Briefe von Autoren im Exil

"Die Welt ist doch klein – wir teilen dieselben Sorgen"

05:29 Minuten
Blick auf einen Tisch mit Postkarten von einem Mäusebusssard und einem Pelikan.
Die Schriftstellerinnen und Autoren schicken sich gegenseitig Briefe, E-Mails, aber auch Postkarten und berichten sich aus ihrem jeweiligen Leben. © (W)Ortwechseln / Almut Elhardt — Bild Mäusebusssard, Ingar Krauss
Von Sonja Hartl · 16.06.2020
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Ein Briefwechsel zwischen Schriftstellern aus Krisengebieten und deutschsprachigen Autoren bietet einen spannenden Einblick in die unterschiedlichen Lebens- und Gedankenwelten. Aus den ersten Briefen entstand die Idee zum Projekt "(W)Ortwechseln".
"Während die Welt jetzt im Händewaschen vereint ist wie Verbrecher, die sich von ihrer Tat reinigen wollen, schreibe ich Dir und trage dabei Handschuhe. Und weil in unserer Stadt Frauen nicht an die Flüsse treten dürfen, werde ich den Aquarienfischen erzählen, dass ich auf meinen Wegen Dichter traf, die Metren und Reime aus dem Müll sammelten."
Das schreibt die im Irak lebende iranische Dichterin Mariam Al-Attar an ihre Briefpartnerin Sabine Scholl, die in Wien lebt. Sofort entsteht ein Eindruck von ihrem Leben im Irak, sofort gibt es mit Corona eine Verbindung zwischen zwei Autorinnen, die sich vorher nicht kannten.
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Die Autorinnen legen ihren Briefen auch immer Bilder bei — hier ein Bild gesendet von Mariam Al-Attar an Sabine Scholl © (W)Ortwechseln / Noor_Alden
"Ich kannte nur ein Gedicht von ihr", erzählt Sabine Scholl. "Was mich am meisten gepackt hat, war ihre Art mit Problemen umzugehen, die sozusagen im zwischenmenschlichen und Weltverhältnis der Schreibenden auftauchen. Dass man versucht, die in Sprache zu bringen und in der Sprache selbst eine Art Lösung zu finden. Das ist ein internationaler Mechanismus für Schreibende, denke ich, und daran habe ich meinen Brief aufgebaut."

Zwei Feministinnen zusammengebracht

Zusammengebracht wurden Scholl und Al-Attar sowie die anderen Schreibenden bei "Weiter Schreiben" von der Projektverantwortlichen und Schriftstellerin Anika Reich. "Die beiden Autorinnen sind ganz dezidierte, erfahrene Feministinnen", meint Reich. "Mariam Al-Attar hat in Frauenhäusern im Irak gearbeitet. Sabine Scholl schreibt seit Jahren oder Jahrzehnten sehr dezidiert feministische Literatur und setzt sich auch theoretisch und wissenschaftlich dafür ein."
Seither hätten beide Autorinnen bemerkt, dass das regelmäßige Schreiben von Briefen ihre Perspektiven verändere, erzählt Scholl. "Erstens ist mir auch klargeworden, dass man kaum noch Briefe schreibt, also mit meinen Vertrauten und Freundinnen und Freunden – wir schreiben uns keine Briefe mehr. Und dass es eigentlich doch einen ganz anderen Effekt hat. Vielleicht, dass man auch mehr in die Tiefe geht, indem man einen Brief schreibt oder eben einen Brief erhält, der auch sehr in die Tiefe geht."

Die Welt überdenken und anders sehen

"Mein Leben ist sinnvoller und gefühlvoller, seit ich die täglichen Ereignisse und meine Gedanken für eine Person aufschreiben und mit ihr in einen Dialog treten kann, die ich persönlich noch nie gesehen habe", sagt Al-Attar. "Ich konzentriere mich mehr auf Details und schildere meiner Briefpartnerin Fakten und eigene Perspektiven dessen, was mir gerade passiert. Das gibt mir das Gefühl, dass die Welt doch klein ist, wir dieselben Sorgen teilen und dass wir uns als Menschen und Schriftstellerinnen gegenseitig dabei helfen können, die Welt zu überdenken und anders zu sehen."
Den Austausch und die Anregungen schätzt auch der palästinensisch-syrische Lyriker Abdalrahman Alqalaq, der zur Zeit in der Nähe von Speyer wohnt und sich mit der deutschen Schriftstellerin Katerina Poladjan schreibt.
Abdalrahman Alqalaq sitzt auf dem Steinfußboden an eine gemauerte Hauswand gelehnt.
Alqalaq wünscht sich, eine WG in Hildesheim zu finden. Er denkt an die Katzen, die nachts hinter ihrem Haus in Damaskus umherschlichen.© (W)Ortwechseln / privat
"Durch seinen Schreibpartner kommt man zu Gedanken, zu denen man ansonsten nicht kommen könnte. Und das kommt ja alles so spontan, die Themen, die wir besprechen, meine ich. Meine Schreibpartnerin beginnt ein Thema und dann denke ich an irgendetwas und dann schreibe ich darüber", erzählt Alqalaq.

Eine besondere Form der Vertrautheit

Anstoß können Heiligenstatuen sein oder Gedanken an eine Katze. Begonnen hat der Austausch schon bei ihrer Begegnung in Katerina Poladjans Wohnung in Berlin, erzählt sie. "Wir haben Tee getrunken, und das war seltsamerweise sehr vertraut. Wir haben uns intuitiv kennengelernt. Ich weiß nach wie vor zum Beispiel von seiner Geschichte gar nicht so viel. Ich weiß, woher er kommt. Aber wir begegnen uns eigentlich – und so war das von Anfang an – über unsere Texte. Und das war sehr schön, weil dadurch einfach unabhängig von allem eine besondere Form der Vertrautheit entstanden ist."
Dieses gemeinsame Arbeiten hat eine Verbindung geschaffen. Seither schreiben sie einander assoziativ und spontan. Natürlich haben alle Beteiligten im Hinterkopf, dass es eine dritte Partei gibt – diejenigen, die die Briefe auf der Webseite lesen. Sie erhalten Einblicke in verschiedene Welten und das teilweise faszinierende Denken von Autoren und Autorinnen.
"Jetzt habe ich gerade eine Karte geschrieben, die ich bei einer Reise in Beirut gefunden habe", erzählt Poladjan. "Auf der Karte ist eine Familie abgebildet, und alle schauen eigentlich in verschiedene Richtungen. Ich weiß überhaupt gar nichts über diese Menschen. Ich habe das Gefühl gehabt, diese Karte und dieses Foto hat was mit ihm und seinem Leben zu tun. Ich weiß überhaupt nicht, warum. Und diese Karte schicke ich ihm jetzt. Mal sehen, ob er das genauso empfindet. Und das mit den Karten, das ist neu.
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