Fühlen vs. Wissen

Entwickeln wir uns zu einer Emotionsgesellschaft?

29:30 Minuten
Illustration: Junge weibliche Figur, die in der rechten Hand ein Herz und in der linken ein Gehirn balanciert.
Wissen und Emotionen als Gegensätze: Diese Sichtweise ist wissenschaftlich überholt. © Getty Images / iStockphoto / Nadia Bormotova
Von Susanne Billig und Petra Geist · 06.10.2022
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Emotionen spielen im gesellschaftlichen Leben und der Politik eine immer größere Rolle, so scheint es. Selbst in der Beurteilung von Sachfragen werden als Argumente häufig Gefühlslagen vorgebracht. Was bedeutet das für die Gesellschaft insgesamt?
Menschen sehen sich gern als rein rationale Wesen, die ihre Entscheidungen ruhig und vernünftig erwägen. Ganz so ist es nicht, sagt der Soziologe Sighard Neckel, Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel an der Universität Hamburg. Er nennt Gefühle eine „Fundamentalkategorie“.
„Was wir tun, wie wir handeln, wie wir etwas erleben, wie wir etwas deuten – all das ist mit Emotionen ganz stark verbunden und ohne Emotionen gar nicht zu denken“, erklärt er. „Das ist dieses Fundamentale. Der Mensch ist eben nicht nur ein rational kalkulierendes Wesen, sondern der Mensch ist ein Akteur, der in seinen Handlungen sehr stark von Emotionen geprägt ist.“
Derzeit stellt sich die Frage: Spielen Emotionen im gesellschaftlichen Leben und in der Politik eine immer größere Rolle? Von entfesselten „Wutbürgern“ ist die Rede. Von jungen Menschen als einer ganzen „Generation beleidigt“. Von Empörungswellen, die große Teile der Bevölkerung erfassen.

Man kann sagen, dass man einen Zugang zu unserer modernen Alltagskultur auch gerade dadurch gewinnen kann, dass man sich mit den Gefühlen beschäftigt, die in dieser Alltagskultur eine Rolle spielen, und auf die Bedeutung, die Gefühle heute im modernen Alltagsleben haben.

Sighard Neckel, Soziologe

Wer die Rolle von Emotionen einordnen möchte, steht vor einer komplexen Aufgabe. Auf der einen Seite wurzeln Gefühle tief in der Biologie. Gleichzeitig rahmt und prägt die Kultur das emotionale Erleben.
„Emotionen verändern sich mit den Kulturen und natürlich auch den Institutionen, in denen sie operieren“, sagt Ute Frevert. Sie ist Direktorin des Forschungsbereiches „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Sie erklärt: „Es gibt Kulturen, es gibt Gesellschaften und es gibt gesellschaftliche Institutionen, die einen sehr starken Einfluss auf Gefühle ausüben, die Gefühle entweder tabuisieren oder in den Himmel loben, die ihnen ein hohen oder einen geringen Wert zuschreiben. Und je nachdem, wie diese gesellschaftliche und kulturelle Rahmung von Gefühlen verläuft, werden Emotionen auch anders empfunden und anders geäußert.“
Wenn Gesellschaften starke Veränderungsprozesse durchlaufen, ändern sich auch ihre Gefühlscodes, also ihre ungeschriebenen Vereinbarungen, welche Gefühle in welchen Situationen als angemessen gelten.

