Freya von Moltke und der Kreisauer Kreis

Sigrid Brinkmann im Gespräch mit Erik von Grawert-May · 25.04.2011
Freya von Moltke gehörte zu den Mitbegründern des Kreisauer Kreis, einer Gruppe von Widerstandskämpfern im Nationalsozialismus und sie war die Frau des von den Nazis hingerichteten Helmuth James Graf von Moltke. Erst vor wenigen Jahren sind die Briefe zwischen ihr und ihrem Mann wärend seiner Verhaftung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.
Sigrid Brinkmann: Vor wenigen Wochen, am 29. März, jährte sich der 100. Geburtstag Freya von Moltkes, und aus diesem Anlass erschienen gleich zwei Biografien, die ihre Rolle in der Geschichte des deutschen Widerstands würdigen. Die Historikerin Frauke Geyken und die Politikwissenschaftlerin Sylke Tempel zeichnen - sehr unterschiedlich im Ton und im Umgang mit Quellen - nach, wie Freya von Moltke als Verbündete ihres Mannes wirkte.
Sie gehörte zu den Mitbegründern des Kreisauer Kreis, einer Gruppe von Widerstandskämpfern im Nationalsozialismus und sie war die Frau des von den Nazis hingerichteten Helmuth James Graf von Moltke. Erst vor wenigen Jahren sind die Briefe zwischen ihr und ihrem Mann wärend seiner Verhaftung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.

Helmuth James von Moltke wurde am 10. Januar 1945 vom Volksgerichtshof beziehungsweise von Roland Freisler wegen Defätismus zum Tode verurteilt und 13 Tage später in Plötzensee hingerichtet. Zeitgleich zu den Lebensbeschreibungen erschienen die Abschiedsbriefe, die das Ehepaar zwischen dem 29. September 1944 und dem 23. Januar 1945 heimlich wechseln konnte.

Diese umfangreiche Korrespondenz, herausgegeben von Helmuth Caspar, dem einzigen noch lebenden Sohn des Paares, und einer Schwiegertochter, dürfte es also gar nicht geben. Freya von Moltke empfand die Briefe deshalb auch als ihren kostbarsten materiellen Besitz und ihr "Allerpersönlichstes", das erst nach dem eigenen Tod der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte. Sie starb am Neujahrstag 2010 in Norwich, Vermont, in den Vereinigten Staaten.

Über das Denken und Tun des Paares Freya und Helmuth James von Moltke und die Bedeutung des Kreisauer Kreises möchte ich in der kommenden halben Stunde - hier in der Lesart - mit Erik von Grawert-May reden. Er ist Unternehmensethiker und wird vielen Hörern sicherlich auch als Verfasser von Politischen Feuilletons und Beiträgen in der Lesart bekannt sein. Willkommen in der Lesart Erik von Grawert-May.

Erik von Grawert-May: Dankeschön.

Brinkmann: 1956 schrieb Freya von Moltke dem ehemaligen Lehrer ihres Mannes, mit dem sie ein paar Jahre später zusammenleben sollte: "Mein einziger Ruhm besteht darin, dass ich Helmuths Frau bin." Drei Jahrzehnte später wurde sie fürs Fernsehen als "Zeugin des Jahrhunderts" befragt, und dabei äußerte sie, dass sie es im Grunde immer unter ihrer Würde gefunden hätte, sich um eine gesellschaftliche Anerkennung zu kümmern - und das war eine Haltung, die sie mit anderen Witwen von Widerständlern teilte. In allen Nachrufen auf Freya von Moltke, die dann im Januar 2010 verfasst wurden, wird sie selbstverständlich als Widerstandskämpferin geehrt. Wann, Erik von Grawert-May, passierte der Sprung in der Wahrnehmung dessen, was diese Frau geleistet hat?

Grawert-May: Ich vermute, es waren die 80er/90er Jahre, in denen dann auch die so genannten Witwen des 20. Juli nach vorne kamen, indem sie etwas veröffentlichten über diese Zeit. Und wahrscheinlich ist es die Drehung in der Frauenfrage überhaupt, in der Emanzipationsdebatte, dass man diejenigen, die früher eigentlich nur ihren Männern gefolgt sind, nun zu Persönlichkeiten aus eigenem Recht vielleicht auch stilisiert, um ihnen die Würde zu geben, die die Frauen heute von sich erwarten dürfen.

