Auf der Suche nach Heimat
"Gehen oder bleiben" beschreibt die Nachkriegszeit von Holocaust-Überlebenden in einem niederschlesischen Ort. Das Werk macht auf anschauliche, gut lesbare Weise ein weithin vergessenes und dramatisches Stück Geschichte lebendig.
Es ist ein ebenso spannendes wie weithin unbekanntes Kapitel der deutsch-polnisch-jüdischen Nachkriegsgeschichte, das Helga Hirsch in ihrem Buch behandelt. Wer den Ort Rychbach auf deutschen und polnischen Landkarten von Niederschlesien sucht, wird ihn nicht finden. Und doch hat der amerikanische Journalist Pejsach Nowik, den Helga Hirsch in ihrem Buch "Gehen oder bleiben" zitiert, dieses Rychbach im Jahr 1946 in einem Atemzug mit den größten Zentren jüdischen Lebens genannt:
"'Rychbach' nennt sich 'Wilna von Niederschlesien', 'Jerusalem von Niederschlesien', 'Tel Aviv', 'Eines ist sicher: Rychbach stiehlt sich in Euer Herz, sobald Ihr es betreten und das Jüdische Kulturhaus gegenüber der Synagoge gesehen habt. Überall Massen von Juden – im Gotteshaus, auf den Bürgersteigen, in der Straßenmitte. Juden aus den Lagern, Juden aus der Sowjetunion, Juden, die sich schon niedergelassen haben, gut gekleidete und arm gekleidete Juden, die noch kein Zuhause gefunden haben. Aber das Wichtigste: alles lebendige polnische Juden."
Den Namen Rychbach trug der Ort nur in den Jahren 1945 bis 1946. Auf Deutsch heißt er Reichenbach und auf Polnisch heute: Dzierzonów. Als der Ort aber noch offiziell Rychbach hieß, hatten die polnischen Kommunisten dort tatsächlich ein erstaunliches Projekt initiiert: Sie wollten Niederschlesien zu einer Heimstatt für die polnischen Juden machen, die die Konzentrationslager überlebt hatten oder aus der Sowjetunion zurückkamen.
Sie waren dorthin nach der Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee zwischen 1939 und 1941 deportiert worden oder aus den deutsch besetzten Teilen Polens geflüchtet.
Nach Kriegsende kehrten etwa 140.000 Juden aus der Sowjetunion in das nach Westen verschobene Polen zurück. Wenn sie ihre ehemaligen Häuser und Wohnungen in Zentralpolen aufsuchten, wurden sie häufig von inzwischen dort eingezogenen Polen bedroht, es kam zu antisemitischen Ausschreitungen und Morden. Doch nicht nur wirtschaftliche Motive spielten im kriegszerstörten Polen für die Judenfeindschaft eine Rolle: Weite Teile der antikommunistisch eingestellten katholischen polnischen Bevölkerung setzten traditionell zwischen "jüdisch" und "kommunistisch" ein Gleichheitszeichen.
Für Juden gab es also gute Gründe, dem neuen, kommunistischen System positiv gegenüberzustehen, nicht nur weil es ihnen leer stehende Behausungen in den ehemals deutschen Gebieten zur Verfügung stellte.
"Es versprach ihnen Sicherheit vor Übergriffen und Schutz vor Diskriminierung, seine Propaganda war frei von antijüdischen Akzenten, der Kampf gegen Faschismus und Rassismus gehörte zu ihrem Kern. Von Seiten der polnischen Rechten hingegen drohte physische Gewalt. Nie zuvor hatten Juden in Polen über so weitgehende Rechte verfügt. Sie konnten im Staatsdienst angestellt werden, sich an führenden Stellen am politischen Leben beteiligen, waren in den Universitäten nicht mehr auf ein spezielles 'Bänkeghetto' verdammt und verfügten über eigene kulturelle und Bildungseinrichtungen. Keine andere Minderheit besaß in Polen einen derart privilegierten Status."