Eine neue Gefühlskultur in der Politik

„Als eine junge Generation von oppositionellen sozialen Bewegungen Anstoß genommen hat an vielen Fehlentwicklungen der modernen Gesellschaft – von der Hochrüstung über die Umweltverschmutzung bis hin zur Ungleichbehandlung von Männern und Frauen – und diese sozialen Bewegungen einen neuen emotionalen Code auch in die öffentliche Diskussion gebracht haben.
Die Gefühlshistorikerin beschreibt die Partei der Grünen. Mit ihr wanderte eine neue Gefühlskultur in die Parlamente. Und über Fernsehbilder konfrontierten die Grünen auch ältere Menschen damit:
„Durch andere Kleidung, durch eine andere Sprache, durch eine andere Art der Adressierung, durch eine andere Art des Umgangs auch untereinander, viele Umarmungen und eine Solidarität auch in der in der Gruppe. Eine Zärtlichkeit in der Gruppe, die anderen Parteien längst ausgetrieben war, wenn sie sie jemals hatten“, sagt Ute Frevert.
Einzug der Grünen in den Bundestag 1983. Marieluise Beck-Oberdorf, (r) und neben ihr Petra Kelly mit Blumen auf dem Pult während der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages in Bonn am 29.03.1983. Neben ihnen die SPD Politiker Willy Brandt.
Einzug der Grünen in den Bundestag im Jahr 1983: Eine neue Gefühlskultur wanderte in die Parlamente, sagt Ute Frewert.© picture alliance / dpa
Die ältere Generation reagierte darauf zunächst mit Ablehnung und Verachtung, ließ sich aber allmählich mitnehmen. Die bemühte Steifheit der Nachkriegsjahre ist längst aus der öffentlichen Sprache verschwunden. Moderatorinnen und Moderatoren im Radio duzen sich und auch die Chefin, der Chef dürfen im Büro mal locker in Jeans und Turnschuhen auftreten.

„Natürliche Gefühle“ als Waffe

Authentisch sein. Echt. Sich zeigen, wie man wirklich ist. Dieses Ideal, das die Gefühlskultur heute stark prägt, haben weder die Umweltbewegten der 1980er- noch die Hippies der 1960er-Jahre erfunden.

Joseph von Eichendorff
Der Adel und die Revolution


Prinz Rokoko, hast dir Gassen
Abgezirkelt fein von Bäumen
Und die Bäume scheren lassen,
Dass sie nicht vom Wald mehr träumen.

Quellen, die sich unterfingen,
Durch die Waldesnacht zu tosen,
Lässt du als Fontänen springen
Und mit goldnen Bällen kosen.

Springbrunn in dem Marmorbecken
Singt ein wunderbares Lied,
Deine Taxusbäume recken
Sehnend sich aus Reih und Glied.

Es stammt vom aufstrebenden Bürgertum des 18. Jahrhunderts. Damals wurden die „natürlichen Gefühle“ zu einer Waffe im politischen Kampf des Bürgertums gegen seinen Gegner, den Adel.
Der Adel galt aus bürgerlicher Sicht als ein Stand, der Gefühle verkünstelte, der Gefühle einsetzte als eine strategische Waffe, der Gefühle vortäuschte und der eigentlich gar keine Gefühle hatte: vielleicht noch das Gefühl der Gier nach Sex nach Macht, nach Geld – aber die guten Gefühle auf jeden Fall nicht.
In ihren Kulturkämpfen brachte die Jugend des 20. Jahrhunderts das nicht zugerichtete, befreite Gefühl gegen die Elterngenerationen in Stellung – ähnlich wie ihre Ururgroßeltern gegen den Adel.
Eines konnten sie alle nicht vorhersehen: Wie mühelos die Verwertungsmaschinerien des Kapitalismus sich das authentische Gefühl einverleiben würden. Im Nachmittagsprogramm privater Fernsehsender, in ganzen Gattungen der Literatur, in Therapieprogrammen aller Art wird: gefühlt, offenbart, gestanden, intim mitgeteilt.
Dem Drang zum emotionalen Ausdruck hat sich auch die Politik inzwischen angeschlossen, sagt Ute Frevert.

Wir sind eigentlich nicht mehr so wahnsinnig daran interessiert, gestanzte Sätze und Formeln zu hören, sondern wir wollen eine Person hinter einer Meinung wissen. Das ist das ‚Give and Take‘. Das ist eine beidseitige Vereinbarung, dass man Emotionen jetzt in die politische Kommunikation einfließen lässt.