Brinkmann: Trotzdem gab es vielleicht verschiedene Etappen. Ich denke zum Beispiel an die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 1989, der postum an Helmuth James von Moltke ging für die Briefe an Freya. Sie fuhr dann nach München, hat für ihren Mann diesen Preis in Empfang genommen. Das waren Briefe, die er vor der Haft und aus der so genannten Schutzhaft im KZ an seine Frau geschrieben hatte. Waren das eventuell auch Etappen, die wichtig waren in der Wahrnehmung dieser Frau, die ja nicht nur Mitwisserin war, sondern dann später auch als Mittäterin, als eigenständige Widerstandskämpferin geehrt wurde?

Erik von Grawert-May: Sicher. Es ist überhaupt die neue Wahrnehmung des Widerstands in diesen letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, die dann auch die Frauen mehr in den Vordergrund gebracht haben und dass man merkte, die waren ja nicht nur einfach so im Schatten ihrer Männer, sondern die haben ja Wunderbares geleistet. Ich glaube, dadurch, dass man sich dem Widerstand und den Widerständlern, den Männern, mehr zuwandte und sie auch politisch wieder eher respektierte als es in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war, hat man die Frauen nun aufgrund der neuen Frage, wie man Frauen zu betrachten hat und was Frauen sind und was Frauen leisten können, mit gewürdigt.

Brinkmann: 1956, nach der Rückkehr aus Südafrika: Freya von Moltke hat von 1947 bis 1956 in Südafrika gelebt bei Teilen der Familie. Die Großeltern ihres Mannes lebten in Südafrika. Ihre Schwiegermutter war dort geboren. Es zogen dann auch nach dem Zweiten Weltkrieg Geschwister ihres Mannes nach Südafrika. Sie war dort umgeben von Familie. Aber sie ist 1956 nach Deutschland zurückgekehrt. Und die Historikerin Frauke Geyken, eine der Biografinnen, sagt, sie habe dann ihr Lebensthema gefunden - die Vermittlung des Kreisauer Erbes. Nun fragt man sich: Wer wollte damals eigentlich schon etwas davon hören, vom Erbe der Kreisauer?

Grawert-May: Eigentlich niemand, jedenfalls nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Das war ja auch ihr Missvergnügen, dass die Deutschen so wenig vom Widerstand wissen wollten, ja dass sie den Widerstand oder die Widerständler eher als Verräter sahen denn als diejenigen, die eigentlich die Bundesrepublik mit gegründet haben und die ihr den guten Ruf verschafft hatten. Deshalb war sie sehr, sehr, sehr wenig angetan von den Verhältnissen in der Bundesrepublik. Und man muss sich eigentlich freuen, dass sie damals schon diese Kreisauer Geschichte in ihrem Kopf weiter wälzte, was dann später eben auch dazu führte, dass das ein Riesenerfolg geworden ist.

Brinkmann: Kreisau, um es vielleicht kurz in Erinnerung zu rufen, war das schlesische Familiengut der Familie Moltke. Kreisau liegt etwa 350 km südwestlich von Warschau. Der Urgroßenkel Helmuth von Moltke hatte es für sein militärisches Verhandlungsgeschick im 19. Jahrhundert geschenkt bekommen. Ab 1942 fanden dann dort auf diesem Familiengut konspirative erste Treffen statt. Und dort wurde begründet, was man den Kreisauer Kreis nennt. Herr von Grawert-May, wie verliefen denn die konspirativen Treffen in Kreisau?

Grawert-May: Die verliefen so, dass die Leute auf das Gut kamen. Da aber im Gut auch Leute waren, die natürlich sehr nationalsozialistisch gesinnt waren, musste man schon vorsichtig sein und war es auch. Zum Teil gab es Spitzel sogar aus der eigenen Familie, die nationalsozialistisch gesinnt waren. Die Moltkes waren nicht rein antinationalsozialistisch. Und da musste man auch vorsichtig sein. Aber man hat das wohl ganz gut gedeichselt und sprach da über alles, was nach dem Ende der nationalsozialistischen Ära entstehen sollte - politisch, außenpolitisch, wirtschaftspolitisch, bildungspolitisch. Und es waren die unterschiedlichsten Leute da, von Pfarrern über Außenpolitiker, Wirtschaftspolitiker, Pädagogen etc., die sich da trafen und eine Art Neugeburt Deutschlands nach dem Krieg und auch sogar Europas konzipierten.

