Für eine neue Aufklärung

Jenseits der Naturbeherrschung

35:54 Minuten
Dämmerungsaufnahme auf einer Lichtung mit den Silhouette eines Mädchens, die ihren Arm in die Höhe hält und einem Vogelschwarm über ihr.
Die Zukunft braucht ein neues Verständnis des Menschen, das unsere Verantwortung für die Natur mit einschließt, sagt die Philosophin Corine Pelluchon. © pexels / luizclas
Corine Pelluchon im Gespräch mit Stephanie Rohde · 14.11.2021
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Wir müssen Aufklärung neu denken, fordert die Philosophin Corine Pelluchon. Sie will universelle Rechte auf andere Wesen ausdehnen und den Anspruch auf Vernunft und Gerechtigkeit verteidigen. Denn die Gegner der Aufklärung seien stark.
"Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen." Mit diesem Leitsatz formulierte Immanuel Kant ein einflussreiches Plädoyer für Emanzipation und Autonomie des Individuums. Auch die Erklärung der Menschenrechte gründet auf der Philosophie der Aufklärung. Die Überzeugung, dass alle Menschen mit gleichen, universellen Rechten ausgestattet sind, gehört zu den Kernwerten westlicher Demokratien und emanzipatorischer Bewegungen weltweit.

Selbstkritik der Aufklärung

Andererseits steht die Aufklärung seit Langem in der Kritik. Die Philosophen der Kritischen Theorie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben gezeigt, wie instrumentelle Vernunft in Barbarei umschlagen kann: in den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts. Die Aufarbeitung des Kolonialismus förderte rassistische Ansichten auch bei Philosophien der Aufklärung zutage. Aus feministischer Perspektive wird deutlich, dass der universale Anspruch historisch nicht für alle eingelöst wurde, sondern Frauen auch in Europa bis in die jüngste Vergangenheit von vielen Rechten ausgeschlossen waren.
Grund genug, die Aufklärung einer ehrlichen Selbstkritik zu unterziehen, sagt die französische Philosophin Corine Pelluchon, aber kein Grund, "deshalb die Ideale der Emanzipation und des Universalismus über Bord zu werfen". Pelluchon, die in Paris Philosophie lehrt und als Fellow am Nachhaltigkeits-Thinktank "The New Institute" in Hamburg mitwirkt, plädiert dafür, die Aufklärung neu zu denken und zu erweitern, aber zentrale Werte ihres Erbes zu verteidigen.
Das sei umso mehr geboten, weil die Kräfte der Gegenaufklärung stark seien: "Leute, deren Hass auf die Vernunft eine Waffe gegen jedes Emanzipationsprojekt ist". Ihnen gelte es entschlossen entgegenzutreten, sagt Pelluchon. Die neue Aufklärung, die sie in ihrem Buch "Zeitalter des Lebendigen" entwirft, schließt eine Verantwortung für andere Lebewesen, für die Natur und für kommende Generationen ein.

Der Mensch existiert nicht für sich allein

Es gehe darum zu begreifen, dass wir in eine gemeinsame Welt mit einem reichen natürlichen und kulturellen Erbe hineingeboren werden, sagt Pelluchon. Der Mensch existiere nicht für sich allein, sondern sei stets eingebunden in Wechselwirkungen und Abhängigkeiten, aus denen eine weitreichende Verantwortung erwachse.
"Wenn wir bedenken, dass wir, sobald wir essen oder irgendwo wohnen, eine Auswirkung auf die anderen, einschließlich der kommenden Generationen haben, dann verstehen wir, dass wir relationale Wesen sind", sagt Pelluchon. Aus dieser Einsicht erwachse "der Wunsch, eine bewohnbare Welt weiterzugeben – und das ändert alles".

Ein neues Narrativ

Mit der Neujustierung der Aufklärung geht für Corine Pelluchon deshalb auch ein anderes Menschenbild einher: Die radikale Trennung von Natur und Kultur, von Mensch und Tier, wie sie für den Humanismus charakteristisch gewesen sei, habe zu einer "Amputation der Vernunft" geführt. "Diese Art und Weise, unsere fleischliche, irdische, sterbliche Verfassung zu leugnen, ist das Laster unserer Zivilisation", sagt Pelluchon. Eine neue Aufklärung müsse mit dieser verengenden Sicht auf den Menschen aufräumen.
Dabei sei es die Aufgabe der Philosophie, dem Prinzip der Herrschaft über die Natur und über die Natur des Menschen ein neues Narrativ entgegenzusetzen. Das überkommene Verständnis vom Platz des Menschen in der Natur habe "alles in eine Art Krieg" verwandelt und im Namen der Zivilisation den Menschen selbst "kolonisiert". Sie sei jedoch zuversichtlich, dass dieses Denkschema überwunden werden könne. "Aktive Minderheiten", die zum Beispiel mit Veganismus oder anderen alternativen Lebensformen experimentieren, würden bereits Wege aufzeigen.
"Und es ist höchste Zeit, etwas vorzuschlagen", sagt Pelluchon. "Ich glaube, wir alle wissen bewusst oder unbewusst, dass es nicht möglich ist, so weiterzuleben."
(fka)

Corine Pelluchon: "Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung"
Aus dem Französischen von Ulrike Bischoff
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2021
320 Seiten, 50 Euro

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