Ute Frevert, Historikerin

Emotionale Inszenierung statt Fakten

Sich auf Menschen verlassen, die einen aufrichtigen Eindruck machen – im sozialen Alltag mag das funktionieren. Doch es kann zur Falle werden, wenn mächtige Akteure gezielt mit der Authentizität spielen, sich als authentisch inszenieren und die Erörterung von Sachfragen dabei ins Abseits gerät.
„Natürlich glauben Menschen demjenigen, der sich als authentisch inszeniert – nicht demjenigen, der nachweislich die Wahrheit sagt oder überzeugend argumentiert oder sich auf Expertenwissen beruft“, sagt Nicola Gess.
Die Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft leitet an der Universität Basel ein Forschungsprojekt zum Thema „postfaktischer Diskurs“, also Verschwörungstheorien, Fake News, Lügen und Halbwahrheiten.
Wenn politische Akteure an Emotionen appellieren, statt Fakten zu erörtern, sagt Nicola Gess, müssen die Zuhörenden das Gesagte emotional einschätzen; denn Argumente werden ja nicht geliefert. Nur: Was Menschen „gefühlt“ für wahrscheinlich oder unwahrscheinlich halten, ist stark von persönlichen Umständen geprägt.
Das hängt zum Beispiel ab von ihren religiösen Überzeugungen, von ihren emotionalen Stimmungen oder auch von bestimmten Weltanschauungen, die sie haben.

Aufgeladene Debatten, eklatantes Unwissen

Debatten über die Diskriminierung von Frauen, von People of Color oder Menschen diverser Gender-Identitäten sind Beispiele für emotionsgeladenes gesellschaftliches Ringen um die Aufarbeitung von Unrecht in der Vergangenheit und für gerechte Verhältnisse in der Gegenwart. Obwohl es auch zu solchen Themen zunächst einmal viel Tatsachenwissen zu erwerben gäbe, sagt Stephan Anpalagan.
Der Theologe und Journalist ist Mitgründer der gemeinnützigen Unternehmensberatung „Demokratie in Arbeit“ und engagiert sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus.
„Das Maß an Unwissenheit, wenn es um das Thema Rassismus geht, ist gigantisch“, sagt er. „Es mangelt an fast allem: Es mangelt an Verständnis darüber, was Rassismus eigentlich ist, an Verständnis über historische Zusammenhänge, an Erkenntnissen qualitativer, quantitativer Natur, wie Rassismus in unsere Gesellschaft hineinwirkt, wie Rassismus über Generationen hinweg Menschenleben und Biografien aus der gesellschaftlichen Mitte hinausdrängt.“
Stephan Anpalagan hat in vielen Debatten erlebt: Eklatantes Unwissen hindert Menschen nicht an großer Meinungsfreude zum Thema. Gerade sie reagierten oft irritiert, wenn er sie mit harten Fakten konfrontiere. „Das ist etwas, womit viele Menschen nicht so gut klarkommen, weil es ihr Weltbild zerstört und weil es viele lieb gewonnene Wahrheiten ins Wanken bringt“, sagt er.

Die Perspektive der Betroffenen

Doch wer sich gegen Rassismus engagiert, sieht sich häufig dem Vorwurf ausgesetzt, zu emotional vorzugehen – ungerecht und überzogen zu agieren und die Gesellschaft zu spalten. Stephan Anpalagan dagegen kann die Wut, die Rassismus-Opfer empfinden, gut verstehen.
„Denn die Verhältnisse, so wie sie sind, sind ungerecht, diskriminieren Menschen, sie grenzen Menschen aus. Es gibt unendlichen Rassismus in der Mitte der Gesellschaft und an den Rändern der Gesellschaft, der ist zuweilen tödlich und wir tun noch zu wenig dagegen“, sagt er.
Der Rassismus-Experte erklärt: In vielen Kontexten sei es durchaus üblich, auf Beleidigungen empfindlich zu reagieren. Wenn zur konventionellen Beleidigung ein rassistischer Unterton komme und auf Jahre, ja, Generationen von Diskriminierungserfahrung treffe, verstärke sich die Verletzung noch.
Zwei junge Frauen heben ihre Hände auf der Black Lives Matter Demonstration gegen Rassismus auf der Strasse des 17. Juni. Berlin, 27.06.2020.
Black Lives Matter Demonstration in Berlin: Stephan Anpalagan kann die Wut, die Opfer von Rassismus empfinden, gut verstehen.© imago images/Future Image/ B. Kriemann

Dass Menschen dort natürlich nicht mit der gebotenen Coolness reagieren, sondern empfindlich reagieren und sich das verbitten, oder auch Konsequenzen ziehen und sich dieser sozialen Ausgrenzung nicht mehr aussetzen möchten: Das sollte, wenn man ein empathischer Mensch ist, verständlich sein.