Brinkmann: Kann man sagen, dass kein anderer oppositioneller Zirkel so unterschiedlich zusammengesetzt war wie der Kreisauer Kreis?

Grawert-May: Kann man vielleicht sagen, ja. Ich meine, die Widerständler um Klaus von Stauffenberg waren auch nicht so ganz harmonisch nur aus einer Richtung, nur Generäle oder nur Offiziere, aber vielleicht haben Sie recht, dass Kreisau da mehr differenziert war von der Zusammensetzung als andere Widerstandskreise.

Brinkmann: Also, der Ökonom Otto Heinrich von der Gablenetz gehörte dazu, Adolf Reichwein, Carlo Mierendorff, ein Sozialdemokrat, Theodor Haubach und Julius Leber, ebenso Sozialdemokraten, dann Hans-Bernd von Haeften, der zur bekennenden Kirche um Martin Niemöller gehörte, Adam von Trott zu Solz und natürlich auch Harald Poelchau, der protestantische Gefängnispfarrer aus Tegel, der später - darauf kommen wir dann noch, wenn wir uns genauer um die Abschiedsbriefe kümmern, die das Paar gewechselt hat, kümmern - dort eine entscheidende Rolle spielen sollte.

Die Moltkesche Idee war ja, glaube ich, die von kleinen Gemeinschaften, die sich bilden sollten im Nachkriegsdeutschland. Die waren ja gerichtet auf das, was nach dem Ende, nach dem Tode Hitlers, nach seiner Vernichtung - man kann das ruhig so sagen -, die sie antizipierten, die so oder so kommen würde, sei es, dass er sich selber umbringt, sei es, dass er durch die Alliierten gepackt und gerichtet wird, das war ja darauf ausgerichtet.

Grawert-May: Es war darauf ausgerichtet und es hatte eine Vergangenheit. Das sind die so genannten Löwenberger Arbeitslager, die dann von den Nationalsozialisten pervertiert wurden, wo unterschiedlichste Leute zusammenkamen - Bauern, Arbeiter, Intellektuelle, Gutsbesitzer etc. - und wo sie ein neues Verhältnis zueinander bekommen wollten, die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Milieus oder Schichten aufheben wollten durch gemeinsame Arbeit und durch gemeinsame Diskussionen. Das war die Vorform dessen, was dann in Kreisau später passierte. Und das war gleichzeitig auch mit ein Nukleus, ein Kern dessen, was das Nachkriegsdeutschland prägen sollte. Also kleine Gemeinschaften, wo wieder das Individuum zum Recht kam gegen die Masse, die das Ganze eingebrockt hatte, und wo auch keine Parteien agieren sollten, sondern aus eben diesen kleinen Gemeinschaften sollte sich das ganze Land aufrichten und zusammensetzen. Das hatte diese Vergangenheit in den Löwenberger Gesprächen und Arbeitskreisen. Und Löwenberg war ganz in der Nähe von Kreisau.

Brinkmann: Wie grenzten sich die Kreisauer eigentlich von den Widerständlern des 20. Juli, namentlich von Stauffenberg ab?

Grawert-May: Man kann das nicht so allgemein sagen. Sie haben völlig den Punkt getroffen bei Helmuth James von Moltke. Der hat ja für meine Begriffe fast aggressiv sich gegen die Widerstände vom 20. Juli bekannt geradezu oder ausgesprochen, sogar auch vor denen, er ist da richtig polemisch geworden, weil er nicht den Umsturz wollte, weil er nicht das Attentat wollte. Er sah wie viele andere auch voraus, dass da vielleicht wieder irgendwie eine Dolchstoßlegende vom Zaun gebrochen würde. Und so ein bisschen gab ihm ja die Nachkriegszeit Recht, dass die Deutschen ja gar nicht das wollten und dachten, was sind das für Leute, die da den Hitler umbringen wollten. Also, er war ein Anti-20.-Juli-Mann. Und die Tragödie ist, dass er durch den 20. Juli ja erst wirklich nach Tegel kam und durch den 20. Juli faktisch auch zu Tode kam.

