Geoffroy de Lagasnerie: "Die unmögliche Kunst"

Plädoyer für eine zynische Ethik

05:35 Minuten
Das Cover des Buches von Geoffroy de Lagasnerie, "Die unmögliche Kunst". Auf grauem Untergrund stehen Autor und Titel.
© Passagen Verlag

Geoffroy de Lagasnerie

Aus dem Französischen von Luca Homburg

Die unmögliche KunstPassagen Verlag, Wien 2022

80 Seiten

12,00 Euro

Von Ingo Arend · 01.12.2022
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In seinem neuen Buch sucht Geoffroy de Lagasnerie nach einer radikalen Ästhetik. Der französische Philosoph verheddert sich dabei aber in altlinkem Verbalradikalismus.
Eine „Kunst, die verändert, tatsächlich transformiert und gestaltet“. Der Satz, mit dem der Künstler Artur Żmijewski das Credo der 7. Berlin-Biennale beschrieb, sorgte 2012 für Kontroversen. Die einen befürchteten die Selbstabschaffung der Kunst, die anderen bejubelten den überfälligen Bruch mit dem System L’art-pour-l’art.
Wahrscheinlich kennt Geoffroy de Lagasnerie Artur Żmijewski nicht. Doch das jüngste Buch des Philosophie-Professors an der Pariser École Nationale Supérieure d’Arts, Jahrgang 1982, liest sich wie eine nachgereichte, philosophische Blaupause für Żmijewskis Schau.
Gleich zu Beginn seines Essays fragt Lagasnerie nämlich: „Was genau tue ich als Künstler, der ich Teil dieser Welt bin, wenn ich Kunst schaffe… Was tue ich wirklich im Konkreten?“

Eine neue Ethik

Wenn Lagasnerie nach einer „Kunst jenseits der Scham“ (darüber nichts konkret zu bewirken) fragt, geht es ihm um eine neue Ethik der Kunst.
Diese besteht für ihn allerdings nicht so sehr in dem künstlerischen Aktivismus à la Żmijewski, sondern darin, die Wirklichkeit und ihre Machtverhältnisse so darzustellen, wie sie tatsächlich sind.
Damit setzt Lagasnerie das Unterfangen fort, welches schon sein Buch „Das politische Bewusstsein“ (2021) kennzeichnete: Den politischen Diskurs von mystifizierenden Narrativen zu befreien.

Kein Weg heraus aus dem System

Kein Wunder, dass er bei seiner Suche nach Vorbildern für eine „oppositionelle“ statt „kollaborative“ Kunst bei den üblichen Verdächtigen des Sozialrealismus landet: dem Politkünstler Hans Haacke, dem Dramatiker Bertolt Brecht oder dem Schriftsteller Édouard Louis – arbeiten diese doch mit genau dem „fiktionalen Minimalismus“, den Lagasnerie als ästhetische Maxime formuliert.

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Es fragt sich nur, ob dieser Ansatz wirklich Chancen auf Veränderung eröffnet. Denn Lagasnerie zeichnet das (Kunst-)System als so übermächtig und hermetisch, dass ein Ausbruch daraus selbst mit realistischsten Mitteln kaum möglich scheint.

Revolte und Whistleblower-Lob

Geoffroy de Lagasnerie gilt seit einigen Jahren als Jungstar der linken, französischen Intelligenz um den Soziologen Didier Eribon, seinen Lebensgefährten.
Mit Aktionen für die Rechte Homosexueller und gegen eine neue Fremdenfeindlichkeit machten beide in der französischen Öffentlichkeit Furore. In seinem Buch „Die Kunst der Revolte“ pries Lagasnerie die Whistleblower Edward Snowden, Juliam Assange und Chelsea Manning.
In „Verurteilen“ unterzog er das französische Justizsystem einer beißenden Kritik. Dass er sich nun der Kunst zuwandte, ließ aufhorchen.

Radikalität als Anspruch

Auch in seinem neuen Buch will der Philosoph ganz offensichtlich seiner Selbstcharakterisierung als „radicalisateur“ gerecht werden. Das demonstriert er schon in der Rhetorik: Fortlaufend betont er, ein neues intellektuelles Projekt solle „so radikal wie möglich“ sein.
Auch analytisch greift er gern in die Vollen: Ästhetik, so eine seiner vielen pauschalen, nirgends belegten Setzungen, ist eine „Form der Klassenethik – und der Klassenverachtung“ und eines der „Rädchen, die die soziale Herrschaft und die Reproduktion der Klassengesellschaft sichern“.
Aus dem selbstgezimmerten Dilemma, einerseits schonungslos die Wahrheit sagen zu sollen, andererseits nicht gegen das System an zu können, sieht der Philosoph nur einen Ausweg: Den der „zynischen Ethik“: Die „Kräfte des Systems zu nutzen, um die eigenen Narrative durchzusetzen, und die Systeme zu zersetzen“.
Welche ästhetische Praxis er konkret darunter versteht, bleibt indes unklar.

Renaissance der Kulturfeindlichkeit

Lagasneries Essay ist ein aufschlussreicher Beleg für die Renaissance einer altlinken Kunst- und Kulturfeindlichkeit selbst unter den jüngeren Vertretern einer neuen Philosophie.
Ganz im Stil des rigiden Vulgärmaterialismus kanzelt er den ästhetischen Modus der Fiktion als „Logik der Ablenkung, der Lüge, der Ignoranz oder der Gleichgültigkeit gegenüber dem konkreten Leid in der Welt“ ab. Dann wieder mimt er den progressiven Kunstsoziologen. Mit Pierre Bourdieu plädiert er für die Analyse von Kunst als soziales Feld.
Eine neue oppositionelle Praxis mit deren Mitteln zu erhellen, gelingt ihm mit seinem philosophischen Verbalradikalismus letztlich aber nicht – es sei denn man hält Artur Żmijewskis zynische Kunstaktion „80064“ für eine Lösung: Aus Protest gegen das allgemeine Geschichtsvergessen nötigte der 2004 einen 92 Jahre alten Holocaust-Überlebenden, sich seine Häftlingsnummer neu tätowieren zu lassen.
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