Stephan Anpalagan, Journalist

Abwertung als Strategie

Die Abwertung von Gefühlen hat in Gerechtigkeitsdebatten eine lange Tradition, erklärt die Historikerin Ute Frevert.
„Frauen gelten in der Regel als zu emotional, Männer haben die Rationalität angeblich für sich gepachtet“, sagt sie. „Es ist aber auch ein Abgrenzungskriterium zwischen Generationen. Kinder oder Jugendliche gelten als direkter mit ihren Gefühlen als Erwachsene. Das ist immer auch eine Abgrenzung, eine soziale Differenzierung, die da stattfindet, und gleichzeitig auch eine unterschiedliche Bewertung.“
Für Stephan Anpalagan gärt unter dem Vorwurf der Über-Emotionalität etwas anderes: dass soziale Realitäten neu gedacht werden müssen.
Er erklärt: „Dass auch andere Menschen mitsprechen, dass nicht mehr gilt, was früher immer galt, dass sich diese Welt verändert, und zwar in einem Maß und mit einer Geschwindigkeit, mit der viele Menschen nicht mitkommen. Ich glaube: Wenn man Verhältnisse verändern will, muss man unbequem sein, dann muss man streiten, und es muss Konflikte geben und Reibung. Man wird da durchmüssen als Gesellschaft. Wir müssen als Einzelperson durch –und anders wird es nicht gehen“
Die sozialen Medien spielen in dieser Entwicklung eine zwiespältige Rolle. Auf der einen Seite demokratisieren sie Debatten. Opfer von Rassismus können sich heute sehr viel leichter öffentlich zu Wort melden – auch empören.

Algorithmen fördern Hass in sozialen Medien

Auf der anderen Seite treiben die Algorithmen Erregungskurven systematisch in die Höhe und fördern so auch Wut und Hass.
Für die Fake-News-Forscherin Nicola Gess lassen vor allem die Halbwahrheiten, die in sozialen Medien grassieren, die Grenze zwischen Wissen und Fühlen auf fatale Weise verschwimmen.
„Halbwahrheiten sind Falschaussagen, die zu einem kleinen Teil auf realen Ereignissen, zu einem anderen Teil aber auf spekulativen oder fiktiven Ereignissen basieren, oder auch Aussagen, die einen Sachverhalt extrem verzerrt oder grob übertrieben darstellen oder auch wesentliche Elemente weglassen“, sagt sie.
Und weiter: „Diese kleinen faktoiden Elemente suggerieren Evidenz. Also: Die sorgen dafür, dass diese Falschaussage insgesamt als wahr erscheint, auch wenn nur ein kleiner Anteil von ihr tatsächlich auf realen Ereignissen basiert.“
Lügen respektieren die Autorität der Wahrheit, wenn auch ins Gegenteil verkehrt. Halbwahrheiten hebeln den Unterschied aus.

Irgendwann verschwimmt da alles: Bisschen was stimmt, bisschen stimmt nicht. Der Jongleur von Halbwahrheiten kümmert sich am Ende auch gar nicht mehr darum, was wahr oder falsch ist, sondern es wird einfach das gesagt, was die Leute hören wollen oder was man selbst gern glauben möchte.

Nicola Gess, Literaturwissenschaftlerin

Deshalb helfen Faktenchecks nur bedingt. Denn sie berücksichtigen nicht die Gefühlslage, aus der heraus Menschen mit Fakten konfrontiert werden und sie annehmen oder ablehnen.
So wirken noch die wirrsten Verschwörungsszenarien sogar beruhigend, sagt Nicola Gess, wenn sie bestätigen, was jemand gefühlsmäßig gerne glaubt. „Das fühlt sich gut an, weil das kognitive Dissonanz reduziert“, erklärt sie.