Sylke Tempel: Freya von Moltke. Ein Leben, ein Jahrhundert, Rowohlt Brinkmann: Die Biografin Sylke Tempel zitiert in ihrem Buch Eugen Rosenstock-Huessy, den Lehrer, den Helmuth James von Moltke in Breslau hatte. Er sollte der spätere Lebensgefährte seiner Frau dann ab 1960 sein. Und Rosenstock-Huessy hat nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt: "Ohne Kreisau hätte ich nie wieder Deutschland betreten können. Es gehört die ganze Naivität der Gebildeten dazu, dass die Deutschen Akademiker nicht wissen, wie sie ihren Rang als Teilhaber am Logos 1933 verwirkt hatten und dass sie nicht durch Wissen und Gelehrsamkeit, sondern durch die Kreisauer das Recht haben, in deutscher Sprache weiter zu forschen und zu lehren." - Das war ein kräftiges Statement Rosenstock-Huessys, der ja auch mit den Löwenberger Work-Camps ...

Grawert-May: ... der hat sie gegründet...

Brinkmann: … genau, verbunden war. Es war erwünscht, dass er in Deutschland wieder sich aktiv einbringt als Lehrender. Es gab ja Menschen, die ihn zurückholen wollten auch an die Universitäten.

Grawert-May: Ja, es ist eine großartige Figur in dem ganzen Kreisauer Kreis, zu dem er ja gar nicht genau gehörte, sondern er war eben der Vorläufer, der wichtige Vorläufer. Er ist dann nicht lange in der Bundesrepublik geblieben, vielleicht auch, weil er sah, Mensch, das ist eben doch noch nicht das, was - so ähnlich wie Freya dachte er ja - er sich gewünscht hatte. Aber diese schönen Worte, die er da prägte, das waren auch die Worte, die dann für Freya, wie soll man sagen, so entscheidend waren, dass sie die Liebe zu ihm entstehen ließen, diese zweite große Liebe, die sie hatte. Und ich glaube, das zusammengenommen, der Mann Rosenstock-Huessy und diese neue Liebe, hat dann später das neue Kreisau begründen helfen. Ohne diesen Mann hätte sie es wahrscheinlich - vielleicht tue ich ihr Unrecht - nicht so ausgeprägt machen können, wie sie es dann gemacht hat.

Brinkmann: Freya von Moltke war jemand, der kein wichtiges Amt bekleidet hat. Sie war im üblichen Sinne keine Person des öffentlichen Lebens, aber jemand, der ja nie abließ zu werben für diese Aufgabe, miteinander zu leben. Kann man sagen, dass die Stiftung Kreisau, die 1990 gegründet wurde, und dann später die Stiftung, die ihren eigenen Namen trägt, so etwas wie die Erfüllung ihres Lebens war?

Grawert-May: Ja. Das sagt ja wohl auch Frau Geyken, die Sie schon erwähnt haben, die eine Biografin der beiden. Beide Bücher finde ich wundervoll. Sie werden Freya von Moltke sehr gerecht, die eine so, die andere etwas ausführlicher, von einem Stipendium getragen. Das war ihr Lebensthema, das ist die These von Frauke Geyken. Und ich glaube, das war die Erfüllung ihres Lebens - zusammen mit der Liebe zu Eugen Rosenstock. Für sie war das die prachtvolle Beendigung ihres, eigentlich auch ihres Widerstandslebens. Also, sie hat ihr altes Leben - das sagt sie auch mal, sie wollte kein neues Leben führen nach 1945, sie wollte das alte weiterleben - weitergelebt mit der Weiblichkeit, die sie auszeichnete, einer vergangenen Form der Weiblichkeit, wie ich glaube, und hat das richtig abgerundet ihr Leben. Und insofern, glaube ich, ist es genau richtig zu sagen, das war die Vollendung ihres Lebens. Das war ihr Thema. Und damit hat sie die Vergangenheit mit der Zukunft kurzgeschlossen.

