Generationen-Roman

Ein Knäuel von Unterdrückungen

Blick auf eine Protestdemonstration gegen das Todesurteil gegen Sacco und Vanzetti in New York (undatiert). Der Fall der amerikanischen Anarchisten italienischer Herkunft, Sacco und Vanzetti, erregte in den 20er Jahren weltweit Aufsehen und Empörung.
Protestzug im New York der 20er-Jahre. Lethems eigene jüdische, politisch engagierte Großmutter lebte zu dieser Zeit bereits dort. © picture alliance / dpa / UPI
Moderation: Matthias Hanselmann · 05.03.2014
Um die jüdische Großmutter und Kommunistin Rose dreht sich Jonathan Lethems Roman "Der Garten der Dissidenten“. Er fragt, wie es nach dem Holocaust weitergehen, was vom Sozialismus nach Stalin übrig bleiben kann und zeigt die Verlegenheit der US-Linken auf.
Matthias Hanselmann: Jonathan Lethem, geboren am 19. Februar 1964 in Kansas City, aufgewachsen in Brooklyn – er ist ein seit Jahren erfolgreicher und vielfach ausgezeichneter Bestsellerautor. Er ist brillanter New-York-Kenner, hat aber auch an der Westküste der USA in Kalifornien gelebt. Zurzeit ist er für ein Semester Fellow an der American Academy in Berlin-Wannsee. "Der Garten der Dissidenten“ heißt Lethems neuer Roman, eine Geschichte über mehrere Generationen, ein Roman des 20. Jahrhunderts, in dessen Zentrum eine orthodox-kommunistische Community in New York steht. Ich habe heute Vormittag mit Jon Lethem, Jonathan Lethem gesprochen und ihn zunächst nach der ersten Zeile seines Werks gefragt, und die lautet: "Fick‘ keine schwarzen Cops mehr, oder du fliegst aus der kommunistischen Partei!“ Mit diesem ultimativen Satz beginnt Ihr neuer Roman, Herr Lethem. Wollen Sie uns erzählen, warum Sie sich für diesen drastischen Einstieg entschieden haben?
Jonathan Lethem: Dieses Buch greift tief hinein in dieses ganze Knäuel von Unterdrückungen, von Verdachtsmomenten, von all dem, was aufgestaut ist, viele einzelne Begebenheiten zeigen die Verlegenheit, auch die faulen Kompromisse, die man eingeht in diesem Milieu der US-amerikanischen Linken, das für mich immer noch wichtig ist. Das stellt meine Familie dar. Ich wollte mich also vom ersten Satz an hineinschmeißen in dieses dichte Knäuel von Problemen, mich und den Leser auch.
Jonathan Lethem, US-Autor des Buchs "Der Garten der Dissidenten", das von einer zerrissenen amerikanischen Familie handelt, beim Interview im Deutschlandradio Kultur am 5. März 2014.
Jonathan Lethem, US-Autor des Buchs "Der Garten der Dissidenten", das von einer zerrissenen amerikanischen Familie handelt, beim Interview im Deutschlandradio Kultur am 5. März 2014.© Bettina Straub / Deutschlandradio
Hanselmann: Die jüdische Großmutter und Kommunistin Rose ist die dominante Figur dieser Geschichte, sie ist hart und gnadenlos, sie wirkt noch über die ihr folgenden Generationen hinweg extrem stark nach. Man fragt sich auch schon nach wenigen Seiten des Romans: Wie autobiografisch ist er? Sie haben es eben angedeutet, es hat viel mit Ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun. Also wie viel von Ihrer eigenen Geschichte steckt im "Garten der Dissidenten“?
Hauptfigur der eigenen Großmutter nachgezeichnet
Lethem: Das Profil von Rose, dieser Großmutter, ist tatsächlich sehr stark nach den tatsächlichen Hintergründen meiner eigenen Großmutter gebildet, aber als Romanverfasser bin ich natürlich ein Erfinder, ich bin ein Geschichtenerzähler, aus zwei Gründen: Erstens, weil ich vieles nicht weiß – ich weiß bis zum heutigen Tage nicht, ob meine Großmutter Mitglied einer kommunistischen Zelle war –, zweitens, weil ich eben ein Romanverfasser bin, und für mich ist die faktische Wahrheit stets nur die Schwelle zu etwas anderem, ein Übergang in etwas, was ich zu fassen versuche.