Lügen haben in Krisenzeiten Konjunktur

Lügen und Halbwahrheiten sind keine Erfindung der Moderne. In Wissens- und Vertrauenskrisen haben sie Konjunktur. Wenn soziale Spaltung und Kälte zunehmen und etablierte Autoritäten versagen, suchen Menschen neue Orientierungshilfen – bei Menschen, die den eigenen Gefühlen Ausdruck verleihen. Fatalerweise sind das in Krisenzeiten oft Lügner.
Der Journalist und Corona-Querdenker Ken Jebsen ist so ein Krisengewinnler, der Orientierungslose einsammelt und sich als Pfadfinder in schwierigem Gelände anbietet. In seinen Videos erzählt Ken Jebsen tempo- und abwechslungsreiche Geschichten, oft mit persönlichem Touch.
„Er hat sich nicht nur als seriöser Journalist inszeniert. Er hat sich zugleich auch als enger Vertrauter inszeniert, indem er über Freunde von sich berichtet hat oder irgendwelche Ausflüge, die er in der jüngsten Zeit und unternommen hat, um seine Verschwörungstheorie, dass hinter den Maßnahmen gegen Corona eine große Verschwörung globaler Eliten steckt, plausibel zu machen“, erklärt Nicola Gess.
Plausibel werden die Verschwörungsmythen im Gefühl seiner Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Kumpel-Storys schaffen Vertrauen. Die Trennlinien zwischen Fakten, Spekulationen und Verschwörungsmythen sind kaum noch erkennbar.

Halbwahrheiten als Tarnung für Fake-Journalismus

Der Journalist Claas Relotius publizierte sieben Jahre lang überaus erfolgreiche Beiträge im Magazin „Der Spiegel“, bis er 2018 aufflog. Ergreifend und hautnah beschrieb er die Lage in fernen Ländern: „An einem frühen Morgen in diesem Sommer geht Alin, ein Mädchen mit müden Augen, 13 Jahre alt, allein durch die noch dunklen Straßen der Stadt Mersin und singt ein Lied.“
Zum großen Teil frei erfunden, Halbwahrheiten waren seine Tarnung.
„Es gab immer wahre Elemente in diesen Geschichten“, erklärt Nicola Gess. „Er ist tatsächlich an einem bestimmten Ort geflogen oder hat tatsächlich mit einer bestimmten Person gesprochen und diese Elemente haben sozusagen zur Tarnung gedient für den Rest, der eben keine Entsprechung in der Realität hatte, und so konnte er dann eben auch die entsprechenden Faktenchecks beim ‚Spiegel‘ selbst natürlich überstehen. Ja, das ist ein interessantes Beispiel.“
Die Geschichten, die Claas Relotius erzählte, hatten oft ein Happy End. In den unübersichtlichen Verhältnissen der Gegenwart erwischte es bei ihm zuverlässig die Bösen, die Guten wurden belohnt. Täter waren Täter, Opfer Opfer. Und es wimmelte von stereotypen Figuren.
Der ehemalige "Spiegel"-Reporter Claas Relotius erhielt 2017 den Reemtsma Liberty Award.
Gefakte Reportagen: Der ehemalige "Spiegel"-Reporter Claas Relotius sprach gezielt die emotionalen Erwartungen des Publikums an.© picture alliance / Eventpress / Golejewski
Zielsicher bediente der Journalist die emotionalen Grundannahmen und Erwartungen des Publikums: „In klappernden Sandalen läuft sie durch die Fabrikviertel, vorbei an verfallenden Gebäuden, an Hunden, die noch schlafen, und an Laternen ohne Licht. Das Lied, das sie singt, handelt von zwei Kindern, denen kein Leben offenstand und die doch, als sie schlimmstes Leid ertragen hatten, gerettet werden sollten.“

Gefährdet die Emotionalisierung die Demokratie?

Top-ausgebildete Redakteure, die sich von gefakten Reportagen einlullen lassen. Hochfliegende Emotionen im Internet. Bauchgefühle bei der Beurteilung politischer Sachlagen. Politikerinnen und Politiker, die Authentizität inszenieren. Bringen so viele Emotionen den demokratischen Grundkonsens der Gesellschaft in Gefahr?
Ute Frevert hält diese Befürchtung für übertrieben. „Politik ist immer schon, seit es bürgerliche und partizipative demokratische Politik gibt, ein Geschäft mit Gefühlen – und zwar von beiden Seiten“, sagt sie.

Je mehr Bürgerinnen und Bürger sich in die Politik mischen dürfen, dort Rechte erkämpft haben, Repräsentanten wählen können, diese Repräsentanten auch zur Rechenschaft ziehen können und das auch tun, möglicherweise Regime stürzen können durch Revolution, desto wichtiger wird die Kommunikationsform über Gefühle.