Brinkmann: "Wer meinen Mann kennen lernen will, muss seine Briefe lesen", hat Freya von Moltke einmal gesagt. Und im Grunde trifft das auf sie genauso zu. Die Herausgabe der Abschiedsbriefe ist Dorothee und Harald Poelchau gewidmet. Ohne den Gefängnispfarrer hätte es die geheime Korrespondenz gar nicht gegeben. Auch das ist eigentlich ein Wunder, dass Poelchau, der ja gewissermaßen als U-Boot, als Sympathisant der Kreisauer in Tegel ein- und ausging, nicht enttarnt wurde, oder?

Grawert-May: Ja, großartig, obwohl er hätte enttarnt werden können. Es gab Denunzianten auch im Gefängnis Tegel. Er war ein mutiger Mann, genau wie die anderen auch. Jeder Gang hätte ihn auch das Leben kosten können, denn es war natürlich strengstens verboten, da Briefe auszutauschen - ein großartiger Briefträger.
Brinkmann: Er hat, glaube ich, ja auch konspirative Wohnungen besorgt. Er hat auch Juden versteckt.

Grawert-May: Hat er auch. Er hat alles Mögliche getan. Er war ja auch ein Kreisauer und ein Gefängnispfarrer, wie man ihn sich nicht anders wünschen kann.

Brinkmann: Wir wollen jetzt Auszüge aus Briefen hören, die Freya und Helmuth James von Moltke am 26. Oktober 1944 gewechselt haben:

Freya: Gestern hat mich die Aussicht auf Deinen Tod wieder ganz fest vereinnahmt. Es ist absolut nötig, dass wir sie nicht verlieren. Das sehen zu können und doch nicht zu verzweifeln, sondern die Dankbarkeit zu fühlen und die starke Liebe, das ist unsere Kunst. Vor Dir steht der Tod, vor mir das einsame Leben, in dem unsere Liebe lebendig bleiben muss.

Helmuth James: Mein Herz, seit gestern ist mir mein Tod wieder näher und realer, und ich bin sehr froh darüber. Ich bin trotzdem guten Mutes, oder vielmehr deswegen, und trotzdem entschlossen, für mein Leben zu kämpfen. Aber es ist gar kein Zweifel, dass nur ein Wunder Gottes mich retten kann. Heute im Halbschlaf hatte ich einen merkwürdigen Gedanken, halb Gedanke, halb Traum. Ich kam zur Hinrichtung nach Plötzensee, und da sagte der Henker: >Wie soll ich denn den linken alleine hinrichten ohne den rechten; das geht ja nicht. < Und als man mich ansah, da warst Du an meiner rechten Seite angewachsen, wie die Siamesischen Zwillinge, so dass eine Hinrichtung unmöglich war. Es war sehr lieb und ich wurde ganz wach.

Brinkmann: Ja, der Traum, von dem er gesprochen hat, verstärkt ja, was die Worte bezeugen. Die Liebe des Paares war sehr symbiotisch. War sie das schon immer oder wurde sie es in den späten 30er Jahren und während des Krieges, als das eigene Leben immer stärker in Gefahr geriet?

Grawert-May: Ich vermute, von Freya aus gedacht war diese Liebe immer schon sehr symbiotisch. Das war ihr Mann, auf den ersten Blick war es der und niemand anders. Aber ich denke schon, dass die harten Proben, die sie zu bestehen hatten in den letzten Monaten, die Liebe noch einmal auf einen Gipfelpunkt geführt haben und die beiden dazu gebracht hat, dass sie einen göttlichen Briefwechsel geführt haben, der auch die beiden dazu veranlasste zu sagen, dass sie auf einem hohen, fast auf dem höchsten Niveau des Lebens agierten. Höher hinaus ging es eigentlich nicht. Und das hat die Liebe auch noch mal verstärkt. Ich glaube schon, dass diese sonderbare und extreme Situation dieser letzten vier Monate im Gefängnis die beiden noch einmal dichter zusammengebracht hat.