Wenn es also auch durchaus autobiografische Sinnkerne in diesem Buch gibt, so ist doch das nur der Zugang zu etwas anderem, was ich mit allen möglichen Mitteln aufzuschlüsseln versuche, meine Fantasie, meine Ängste, meine eigenen Sehnsüchte, auch die Sehnsucht nach anderem Leben, die ich eben normalerweise nicht erreichen kann. Das alles tritt dann zusammen.
Hanselmann: Dennoch ist es sinnvoll für den Leser, zu wissen, dass Ihre Großmutter Jüdin war, dass sie geflohen ist nach Amerika, genauso wie Ihr Großvater.
Lethem: Nun, meine Großmutter gehörte der zweiten Generation der jüdischen Einwanderer an, wie alle anderen New Yorker Juden war sie in den 20er-, 30er-Jahren aber emotional zutiefst verbunden mit dem, was in Osteuropa und in Deutschland geschah. Mein Großvater väterlicherseits hingegen entstammte dem Lübecker jüdischen, weitgehend assimilierten, säkularen Bürgertum, sie waren Teil der Bourgeoisie. Mein Urgroßvater väterlicherseits war Bankier, meine Urgroßmutter väterlicherseits war Opernsängerin. Sie haben fast im letzten Augenblick es noch geschafft, Deutschland zu verlassen und sie mussten ihre gesamte Habe, ihr großes Haus verkaufen, um noch rechtzeitig nach Amerika fliehen zu können.
Im jüdischen Milieu New Yorks in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts war es nun äußerst ungewöhnlich, dass ein jüdischer Einwanderer, der dem deutschen Großbürgertum entstammte, sich verliebte in ein Mädchen, das eher aus dem Stetl-Milieu Polens und Russlands, also aus der jüdischen Unterschicht stammte. Für mich war diese ungewöhnliche Kombination sehr faszinierend, es war auch wirklich eine der Antriebskräfte in diesem Roman.
Hanselmann: Ich habe Sie das alles gefragt, weil ich jetzt ein bisschen genauer in die Geschichte des Buches einsteigen möchte. Es gibt da eine entscheidende Stelle in Ihrem Roman, Rose erwischt ihre Tochter Miriam mit ihrem ersten Freund in Miriams Zimmer, daraufhin rastet sie existenziell aus, lässt eine Tirade, eine Schimpfkanonade auf ihre Tochter los, dann steckt sie erst ihren eigenen Kopf in den Gasherd und schaltet diesen an, und schließlich steckt sie Miriams Kopf, den Kopf ihrer Tochter in diesen Herd. Rose, eine Frau, die zum Selbstmord bereit ist und zur Tötung ihrer Tochter – solch ein Erlebnis, das muss doch das Mutter-Tochter-Verhältnis für immer zerstören, oder?
"Irgendwie geht es weiter", nach der "großen Katastrophe"
Lethem: Und auch hier gilt wie für den ersten Satz des Romans, bei dieser Szene mit dem Gasherd, ich wollte wirklich von Anfang an hineinspringen in dieses große Thema: Was geschieht eigentlich nach einem solchen verheerenden Ereignis? Im Grunde dreht sich das ganze Buch um das Thema des, was geschieht nach der großen Katastrophe? Und man kann in der Tat fragen: Kann es noch eine Mutterschaft geben nach einer solchen Szene mit dem Gasherd? Kann es immer noch möglich sein, eine Familie zu haben? Und die Antwort darauf lautet: irgendwie schon, irgendwie geht es weiter.
Die Mutter-Kind-Beziehung bleibt weiterhin ganz entscheidend, sie ist das große definierende Moment und sie ist auch abgründig weiterhin. Und allzu weit ist diese Frage nicht entfernt von der anderen Frage nach dem Sozialismus: Was kann noch vom Sozialismus übrig bleiben nach Stalin? Gibt es da noch einen Weg nach vorne angesichts all dieser Überzeugungen und dieser tiefen Leidenschaften, die so gescheitert sind?
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton“, ich spreche mit dem US-amerikanischen Autor Jonathan Lethem über sein neues Buch "Der Garten der Dissidenten“. Es ist ein generationenübergreifender Roman, ein Roman des 20. Jahrhunderts, vorwiegend in New York. Mr. Lethem, als Dissidenten werden in der Regel Menschen bezeichnet, die in Diktaturen oder totalitären Staaten Andersdenkende sind. Hier handelt es sich durchweg um Dissidenten innerhalb einer Demokratie. Ist es in den USA allgemein schwierig, vom Mainstream abzuweichen? Wird jede etwas radikalere Lebenshaltung dort mit der Ignoranz oder gar dem Hass der Mehrheit bestraft?