Ute Frevert, Historikerin

Als Könige noch fern vom Volk autoritär regierten, spielten die Gefühle der breiten Bevölkerung keine politische Rolle – die Herrscher brauchten sich nicht darum zu kümmern.
Aber in dem Moment, in dem das Volk selber Souverän wird, wird es auch der Souverän über seine Gefühle und nutzt diese Gefühle auch, um die Herrschaft herauszufordern“, sagt Ute Frevert. „Umgekehrt setzt die Regierung dann auch Gefühle ein, um das Volk bei der Stange zu halten. Das findet man in Demokratien ebenso wie in Diktaturen.“
Nicht einmal die harten Naturwissenschaften scheuen heute die Emotion. Forscherinnen und Forscher treten engagiert auf Science-Slam-Bühnen auf oder mixen in Podcasts Plaudereien über ihr Privatleben mit Laborerkenntnissen. Die aktuelle Gefühlskultur ist keine Anti-Wissensbewegung.

Wissen und Fühlen gehören zusammen

Wer behauptet, es gebe einen grundsätzlichen Shift von der Wissens- zur Emotionsgesellschaft, stellt sich Wissen und Emotionen als Gegensätze vor – doch diese Sichtweise ist wissenschaftlich überholt. Das Gehirn herrscht nicht als rationale Denkmaschine über den Körper, sondern Denken und Fühlen sind vielfältig ineinander verschränkt.
Deshalb versuchen gute Pädagoginnen und Pädagogen, Lernende zu inspirieren und zu begeistern – so lernt es sich besser. Sachbücher sind erfolgreicher, wenn sie neben der Faktenvermittlung auch das Gefühl ihres Publikums anzusprechen wissen.
Die unauflösbare Verbindung von Wissen und Emotion unterstreicht auch der Soziologe Sighard Neckel.
„Wenn ich etwas wissen möchte, wenn ich etwas erforschen möchte, so wird das von vielfachen Emotionen begleitet, ohne die, denken wir etwa an die Neugier, ich auch gar nicht in der Lage wäre, tatsächlich Wissensprozesse von Anfang bis zum Ende zu durchlaufen“, erklärt er.

„Das Wissen erobert die Emotionen“

Umgekehrt sind Gefühle heute Gegenstand einer breiten Forschung vieler Disziplinen – Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Neurowissenschaften.

Das Wissen erobert die Emotionen. Die Emotionen werden stärker, wie man sagen kann, kognitiviert: Sie werden selbst zu einem Gegenstand des Lernens und des Erlernens in einem sehr expliziten, erklärten Sinne und das ist, was unsere Gegenwart auszeichnet gegenüber früheren Zeiten.

Sighard Neckel, Soziologe

Vor diesem Hintergrund erweise sich sogar der Begriff der Wissensgesellschaft selbst als problematisch.
„Weil dieser Begriff die Vorstellung nahelegt, unsere gesamte Existenz, das Wirtschaftsleben und das soziale Zusammenleben beruhe, rein auf Wissen. Das ist eine Vorstellung, die möglicherweise bestimmte Bildungsschichten haben, die aber für die Gesellschaft insgesamt, glaube ich, nicht zutreffend ist“, so der Soziologe.
Und weiter: „Unsere Emotionen beruhen auf einem bestimmten Wissen, auf einer bestimmten Erfahrung, auf bestimmten, erlernten Regeln. Auf einer bestimmten Beurteilung von sozialen Situationen. All das ist stark auch kognitiv, und andersherum sind Wissensprozesse gar nicht denkbar, ohne dass sie von Emotionen begleitet werden.“
Darum kann auch nicht die Rede davon sein, die Gesellschaft zerfalle heute in grundsätzlich neuer Weise: Hier die reflektierten Expertinnen und Experten, die Qualitätsmedien und vernünftigen Diskussionen, dort die Wutbürger oder die überempfindlichen Opfer von Rassismus.
Die Fake-News-Forscherin Nicola Gess sieht keinen Trend von der Wissens- zur Emotionsgesellschaft. „Man könnte auch gute Gründe dafür finden, warum gerade in den letzten Jahren, auch gerade in der Corona-Zeit, genau das Gegenteil der Fall war – also Expertenwissen und die Notwendigkeit von Expertinnen und Experten vielleicht sehr viel präsenter ist als noch zuvor.“