Brinkmann: Auch ein Brief vom 18. Dezember 44, den wir jetzt hören, bezeugt das, glaube ich, sehr gut:

Helmut James: Mein Herz, ich habe nichts mehr zu schreiben, als dass ich Dich immer wieder ermahnen muss, Dir klar vor Augen zu halten, dass mir nach aller menschlichen Erkenntnis der Galgen absolut sicher ist, dass daher alles Machen und Treiben und Rennen zu keiner menschlichen Hoffnung berechtigt. Nur bitten dürfen wir, und Gott führt es ja doch, wie er will, und er kann mich retten; dass er es will, darum dürfen wir ihn bitten. Aber weiter, mein liebes Herz, kann ich Dich daran erinnern, dass er uns die Gewissheit gegeben hat, dass uns kein Tod trennen kann und dass wir letztlich zusammen ein Schöpfungsgedanke von ihm sind. So ist's, so war's, so bleibt's …

Brinkmann: Herr von Grawert-May, hat Freya von Moltke eigentlich geholfen, sich auf die Verteidigung vorzubereiten?

Grawert-May: Unbedingt. Sie war ja die Stärke, seine Stärke, auch als derjenige, der nun mit ihr den Schöpfungsgedanken Gottes verwirklichte. Das ist ja ungeheuerlich, wenn man es recht bedenkt. Und ohne sie hätte er die Zeit gar nicht durchgestanden. Und gleichzeitig hat sie ihm nicht nur als liebende Person zur Seite gestanden, sondern ihn auch - salopp gesagt - nach vorne getrieben. Sie hat immer gesagt, du bist so kühn und bleibe kühn!

Brinkmann: Wir hören jetzt einen Brief vom 10. Januar 1945, wo Helmuth James von Moltke den zweiten Verhandlungstag vor dem Volksgerichtshof beschreibt:

Helmuth James: Es war in einem kleinen Saal, der zum Brechen voll war. Die Verhandlung spielte sich so ab: Freisler, den Hercher (sc. Wolfgang Hercher, Pflichtverteidiger von Helmuth James) sehr richtig beschrieben hat: begabt, genial und nicht klug, und zwar alles drei in Potenz, erzählt den Lebenslauf; man bejaht oder ergänzt, und dann kommen diejenigen Tatfragen, die ihn interessieren.

(13. Jan. 1945): "Jene dramatischen Worte, die Freisler mir sagte und deren Höhepunkt der Satz war: 'Sehen Sie, Ihr Christentum und wir haben nur eines gemeinsam: Wir verlangen den ganzen Menschen', die sind gar nicht gesagt, um diesen bedeutenden Repräsentanten des Nazismus zu zwingen, sich klar zu bekennen, sie sind nicht gesprochen, um Leuten unseres Schlages, die noch nicht alles begriffen haben, die Augen endgültig zu öffnen, denn dann hätten sie eben nicht zu mir allein gesprochen werden dürfen, sondern vor einem viel größeren Forum - nein, mit diesem Wort hat Freisler als Prophet Gottes mir Gottes Auftrag an mich mitgeteilt. Darum ist es an mich gerichtet gewesen. Das heißt aber, dass Gott mich auf dieser Welt noch brauchen will, ja überhaupt erst anfangen will, mich zu brauchen, dass der 10.1.45 nicht der Schluss meines Lebens, sondern der Schluss meiner Lehrjahre war, dass ich jetzt wie Jona im Bauch des Walfisches bin und wieder ausgespien werde.

Brinkmann: Herr von Grawert-May, kann man sagen, dass Helmuth James von Moltke auf ein Nachleben als anerkannter Widerständler gehofft hat?

Grawert-May: Ja, ich glaube schon. Er hat in Briefen an seinen Sohn das in der Familie zwar belassen, aber er sagte auch später, als er über Freisler und die Verhandlung an Freya schrieb, bitte gib es weiter. Ich glaube schon, dass er das wollte. Ausgesprochen hat er es nicht so oft, was wiederum dafür spricht, dass er kein eitler Mensch war, sondern dass er das lebte, was er dachte. Und trotzdem meine ich, dass ihm das doch ganz gelegen gekommen wäre.

