Corine Pelluchon: "Ethik der Wertschätzung"

Moral ohne Zeigefinger

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Das Cover des Buchs: Ethik der Wertschätzung von Corine Pelluchon
Pelluchon entwickelt eine Ethik, die auf Empathie und Demut setzt statt auf Selbstgerechtigkeit. © wbg academic
Von Marko Martin · 09.07.2019
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Die französische Philosophin Corine Pelluchon schreibt ohne moralistisches Gehabe eine „Ethik der Wertschätzung“. Leider wird ihr Hohelied auf Empathie recht vage, sobald es um Fragen der Ökonomie und des konkret Politischen geht.
Was ist das eigentlich, jenes "gute Leben", das ethisch grundiert ist und von Sozialreformern und Moralphilosophen ebenso wie von Theologen seit jeher angemahnt wird? Nicht nur, dass dieses – vor allem unter der Modebezeichnung "Achtsamkeit" – inzwischen unter Banalitätsverdacht zu geraten droht: Auch eine religiöse Letztbegründung der Tugend ist inzwischen obsolet geworden.
Die in Paris lehrende Philosophin Corine Pelluchon folgt in ihrem Buch "Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt" nun jedoch keineswegs der gegenwärtigen Tendenz, bei der Behandlung von Ethik- und Umweltthemen in einen Wettbewerb zu treten, bei welchem dann rigider Moralismus die höchste schuldbewusste Aufmerksamkeit erhält. "Bevor man von Verboten und Imperativen, von Pflichten und Verpflichtungen, von Gut und Böse spricht, muss man danach fragen, auf welche Weise wir moralische Akteure sein können."

Dualismus überwinden, ohne esoterisch zu werden

Fündig wird sie in ihrem der Genese und den Praktiken der Wertschätzung gewidmeten, transparent strukturiertem Buch bei dem mittelalterlichen Mystiker Bernhard von Clairvaux ebenso wie bei denkbar nicht-mystischen neuzeitlichen Denkern wie Immanuel Kant, Hannah Arendt oder Richard Sennett.
Wertschätzung nämlich kann sich aus vielen Quellen speisen, und kommt noch Neugier dazu, wird auch vermeintlich Fernes und Abstraktes plötzlich ganz konkret: "die Natur" etwa oder "die Tiere", deren Leiden und Sterben Corine Pelluchon auf eine eindringliche Weise beschreibt, die nie in apodiktische Traktat-Prosa abgleitet und gerade deshalb zutiefst aufrüttelnd ist. Als Hindernis individuell und gesellschaftlich praktizierter Wertschätzung macht sie dabei jenen verhängnisvollen Dualismus aus, der in pseudo-neutraler Manier angebliche Gegensätze markiert, um diese dann hierarisch einzuhegen: Mann-Frau, Kultur-Natur, Geist-Körper, Mensch-Tier. Es ist das große Verdienst der Autorin, eine von ihr stattdessen angestrebte "Ganzheit" gänzlich ohne esoterisches Geschwurbel zu skizzieren.

Mangelde Alternativvorschläge

So plausibel Pelluchons Analyse einer hektischen, auf Wachstum orientierten Ökonomie abr auch ist – die, nebenbei bemerkt, einen Sozialstaat als quasi institutionalisierte Wertschätzung erst möglich und finanzierbar macht – so vage bleiben ihre Alternativvorschläge für ein "gemeinsames gutes Leben" ohne Gelddominanz und Raubbau an der Natur. Ein Grünen-Vordenker wie Ralf Fücks hat da in seinem Buch über die "Grüne Revolution", ökologische Marktwirtschaft und das potentiell Profitable zu entwickelnder Umwelttechnologien zweifellos mehr zu bieten.
Weshalb ist Corine Pelluchon dennoch mit Gewinn zu lesen? Weil sie in der Tradition der französischen Moralisten, deren Hauptanliegen nicht etwa die Predigt war, sondern das Erkennen der "moeurs", der jeweils aktuellen Sitten, uns alle zu einer Aktivität aufzustacheln versucht, die sich nicht in selbstgerechtem Aktivismus erschöpft:
"Die Tugenden selbst können Laster werden, der Mut kann sich in Verwegenheit verwandeln und die Großmut in Anmaßung, wenn diese moralischen Dispositionen nicht aus der Wertschätzung kommen und ihnen nicht Demut vorangeht. Diese Erfahrung reinigt unseren Geist und unser Herz, indem sie den Hochmut vertreibt und uns verstehen lässt, dass das Böse, dessen wir die anderen anklagen, sich auch in uns selbst findet. Die Demut ist die erste Etappe der Wertschätzung; ihre Rolle besteht darin, das Subjekt daran zu erinnern, stets wachsam zu bleiben und die Allmacht zu vermeiden."

Corine Pelluchon: "Ethik der Wertschätzung"
Aus dem Französischen von Heinz Jatho und Annette Jucknat
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2019
304 Seiten, 50 Euro

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