Gabriel Berger: "Umgeben von Hass und Mitgefühl"
Lichtig Verlag, Berlin 2016
200 Seiten, 14,90 Euro
Die fast vergessene "jüdische Republik"
Nach Ende des Krieges entstand 1945 in der polnischen Region Niederschlesien für wenige Jahre eine "jüdische Republik": mit eigener Verwaltung, eigenen Parteien und Jiddisch als Verkehrssprache. Das Buch "Umgeben von Hass und Mitgefühl" behandelt dieses fast vergessene Kapitel.
Fast wirkt es wie ein Wunder: Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es im nun polnischen Niederschlesien zu einer kurzen Renaissance jüdischen Lebens. Diese Wiedergeburt konzentrierte sich rund um die Kleinstadt Dzierzoniow.
"Und ich stellte fest, dass diese Kleinstadt eine außerordentlich interessante Geschichte nach dem Krieg gehabt hat: Sie wurde zu einem Zentrum des Aufblühens eines neuen jüdischen Lebens in Polen nach dem Krieg. Das war natürlich sehr verwunderlich, weil nur Rudimente der jüdischen Bevölkerung geblieben sind. Also es waren vor dem Krieg 3,5 Millionen etwa Juden, die in Polen gelebt haben. Nach dem Krieg schätzt man die Anzahl, die Gesamtanzahl auf etwa 300.000 – also weniger als zehn Prozent sind übrig geblieben."
Umso erstaunlicher ist es, was direkt nach dem Krieg rund um Dzierzoniow passierte. Gabriel Berger hat ein Buch über jene Zeit geschrieben, das unter dem Titel "Umgeben von Hass und Mitgefühl. Jüdische Autonomie in Polen nach der Shoah 1945-1949 und die Hintergründe ihres Scheiterns" erschienen ist. Berger beschreibt darin, wie für eine kurze Episode die Schaffung einer fast schon "jüdischen Republik" gelang mit eigener Verwaltung, eigenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und Jiddisch als Verkehrssprache.
Buchzitat: "Hier sollten die Juden, die den Horror der Naziverfolgung überlebt hatten oder aus der bedrohlichen Ungewissheit in der Sowjetunion zurückkehrten, einen sicheren Platz finden, an dem sie in Ruhe leben, arbeiten und ihre jüdische Tradition und jiddische Sprache pflegen konnten.
Nach Jahren brutaler Erniedrigung durch die Nazis, die ihnen das Menschsein aberkannt hatten, und der permanenten Angst um ihr eigenes Leben und das ihrer Angehörigen, würden sie hier ihre Selbstachtung wiedergewinnen und sich mit Stolz dazu bekennen können, Juden zu sein."
Gegen das zionistische Ziel der Ansiedlung im damaligen Palästina
Die Idee zu diesem Projekt ging maßgeblich von dem jüdisch-polnischen Politiker Jakob Egit aus. Er stellte sich damit deutlich gegen das zionistische Ziel der Ansiedlung im damaligen Palästina. Als "jiddischen Jischuv" bezeichnete er sein Experiment.
Gabriel Berger: "Jischuv ist eigentlich ein Begriff, der reserviert ist für die Ansiedlung von Juden in Palästina und er hat eben den Begriff jiddischer Jischuv kreiert, weil er meinte, es bekanntermaßen in Palästina, also in Israel, hat man sich entschlossen, gerade auf das Jiddisch zu verzichten, und Hebräisch als Kommunikations- und offizielle Sprache einzuführen. Und er beharrte darauf, dass Jiddisch die Kommunikationssprache sein soll. Deswegen hat er auch die Gemeinschaft der Juden, die in Polen aufgebaut wurde, als 'jiddischen Jischuv' bezeichnet."
Dieser jiddische Jischuv war zunächst sehr erfolgreich. Von der neuen kommunistischen Staatsmacht unterstützt gedieh das jüdische Leben. Doch das Wunder von Dzierzoniow, das Jakob Egit geschaffen hatte, erfuhr nur eine kurze Blüte von knapp vier Jahren. Pogromartige antisemitische Ausschreitungen führten zur panikartigen Flucht vieler Juden aus Polen. Der judenfeindlich aufgeladene Nationalismus sowie die durch Stalin initiierte antisemitische Welle im gesamten sozialistischen Ostblock taten ihr übriges. Lange Zeit wollte Jakob Egit das nicht wahrhaben. Erst, als er selbst zum Staatsfeind erklärt wurde, verließ er 1957 das Land.
"Er war ein gebrochener Mensch"
Sprecher Buchzitat: "Nun wusste es Egit endgültig: Das Konzept einer jüdischen Identität im sozialistischen Polen war gescheitert. Er war ein gebrochener Mensch. In Polen sah er für sich keine Perspektive. Ihm blieb nichts anderes übrig als nach Israel zu emigrieren."
Statt nach Israel ging Egit schließlich nach Kanada. Bitter enttäuscht von seinen Erfahrungen in Polen vollzog er hier eine drastische Kehrtwende, wie Autor Berger ihn zitiert:
"Dass er gewirkt hat sehr lange zum Schaden der Juden und sie mögen ihm das verzeihen. Und als Kompensation hat er sich die letzten Jahrzehnte seines Lebens, als er in Kanada inzwischen gelebt hat, der Hilfe für Israel gewidmet."
Für Gabriel Berger lassen sich die Geschehnisse im polnischen Niederschlesien nach dem Krieg nur verstehen, wenn man die antisemitische Stimmung sowie das Maß der Kollaboration vieler Polen mit den Deutschen kenne – beides historische Tatsachen, die zum einen selbst im heutigen Polen nicht gerne in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Und die zum anderen die kurze Zeit der jüdischen Republik umso bemerkenswerter machen.
Eben jene erweckt Berger mit seinem Buch kenntnisreich und spannend zum Leben – ein vergessenes Kapitel jüdischer Geschichte in Polen, das sich zu entdecken lohnt.
Gabriel Berger liest am 2. November im "Sprachcafé Polnisch" in der Romain-Rolland-Str. 112 in Berlin-Hellersdorf sowie am 27. Januar in der Berliner Buchhandlung Thaer, Bundeallee 77.