Lethem: Das ist wirklich eine Frage, die ins Schwarze zielt, das ist auch irgendwie das undurchdringliche Rätsel der amerikanischen Kultur, die einerseits geradezu besessen auf diesen Idealen der Freiheit und des Ausdrucks des Individuums und auf Vielfalt starrt, und andererseits diesen unglaublichen Gleichförmigkeitszwang ausübt, wodurch es eben unmöglich wird, bestimmte Grundtatsachen infrage zu stellen. Freilich findet keine gewaltsame Gleichschaltung statt wie in totalitären Gesellschaften, wir haben keinen Gulag, aber es wird eben ein großer Anpassungsdruck erzeugt, wodurch alles Unbequeme, alles radikal Zweifelnde beiseite gedrängt und an den Rand geschoben wird.
Hanselmann: Und damit sind wir wieder bei der vorhin angesprochenen Idee des Kommunismus oder des Sozialismus als vorbereitende Form. Was halten Sie denn persönlich von dieser Utopie, über die ja nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kaum jemand mehr spricht? Hat diese Utopie des Kommunismus aus Ihrer Sicht einen guten Kern?
Am Kommunismus haftet das "Stigma des sowjetischen Experiments"
Lethem: Das ist natürlich eine Riesenfrage, die Sie mir vorlegen. Wenn man drauf antworten will, verfängt man sich geradezu unweigerlich in sehr spezifischen Fragen. Man ist ständig in einer Verteidigungsposition. Sagen wir es mal so: Die vorherrschende Meinung geht sicherlich heute davon aus, dass der Kommunismus insgesamt diskreditiert ist. Ihm haftet auf immer dieses Stigma des sowjetischen Experiments an, das eben ein totalitärer Albtraum war. Aber zugleich meine ich, dass man durchaus sagen kann, sagen darf und sagen sollte: Es muss eine Art Kritik des herrschenden Status quo durchaus geben, so wie sich heute weltweit der unternehmerisch getragene Kapitalismus entwickelt hat, eine Art triumphierender Siegeszug über das kommunistische Experiment der Sowjetunion, das ja im Desaster endete.
Ich glaube, man braucht noch dieses Gegengewicht. Ebenso muss man durchaus die Frage stellen: Hatte Karl Marx in seiner zeitdiagnostischen Analyse dessen, was damals schief lief und was auch weiterhin schief laufen wird, nicht doch irgendwo auch seine Berechtigung? Und meine Antwort darauf ist: Ja, seine Kritik, wie er sie in den verschiedenen Schriften ausgefaltet hat, ist durchaus ein geeignetes Erkenntnisinstrument, und ich meine, durchaus sagen zu können, ja, da sind Elemente drin, die man bewahren muss, und wenn wir uns eben die Geschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt anschauen, so haben wir doch fast nur Scheitern und abstoßende Entwicklungen vor uns und es ist ganz schwer, da irgendetwas Positives herauszuziehen.
Hanselmann: Wir haben teilweise recht ernste Themen jetzt angeschnitten, und deswegen ist mir wichtig, zu erwähnen, dass die vielen Figuren, die Ihr Buch bevölkern, sehr nah, sehr witzig, sehr abgefahren beschrieben werden, ob sie nun schwul, schwarz, orthodox-kommunistisch, New Age oder sexbesessen sind oder bei der Occupy-Bewegung oder bei den Quäkern sind. Ich finde, es ist ein zutiefst humanistisches Buch, denn wenn es in irgendeiner Form eine Gebrauchsanweisung für das Leben sein kann, dann heißt diese Gebrauchsanweisung: Mach einfach, was du denkst, und trau dich auch, abzuweichen vom Mainstream und deine eigenen Dinge zu denken, auch wenn du sie vielleicht im Leben irgendwann mal wieder umschmeißen musst.
Lethem: Also das finde ich wirklich großartig, wie Sie das sagen, und Sie haben natürlich recht. All diese Gestalten sind selbstverständlich immer Anlass für tiefsinnige und schwermütige Gedanken, sie halten sich selbst ja auch für äußerst ernstzunehmende und hochpolitische Menschen. Dennoch muss ich sagen: Ich habe das Buch mit Freude und mit Lust geschrieben und auch mit einem Wonnegefühl an der Komödie des Menschen.
Hanselmann: Vielen Dank für dieses Gespräch und für das wunderbare Buch „Der Garten der Dissidenten“, Jonathan Lethem, danke schön!
Lethem: Thank you very much!
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