Geflüchtete Schriftsteller

Weltliteratur aus dem Exil

18:32 Minuten
Augusto Roa Bastos umringt von Mikrofonen.
Augusto Roa Bastos kehrt nach 42 Jahren im Exil zurück nach Paraguay. Seine Bücher gehören zur Weltliteratur, sagt Marko Martin. © picture-alliance / dpa / epa
Annika Reich und Marko Martin im Gespräch mit Joachim Scholl · 17.06.2021
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Diktatoren fürchten Schriftsteller, sagt der Autor Marko Martin. Deshalb leben viele im Exil. Das sei problematisch, weil sie dort als Autoren unsichtbar werden, meint die Schriftstellerin Annika Reich. Andererseits entstand im Exil Weltliteratur.
Die Frage, ob es bei Verlagsprogrammen diverser zugehen müsste, ob Männer und Frauen paritätisch bei Preisverleihungen berücksichtigt werden [AUDIO] , wirken wie Schlaraffenland-Luxusprobleme. In Ländern mit prekärer Demokratie, wo Meinungsfreiheit eingeschränkt ist oder nur auf dem Papier existiert, wo Zensur regiert und Autorinnen und Autoren sogar um ihr Leben fürchten müssen, dort ist Literatur ganz anders "politisch" als in den westlich-liberalen Nationen.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Annika Reich lernte durch das Projekt "Weiterschreiben.jetzt" zahlreiche geflüchtete Autorinnen und Autoren kennen, die nun in Deutschland im Exil leben. Diese Autoren seien Teil der Revolution gewesen und hätten für ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ihr Leben riskiert. Sie waren zum Teil im Gefängnis, sind gefoltert worden und mussten schließlich ihre Heimat verlassen, erzählt sie.
Aber das Exil sei für Schriftsteller problematisch, weil sie in ihrer Rolle als Autorinnen und Autoren unsichtbar werden. Plötzlich stehe das Label des Geflüchteten oder das des Syrers im Vordergrund und sie würden als eine Art Nachrichtenagentur ihrer Herkunftsländer missbraucht.
Porträtbild von Annika Reich mit blauem Schaal vor einer Steinwand.
Gründete 2017 zusammen mit Ines Kappert "Weiter Schreiben": Annika Reich. © Imago / Future Image
Die Flucht stellt einen schwerwiegenden Bruch in ihrem Leben dar. Es sei daher schwer, sich trotzdem die Kontinuität des Schreibens zu bewahren, sagt Reich.
"Ich glaube, es ist wichtig, dass man die Künstler, die hierher fliehen, in erster Linie als Künstler adressiert und nicht als Nachrichtenagenturen missbraucht."

Weltliteratur entstand im Exil

Die Erfahrung der Repression und die Fähigkeit, über die Repression zu schreiben und sich dann im Exil neu zu erfinden, sei ein wichtiger Aspekt, meint Marko Martin.
In Bezug auf Lateinamerika, erzählt er, seien viele Bücher, die heute zum Kanon der Weltliteratur gehören, außerhalb des Landes geschrieben worden, weil die Zustände dort es nicht zugelassen haben, frei zu publizieren oder gefahrlos zu leben.
"Dabei denke ich an das Genre des Diktaturen-Romans von Augusto Roa Bastos, der über den paraguayischen Diktator Alfredo Stroessner Weltliteratur geschrieben hat. Ich denke an die Romane von Mario Vargas Llosa, die zum großen Teil im Ausland erschienen sind."
Porträtbild von Marko Martin vor einer roten Wand.
Literatur ist eine wichtige Ergänzung zum tagesaktuellen Journalismus, sagt Autor Marko Martin.© picture alliance/dpa / Jens Kalaene
Diese Bücher seien politisch immer noch aktuell, weil sie zeigen, wie sich die Macht durch kumpelhaftes Verhalten oder durch brutale Gewalt die Bevölkerung gefügig machen will.
Für ihn ist klar: Diktatoren fürchten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, weil diese mit den Mitteln der Literatur, mit Metaphern von den Lebensverhältnissen, Zeugnis geben. Und das mache Literatur einzigartig und zu einer wichtigen Ergänzung zum tagesaktuellen Journalismus.

Prozess des Schreibens hat sich verändert

Reich verrät: Der Blick, der ihr von geflüchteten Autorinnen und Autoren geschenkt worden sei, habe auch den Blick auf ihre eigene Welt in Deutschland verändert.
Der Prozess des Schreibens habe sich bei ihr verändert, erzählt Reich. Durch die Beschäftigung mit Autorinnen und Autoren aus Kriegs- und Krisengebieten sei sie sich erstmalig ihrer Selbstzensur bewusst geworden.
"Seitdem ich mit Menschen zu tun habe, die wirkliche Zensur erlebt haben, kommt mir mein kleines Über-Ich doch ziemlich handzahm vor und so, als ob es doch zu besiegen wäre. Und ich schreibe seitdem freier."

Ambivalenz gegenüber Herkunft

Und zur Debatte um Herkunft und Identität sagt Martin, es sei ein rechtes Phantasma, die Menschen aufgrund ihrer Herkunft einzuteilen.
"Der neo-rechte Wahn der sogenannten Identitären hat in Aspekten mehr mit einer sich als links missverstehenden Identitätspolitik gemeinsam, als das den wohlmeinend Progressiven klar ist."
Menschen rund um die Welt haben ihm von ihrer Ambivalenz gegenüber dem Thema Herkunft erzählt.
"Es ist im Grunde egal, ob man in einem indigenen Dorf vom einheimischen Kaziken oder in einer Stadt vom Fabrikdirektor getriezt wird. Es geht um die Beschreibung von Machtstrukturen. Und die Macht hat keine Hautfarbe. Was diese Menschen mir erzählt haben, ist jenseits dieses besserwisserischen, auf Denunziation geeichten Diskurses, wie wir ihn zum teil hier haben."
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