In der Praxis gab es zwar auch unter polnischen Kommunisten Vorbehalte und Ablehnung gegenüber jüdischen Genossen und Mitbürgern. Aber vielen Juden, die den Weg nach Palästina nicht einschlagen konnten, weil ihn die britische Mandatsverwaltung verwehrte, oder auch weil sie ihn aus ideologischen oder anderen Gründen nicht gehen wollten, vielen also bot das kommunistische Polen in Niederschlesien eine Chance.
"Und so blieben sie – einige Tausend polnischer Juden. Niederschlesien erwies sich in den ersten Nachkriegswochen und –monaten als ein relativ sicherer Platz, wo sie , ohne ständig mit dem Verlust von Familien und Freunden konfrontiert zu werden und ohne größere antisemitische Übergriffe fürchten zu müssen, den weiteren Verlauf der Geschichte abwarten konnten."
An der Spitze des jüdischen Wojewodschaftskomitees stand mit Jakub Egit ein Mann, der alles dafür tat, um Niederschlesien für viele Juden zur Heimat werden zu lassen. In seinen Lebenserinnerungen hat er das jüdische Projekt in Niederschlesien aber schließlich als "große Illusion" bezeichnet.
Denn für zionistisch eingestellte Juden gab es sowieso nur ein Ziel: Palästina. Und für fast alle anderen Juden bedeutete der Pogrom im zentralpolnischen Kielce im Juli 1946, bei dem mehr als vierzig Juden ermordet wurden, ein Menetekel, das Signal für den Aufbruch, für die panische Flucht aus Polen. Die Frage, "Gehen oder bleiben?", die dem Buch den Titel gab, wurde von den meisten seit Juli 1946 mit "Gehen" beantwortet.
Helga Hirsch gelingt es durch Zeitzeugenberichte und Quellenstudien ein farbiges Bild der chaotischen Verhältnisse nach dem Sieg der Roten Armee in Niederschlesien und Pommern erstehen zu lassen, als sowjetische Offiziere, (noch) deutsche Behörden, polnische Sicherheitskräfte und Beamte versuchten, das Wirrwarr von Zerstörung, Plünderung, Hunger und Gewalt teils zu ordnen, teils für sich auszunutzen und als trotz dieser widrigen Bedingungen Niederschlesien für Holocaust-Überlebende zeitweise zum Hoffnungsanker werden konnte.
Die Zeitzeugenberichte sind Stärke und Schwäche des Buches zugleich. Denn sie tragen viel zur Lesbarkeit bei, aber nicht immer lässt sich erkennen, wie weit diese Berichte repräsentativ für die damalige Wirklichkeit waren oder nur ein Einzelschicksal widerspiegeln.
Ein anderer Einwand betrifft die Definition, oder besser gesagt: die fehlende Definition des Begriffes "Juden". Das führt dann im Einzelfall zu kontroversen Urteilen. Helga Hirsch zitiert einen polnischen Regierungsbevollmächtigten, der sich 1945 dagegen wendet, dass Personen ohne Berechtigung dem Jüdischen Komitee beitreten, um dadurch Schutz vor Enteignungen zu finden. Er begründet das mit den Worten:
"Da wir die Nürnberger Gesetze nicht anerkennen, können wir nicht gestatten, dass Mitglieder Eurer Organisation ‚Halb-Juden‘ oder ‚Viertel-Juden‘ sind, ganz zu schweigen Deutsche."
Für die Betroffenen war das sicher bitter, aber es fällt schwer, in diesem Zusammenhang von "Diskriminierung" zu sprechen, wie Helga Hirsch es tut und damit – ohne ihn hier zu nennen - dem Historiker Andreas Hofmann folgt. Ihr Kommentar lautet:
"Dieselben Personen, die in der NS-Zeit diskriminiert worden waren, weil sie einen jüdischen Elternteil, eine jüdische Großmutter oder einen jüdischen Ehepartner gehabt hatten, wurden nun diskriminiert, weil sie einen deutschen Elternteil, eine deutsche Großmutter oder einen deutschen Ehepartner hatten."
Wer von einem polnischen Regierungsbevollmächtigten im Jahr 1945 verlangt, Deutsche, die mit Juden im Sinne der Nürnberger Gesetze verheiratet waren, als Juden zu betrachten, vernachlässigt den historischen Kontext.
