübersichtlicher. Der von Kerenski ernannte Oberbefehlshaber, General Kornilow, organisierte im August eine Militärrevolte - schon zuvor hatte er ein Verbot der Räte gefordert. Wollte er selbst eine Diktatur errichten oder nur den Ministerpräsidenten zu einer "rechteren" Politik drängen? Das blieb unklar. Auf jeden Fall bedrohte seine Militärrevolte die Februarrevolution.
Den Vormarsch Kornilows auf die Hauptstadt hielten aber nicht so sehr Truppen der Revolutionsregierung auf, sondern "Rote Garden", die Befehlen der Soldatenräte folgten. Dennoch - oder vielleicht gerade deswegen - löste sich Kerenski endgültig von den Räten. Und nicht nur das – die Februarrevolution wurde nun auch von denen in Frage gestellt, die sie eigentlich mittrugen:
Manfred Hildermeier: "Es gab bei den Liberalen, die ja nach wie vor in der Koalition vertreten waren, durchaus Tendenzen zur vorübergehenden Errichtung einer Art Militärdiktatur."
Gleichzeitig näherte sich die breite linke Strömung innerhalb der Sozialrevolutionäre - Kerenskis Partei - den Bolschewiki an. Der Petrograder Sowjet griff am 25. September die Provisorische Regierung offen an:
"Dieser Regierung der bürgerlicher Herrschaft und der konterrevolutionären Gewalt werden wir, die Arbeiter und die Garnison von Petrograd, die Unterstützung verweigern."
Im Frühherbst 1917 war klar, dass die Regierung gleichsam in der Luft hing. Die Liberalen und die gemäßigte Linke waren diskreditiert - durch die Fortsetzung des Krieges und schließlich durch das Spiel mit der Diktatur. Diese Schwäche nutzten ihre radikalen Gegner, um die Provisorische Regierung zu stürzen.
Gerd Koenen: "Lenin war ja anders als Trotzki kein Redner, der sich unmittelbar an die Massen wandte. Er wandte sich immer an seinen Parteikader. Das ist das Geheimnis, wie so jemand, der so ganz im Rahmen seiner Partei und seines Parteikaders lebte, den immer wieder instruierte, aufbaute, so eine Führerrolle übernehmen konnte."
Sagt der Historiker Gerd Koenen. Mit Lenin, dem überragenden Strategen, und Trotzki, der als Redner Massen mitreißen konnte, hatten die Bolschewiki zwei charismatische Führungsfiguren. Auf einem Treffen des Zentralkomitees am 10. Oktober in Petrograd setzten sie durch, dass die Regierung Kerenski gewaltsam beseitigt werden sollte.
Sturm auf das Winterpalais
Am 25. und 26. Oktober besetzten die Truppen der "Roten" alle strategischen Punkte in Petrograd und stürmten das Winterpalais, in das sich die Regierung zurückgezogen hatte.
Ministerpräsident Kerenski konnte fliehen. Trotzki notierte lakonisch:
"Alle wichtigen Punkte der Hauptstadt gehen in unsere Hände über, fast ohne Widerstand, ohne Kampf, ohne Opfer."
Zusammen mit den Linken Sozialrevolutionären bildeten die Bolschewiki um Lenin und Trotzki eine neue Regierung, den sogenannten Rat der Volkskommissare. Sie erhielten auch die Unterstützung des "Gesamtrussischen Kongresses der Räte". Die Ereignisse wurden später in der Sowjetunion als "Morgenröte der Menschheit" verklärt.
Manfred Hildermeier: "Nur einige scharfsichtige Beobachter und Journalisten haben vielleicht gesehen, worauf das hinauslief."
Resümiert der Historiker Manfred Hildermeier. Der "Rote Oktober" markierte eine welthistorische Zäsur, die von den Zeitgenossen kaum wahrgenommen wurde. Die Bolschewikin Aleksandra Kollontai, im Rat der Volkskommissare für Soziales zuständig, erinnerte sich an einen der Tage nach dem gewaltsamen Umsturz so:
"Ich hatte gedacht, ganz Petrograd würde feiern. Doch die Menschen kümmern sich an diesem trüben nassen Herbstmorgen gleichgültig um die kleinen Dinge des Alltags. Der eine hastet zur Arbeit, der andere stellt sich nach Lebensmitteln an. An manchen Häuserwänden hängt ein kleines unauffälliges Blatt Papier mit dem ersten Beschluss der Sowjetregierung. Die Passanten eilen vorüber, nehmen das Papier nicht wahr."
Es gab einen von den Menschewiki organisierten Streik der Eisenbahner gegen den Umsturz. Kerenskis Versuche, militärisch gegen die neue Regierung vorzugehen, schlugen fehl - die Soldaten gehorchten nicht mehr seinen Befehlen.
Der Rat der Volkskommissare - wie die Provisorische Regierung von niemandem gewählt - und der Rätekongress fassten sofort radikale Beschlüsse:
"Die Sowjetmacht wird allen Völkern den sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten vorschlagen. Sie wird die entschädigungslose Übergabe des Gutsbesitzes an die Bauernkomitees sicherstellen. Sie wird die Arbeiterkontrolle über die Industrie einführen. Sie wird allen in Russland lebenden Völkern das Recht auf Selbstbestimmung sichern."
Bolschewiki lösen verfassungsgebende Versammlung auf
Im November 1917 fanden - noch durchaus freie - Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung statt. Stärkste Partei wurden mit 49% der Stimmen die - untereinander heftig zerstrittenen - Sozialrevolutionäre. Die Bolschewiki erhielten 24%. Fast die Hälfte der sozialrevolutionären Abgeordneten arbeitete mit den Bolschewiki zusammen. Die Konstitutionellen Demokraten fanden sich - mit nur noch 5% - am Rand des Geschehens wieder.
Auf der ersten und einzigen Tagung am 5. und 6. Januar 1918 sprachen etwa 60 Prozent der Abgeordneten dem Rat der Volkskommissare das Misstrauen aus. Darauf lösten Bolschewiki und Linke Sozialrevolutionäre die Verfassunggebende Versammlung mit der Androhung von Gewalt auf.
Die Diktatur begann, bald folgte der Bürgerkrieg. Am Ende jahrelanger blutiger Kämpfe siegten die Bolschewiki und gründeten am 30. Dezember 1922 ihren Staat, der bis 1991 Bestand hatte: die Sowjetunion.
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