Geoffroy de Lagasnerie: "Verurteilen – Der strafende Staat und die Soziologie"

Verschleierung der staatlichen Gewalt

Hinter Gittern: Bürokratische Routine der Justiz
Hinter Gittern: Bürokratische Routine der Justiz © imago / Michael Bahlo / Suhrkamp
Von Wolfgang Schneider · 18.09.2017
Der französische Autor Geoffroy de Lagasnerie hat das Rechtssystem in seinem Heimatland untersucht - und legt einen Text vor, der laut unserem Kritiker Wolfgang Schneider zum grundsätzlichen Nachdenken anregt, manchmal aber auch zu schlicht gerät.
"Verurteilen" versteht sich als scharfe Kritik der juristischen Vernunft. Zur Vorbereitung hat Geoffroy de Lagasnerie, ein Jungstar der Theorie-Szene in Frankreich, monatelang Gerichtsverhandlungen besucht. Dabei stellte er verblüfft fest, dass die bürokratische Routine der Justiz wenig zu tun hat mit dem Pathos und der Theatralik von Gerichtsfilmen und anderen "Mythen des Gerichts".
Lagasnerie begreift diese Unscheinbarkeit als eine Art Trick und Illusionierung. Geht es vor Gericht doch um massive und leidvolle Eingriffe in Menschenleben: "Gerichtlich zu urteilen bedeutet, Gewalt anzutun." Im Gericht erleben wir unsere "Verfasstheit als Staatssubjekt", wir machen die sonst meist verdrängte Erfahrung, dass wir "dem Staat gehören".

"Einsperrbar, verhaftbar, verurteilbar"

Der Blick des Autors auf die "Justizmaschine" erinnert an die Fundamentalkritik von 1968: In einem Rechtsstaat zu leben heiße "einsperrbar, verhaftbar, verurteilbar" zu sein. Die "Logik des Staates" aber bestehe darin, diese Gewalt zu "verschleiern".
Interessanter als solche schmissig vorgetragenen Pauschalisierungen sind die Ausführungen über die philosophischen Grundlagen des Rechtssystems. Das betrifft zum einen die Konstruktion eines Rechtssubjektes. Ohne die umstrittenen Konzepte der Verantwortung, der Entscheidungsfreiheit, der personalen Identität und eines "Ichs", das als Urheber seiner Taten wirke, kann Strafjustiz nicht funktionieren.
Zum anderen konzentriert sich der Autor auf das Problem der individuellen Zurechenbarkeit von Taten, weil laut Gesetz jeder nur für "seine eigenen Handlungen" zur Rechenschaft gezogen werden kann. Zur "Logik des Gerichts" gehöre es deshalb, die Tatbestände so zu "erzählen", dass das Geschehen konsequent individualisiert werde.

Destabilisierende Kraft des soziologischen Denkens

Die Ordnung der Welt, wie sie von den juristischen Narrativen konstruiert werde, sei definitiv antisoziologisch. Mehr noch: soziologische Logiken (für Lagasnerie die Logiken, die "in der gesellschaftlichen Welt wirklich am Werk sind") würden "geleugnet", um über die vermeintlichen Taten vermeintlicher Individuen verhandeln zu können.
Deshalb könne im Gegenzug das sozialwissenschaftliche Denken "destabilisierende, antiinstitutionelle Kraft" entfalten. Andere akademische Disziplinen bezichtigt der Autor dagegen der Komplizenschaft mit dem Machtsystem der Justiz, allen voran die Psychologie (wegen ihrer individualisierenden psychiatrischen Gutachten).
Immer ungeduldiger wartet man bei der Lektüre darauf, welche Alternativen zur herrschenden Strafjustiz de Lagasnerie vorzuschlagen hat. Aber diese Ideen bleiben so knapp wie schlicht. Zum einen plädiert er für eine gerechtere Politik und mehr Sozialarbeit; zum anderen soll auf Strafe und Vergeltung offenbar weitgehend verzichtet werden.

Prinzipien des Strafrechtssystems

Stattdessen sollte ein Täter auf die Wiedergutmachung des von ihm verursachten Schadens verpflichtet werden, als wäre das Verbrechen unter Ausschaltung aller rechtsstaatlichen Instanzen nur eine Privatangelegenheit zwischen Opfer und Täter. Das ist kurios.
Man hat den Eindruck, dass der Autor eher mit linksintellektueller Radikalität brillieren will, als dass es ihm ernsthaft um eine Reform des Justizsystems ginge. Diese durchaus vorhandene Brillanz leidet zwar in der deutschen Übersetzung, sorgt aber dennoch für eine streckenweise lohnende Lektüre. Goeffroy de Lagasnerie schafft es, seine Leser zu einem sehr grundsätzlichen Nachdenken über die Prinzipien des Strafrechtssystems anzuregen.

Geoffroy de Lagasnerie: "Verurteilen – Der strafende Staat und die Soziologie"
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
272 Seiten, 26 Euro

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