Ungeachtet solcher Einwände ist "Gehen oder bleiben?" aber ein Buch, das auf anschauliche, gut lesbare Weise ein weithin vergessenes, dramatisches Stück Geschichte des 20. Jahrhundert lebendig macht und deshalb zur Lektüre empfohlen sei.
Helga Hirsch: Gehen oder bleiben? Juden in Schlesien und Pommern 1945 - 1957
Wallstein Verlag Göttingen 2011
"'Rychbach' nennt sich 'Wilna von Niederschlesien', 'Jerusalem von Niederschlesien', 'Tel Aviv', 'Eines ist sicher: Rychbach stiehlt sich in Euer Herz, sobald Ihr es betreten und das Jüdische Kulturhaus gegenüber der Synagoge gesehen habt. Überall Massen von Juden – im Gotteshaus, auf den Bürgersteigen, in der Straßenmitte. Juden aus den Lagern, Juden aus der Sowjetunion, Juden, die sich schon niedergelassen haben, gut gekleidete und arm gekleidete Juden, die noch kein Zuhause gefunden haben. Aber das Wichtigste: alles lebendige polnische Juden."
Den Namen Rychbach trug der Ort nur in den Jahren 1945 bis 1946. Auf Deutsch heißt er Reichenbach und auf Polnisch heute: Dzierzonów. Als der Ort aber noch offiziell Rychbach hieß, hatten die polnischen Kommunisten dort tatsächlich ein erstaunliches Projekt initiiert: Sie wollten Niederschlesien zu einer Heimstatt für die polnischen Juden machen, die die Konzentrationslager überlebt hatten oder aus der Sowjetunion zurückkamen.
Sie waren dorthin nach der Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee zwischen 1939 und 1941 deportiert worden oder aus den deutsch besetzten Teilen Polens geflüchtet.
Nach Kriegsende kehrten etwa 140.000 Juden aus der Sowjetunion in das nach Westen verschobene Polen zurück. Wenn sie ihre ehemaligen Häuser und Wohnungen in Zentralpolen aufsuchten, wurden sie häufig von inzwischen dort eingezogenen Polen bedroht, es kam zu antisemitischen Ausschreitungen und Morden. Doch nicht nur wirtschaftliche Motive spielten im kriegszerstörten Polen für die Judenfeindschaft eine Rolle: Weite Teile der antikommunistisch eingestellten katholischen polnischen Bevölkerung setzten traditionell zwischen "jüdisch" und "kommunistisch" ein Gleichheitszeichen.
Für Juden gab es also gute Gründe, dem neuen, kommunistischen System positiv gegenüberzustehen, nicht nur weil es ihnen leer stehende Behausungen in den ehemals deutschen Gebieten zur Verfügung stellte.
"Es versprach ihnen Sicherheit vor Übergriffen und Schutz vor Diskriminierung, seine Propaganda war frei von antijüdischen Akzenten, der Kampf gegen Faschismus und Rassismus gehörte zu ihrem Kern. Von Seiten der polnischen Rechten hingegen drohte physische Gewalt. Nie zuvor hatten Juden in Polen über so weitgehende Rechte verfügt. Sie konnten im Staatsdienst angestellt werden, sich an führenden Stellen am politischen Leben beteiligen, waren in den Universitäten nicht mehr auf ein spezielles 'Bänkeghetto' verdammt und verfügten über eigene kulturelle und Bildungseinrichtungen. Keine andere Minderheit besaß in Polen einen derart privilegierten Status."
In der Praxis gab es zwar auch unter polnischen Kommunisten Vorbehalte und Ablehnung gegenüber jüdischen Genossen und Mitbürgern. Aber vielen Juden, die den Weg nach Palästina nicht einschlagen konnten, weil ihn die britische Mandatsverwaltung verwehrte, oder auch weil sie ihn aus ideologischen oder anderen Gründen nicht gehen wollten, vielen also bot das kommunistische Polen in Niederschlesien eine Chance.
