New York am Rande des Abgrunds

02.03.2011
Das "Chronic City"-New York ist die Stadt der Heilpraktiker und Kulturkritiker, die sich von Burgern, Kaffee und Marihuana der Sorte "Chronic" ernähren. "Shattered" von den Rolling Stones ist für sie nach wie vor die Hymne auf den Big Apple.
Dieses Buch ist so "megabekifft" wie seine Figuren, die hier durch ein zugleich vertrautes und surreales Manhattan trudeln. Es ist ein Roman, aus dem, wer will, Bezüge auf Jacques Lacan oder Lewis Carroll und allerlei popkulturelle Ikonen herauslesen kann. Vor allem aber ist "Chronic City" ein zutiefst komischer Roman über ein New York "am Rande des Abgrunds", regiert von altem Geld: "Das Geld wohnt schon so lange hier, dass es etwas altersschwach wirkt."

In dieser Stadt treiben sich Haschdealer und Heilpraktiker genauso herum wie schielende Kulturkritiker, die sich von Hamburgern, Kaffee und Marihuana der Sorte "Chronic" ernähren und den Rolling-Stones-Song "Shattered" von nach wie vor für die gültige Hymne auf den Big Apple halten. Einer dieser "Superhochleistungsautisten", die "nachmittags alte Marlon-Brando-Filme gucken und zum Nachtisch das Universum dekonstruieren", ist Jonathan Lethems wunderbar versponnener Held Perkus Tooth: Ein ehemaliger Rockkritiker, der in einer höhlenartigen Behausung voller CDs, DVDs und Bücher in der 84th Street mehr vegetiert denn lebt.

Um sich herum hat er einen "schützenden Panzer aus Texten und Tondokumenten errichtet". Tooth ist ein herrlicher Paranoiker, der hinter allem die große Verschwörung wittert und vollkommen darin aufgehen kann, sich um dreibeinige Pitbulldamen zu kümmern. In Tooths Kosmos hineingezogen wird eines Tages Chase Insteadman, ein alternder Kinderfernsehstar.

Sein Gesicht ist vielen noch von der Mattscheibe bekannt, weshalb sie ihn als Zierrat auf Benefizgalas bitten. Oder ihn wie der Bürgermeister Jules Arnheim (als Medienmogul und für die Verbesserung der "Lebensqualität" einstehender Milliardär eine Mischung aus Michael Bloomberg und Rudolph Giuliani) zu einer Party in ihr Townhouse laden, Perkus Tooth immer im Schlepptau. Dort begegnen sie einstigen Hausbesetzern der Lower East Side, die nun als politische Berater maßgeblich die "Parade der Gentrifizierung" vorantreiben, sie treffen eine Ghostwriterin, die sich eigentlich auf die Lebenserinnerungen traumatisierter Sportler spezialisiert hat, derzeit aber die Autobiografie eines Landschaftsskulpteurs namens Laird Noteless schreibt, der berühmt ist für seinen "Urbanen Fjord" mitten in New York.

Damit nicht genug, terrorisiert auch noch ein "entlaufener Tiger" die Millionenmetropole, gräbt, ja fräst sich Tunnel bohrend durch deren Untergrund, und bringt so Gebäude zum Einsturz. Man muss nicht jeden Einfall Lethems goutieren - seine Idee, zum Beispiel aus den "Muppets" "Gnuppets" zu machen, entpuppt sich als fader Scherz. Auch sein Versuch, den Hype um den "virtuellen Plumperquatsch" einer von Avataren bevölkerten simulierten "Second Life"-Welt zu ironisieren (im Roman heißt sie "Yet Another World"), wirkt etwas verspätet, weil der Bohei hierum längst verklungen ist. Und dennoch liest man "Chronic City" mit Gewinn als Chronik einer nunmehr in Dekadenz brillierenden Gesellschaft, die Lethem wie kein Zweiter zu schreiben versteht. Man stürzt sich gern in das "kalte Chaos von Manhattan" und lacht über dessen treffende Charakteristik – ganz ohne noch die kleinste Dosis Dope.

Besprochen von Knut Cordsen

Jonathan Lethem: Chronic City
Aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maass und Michael Zöllner
Tropen, Stuttgart 2011
490 Seiten, 24,95 Euro