Plädoyer für mehr Aufklärung

Nicht Gefühl, Aufgeregtheit oder Empörung sind ein Problem für die demokratische Debatte. Aber ein Mangel an Wissen. Stephan Anpalagan führt in seiner Arbeit gegen Rassismus und Rechtsradikalismus keinen Feldzug gegen Empörungen, sondern für mehr Wissen und Aufklärung.
„Grundsätzlich halte ich es für dringend geboten, mehr und fundierter über Rassismus aufzuklären“, fordert er. „Darüber aufzuklären, wie Rassismus Rassen konstruiert, wie daraus Werturteile abgeleitet werden, wie es dazu führt, dass Menschen berufliche Karrieren verwehrt werden. In der Politik, in der Gesellschaft, den Medien, den Sicherheitsbehörden und dass man Studien durchführt und auf struktureller Ebene versucht, Veränderungen herbeizuführen.“
Es ist auch ein Problem für die demokratische Gesellschaft, wenn die geteilte Wirklichkeit, ein Begriff der Philosophin Hannah Arendt, verloren geht. Wenn der Respekt dafür verloren geht, dass sich Fakten und Tatsachenwissen nur in mühsamer Arbeit – durch Wissenschaft, Experiment und Kontrolle oder durch gründliche Lebenserfahrung – herausfinden lassen.
Wer Spekulationen oder gar Lügen zur „alternativen Fakten“ hochstilisiert, zerstört die geteilte Wirklichkeit und damit die Basis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Denn debattiert werden kann und soll: über die Frage, wie die Gesellschaft in der gemeinsamen Wirklichkeit handeln sollte.

Desinformation zerstört die Gesellschaft

Desinformationen müssen gründlich befragt werden, sagt die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess, damit wir besser gegen sie gewappnet sind. Dazu empfiehlt sie literaturwissenschaftliche Verfahren und stellt dem reinen Faktencheck einen Fiktionscheck zur Seite.
„Wie war das denn jetzt eigentlich gemacht? Diese Desinformation, die ich da jetzt widerlegt habe, wie war die aufgebaut, wie hat die eigentlich funktioniert?“ Sie rät dazu, sich die Form der Desinformation anzuschauen.
„Das hilft, denke ich, auch beim nächsten Mal vielleicht etwas aufmerksamer zu sein oder vielleicht nicht ganz so anfällig zu sein. Also: Was wird eigentlich erzählt und was wird da transportiert? Was sind das für Überzeugungen oder auch Ängste, vielleicht auch bestimmte Ressentiments, die hier aufgegriffen, die hier angesprochen werden?“
Politische Auseinandersetzungen sind auch in einer Demokratie immer emotional getränkt. Wenn Menschen Missstände in ihrem Leben deutlich wahrnehmen – Existenzsorgen, schlechte Arbeitsbedingungen, Ungerechtigkeit, Einflusslosigkeit, Diskriminierung – reagieren sie vielleicht laut und emotional anstatt ruhig und cool.

Streit gehört zur Demokratie

Doch: So lange sie mit ihrer Kritik auf dem Boden der Tatsachen bleiben, helfen sie, die demokratische Gesellschaft lebendig zu halten, erklärt die Gefühlshistorikerin Ute Frevert.
„Eine demokratische Gesellschaft, die nicht streitet, in der es keine Möglichkeit gibt, Empörung und Widerspruch und auch Wut zu äußern, wäre eine auf still gestellte Gesellschaft, in der sich nichts mehr bewegt und in der Machtverhältnisse festgeschrieben werden und von daher nicht mehr viel los ist“, sagt sie.
Und erklärt: „Insofern können durchaus auch negativ apostrophierte Gefühle einen sehr positiven Effekt hervorrufen. Wie auch Angst durchaus etwas nicht nur etwas Lähmendes sein muss, sondern auch etwas Mobilisierendes sein kann: Das Menschen auf die Straße bringt und auf diese Weise auf Missstände, auf Probleme aufmerksam macht, die dann auch von der Politik bearbeitet werden müssen.“

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