"Und so blieben sie – einige Tausend polnischer Juden. Niederschlesien erwies sich in den ersten Nachkriegswochen und –monaten als ein relativ sicherer Platz, wo sie , ohne ständig mit dem Verlust von Familien und Freunden konfrontiert zu werden und ohne größere antisemitische Übergriffe fürchten zu müssen, den weiteren Verlauf der Geschichte abwarten konnten."
An der Spitze des jüdischen Wojewodschaftskomitees stand mit Jakub Egit ein Mann, der alles dafür tat, um Niederschlesien für viele Juden zur Heimat werden zu lassen. In seinen Lebenserinnerungen hat er das jüdische Projekt in Niederschlesien aber schließlich als "große Illusion" bezeichnet.
Denn für zionistisch eingestellte Juden gab es sowieso nur ein Ziel: Palästina. Und für fast alle anderen Juden bedeutete der Pogrom im zentralpolnischen Kielce im Juli 1946, bei dem mehr als vierzig Juden ermordet wurden, ein Menetekel, das Signal für den Aufbruch, für die panische Flucht aus Polen. Die Frage, "Gehen oder bleiben?", die dem Buch den Titel gab, wurde von den meisten seit Juli 1946 mit "Gehen" beantwortet.
Helga Hirsch gelingt es durch Zeitzeugenberichte und Quellenstudien ein farbiges Bild der chaotischen Verhältnisse nach dem Sieg der Roten Armee in Niederschlesien und Pommern erstehen zu lassen, als sowjetische Offiziere, (noch) deutsche Behörden, polnische Sicherheitskräfte und Beamte versuchten, das Wirrwarr von Zerstörung, Plünderung, Hunger und Gewalt teils zu ordnen, teils für sich auszunutzen und als trotz dieser widrigen Bedingungen Niederschlesien für Holocaust-Überlebende zeitweise zum Hoffnungsanker werden konnte.
Die Zeitzeugenberichte sind Stärke und Schwäche des Buches zugleich. Denn sie tragen viel zur Lesbarkeit bei, aber nicht immer lässt sich erkennen, wie weit diese Berichte repräsentativ für die damalige Wirklichkeit waren oder nur ein Einzelschicksal widerspiegeln.
Ein anderer Einwand betrifft die Definition, oder besser gesagt: die fehlende Definition des Begriffes "Juden". Das führt dann im Einzelfall zu kontroversen Urteilen. Helga Hirsch zitiert einen polnischen Regierungsbevollmächtigten, der sich 1945 dagegen wendet, dass Personen ohne Berechtigung dem Jüdischen Komitee beitreten, um dadurch Schutz vor Enteignungen zu finden. Er begründet das mit den Worten:
"Da wir die Nürnberger Gesetze nicht anerkennen, können wir nicht gestatten, dass Mitglieder Eurer Organisation ‚Halb-Juden‘ oder ‚Viertel-Juden‘ sind, ganz zu schweigen Deutsche."
Für die Betroffenen war das sicher bitter, aber es fällt schwer, in diesem Zusammenhang von "Diskriminierung" zu sprechen, wie Helga Hirsch es tut und damit – ohne ihn hier zu nennen - dem Historiker Andreas Hofmann folgt. Ihr Kommentar lautet:
"Dieselben Personen, die in der NS-Zeit diskriminiert worden waren, weil sie einen jüdischen Elternteil, eine jüdische Großmutter oder einen jüdischen Ehepartner gehabt hatten, wurden nun diskriminiert, weil sie einen deutschen Elternteil, eine deutsche Großmutter oder einen deutschen Ehepartner hatten."
Wer von einem polnischen Regierungsbevollmächtigten im Jahr 1945 verlangt, Deutsche, die mit Juden im Sinne der Nürnberger Gesetze verheiratet waren, als Juden zu betrachten, vernachlässigt den historischen Kontext.
Ungeachtet solcher Einwände ist "Gehen oder bleiben?" aber ein Buch, das auf anschauliche, gut lesbare Weise ein weithin vergessenes, dramatisches Stück Geschichte des 20. Jahrhundert lebendig macht und deshalb zur Lektüre empfohlen sei.
Helga Hirsch: Gehen oder bleiben? Juden in Schlesien und Pommern 1945 - 1957
Wallstein Verlag Göttingen 2011