Brinkmann: Er hat den Verlauf des Prozesses ja minutiös festgehalten. Ist das Notierte in den Tagen darauf anderen Vertrauten zugegangen?

Grawert-May: Ja, erst an Freya natürlich und dann, Freya sollte es an Ulla weitergeben. Das ist Ulla Oldenbourg, die von der Christian-Science-Bewegung kam und die er zum Schluss wohl wegen der letzten vier Monate mehr schätzte als das vorher vielleicht der Fall gewesen ist, was dann zur Frage führte - wie war sein Glaube eigentlich?

Brinkmann: Die beiden haben in ihren Briefen oft von Gottes Gnade gesprochen. Und Helmuth James hat ja auch erfahren, dass er als Christ von Roland Freisler verurteilt wurde. Wir hören jetzt einen Brief, der Aufschluss über das Stützende der Bibellektüre gibt:

Helmuth James (30. Sept. 1944): "Ich habe eine Reihe Bibelstellen auswendig gelernt, und die habe ich mir dann täglich morgens und nachmittags ein Mal aufgesagt und immer neues daran entdeckt. ( ... ) Auch pfeife ich immer Kirchenlieder. ( ... ) ob ich geköpft oder gehängt werde, es wird immer das gleiche bleiben: Ich weiß ganz genau, wo ich fest verankert bin. ( ... ) Und dazu sieh Dir den Schluss der ersten Römerbriefstelle auf dem Zettel an. Ich glaube auch nicht, dass ich in dieser Einstellung irgendwie überkandidelt bin, sondern fühle mich ganz im Lot und so, als sei das ganz natürlich gewachsen und nicht etwa jetzt künstlich gezüchtet. Ich hätte auch sonst viel mehr Sorge um Dich, mein Herz.

Brinkmann: Freya von Moltke fürchtete ja später, ihr Mann könne als protestantischer Märtyrer angesehen werden. Entwickelte er in Tegel vielleicht doch etwas Sektiererisches?

Grawert-May: Vielleicht ja, je nach dem, wie man auf Sekten reagiert. Aus amerikanischer Sicht ist das ja gar nicht so schlimm. Und Christian Science, dieser Versuch, mit reinem Denken die psychischen Leiden und physischen Leiden auch auszumerzen, erinnert ein bisschen an Scientology. Und wir kommen so ein bisschen in diese Diskussion rein.

Ich würde sagen, um Helmuth James von Moltke in Schutz zu nehmen: Er ist ein großer bibelfester Mensch gewesen. Er konnte Leute, wie Eugen Gerstenmaier und Alfred Delp, der eine ein evangelischer Theologe, der andere ein Jesuitenpater, er konnte sie mit Bibelpassagen ausbremsen, wenn sie ihm zu optimistisch schienen in ihrer Interpretation von bestimmten Bibelstellen. Ich glaube, das Tegeler Gefängnis, die Zelle war wie eine Kirche - immer in seinen Briefen, Gott behüte dich, und seine Gnade sei mit dir, wie ein Pfarrer von der Kanzel oder vom Altar aus seine Frau behüten will oder seine Frau segnet usw. Es ist ein ausnehmend großartiger Bibelkenner gewesen. Und das kann für Leute von heute dazu führen, dass man denkt, Mensch, so ein Bibelkenner, das gibt's doch gar nicht. Und da gerät er leicht in ein solches Sektierertum. Aber wie gesagt, die Nähe zur Christian-Science-Bewegung ist ja familiär bedingt. Und erst hat er sie abgelehnt und später dann doch nicht mehr, so dass die Frage immer wieder auftauchen wird.

Brinkmann: Gab es denn Indienstnahmen durch Theologen?

Grawert-May: Vielleicht durch Eugen Gerstenmaier, gegen den er sich ja auch wandte in seinen Briefen an seine Frau. Er sprach von den "Eugeniaden". Das war ihm alles ein bisschen zu optimistisch und er wehrte sich dagegen. Also, deshalb kann man nicht sagen, wer wurde in Dienst genommen. Eher ist er jemand, der kritisch, selbst gegen Theologen eines Schlages wie Gerstenmaier und Delp, dem Jesuitenpater, Stellung nahm. Insofern, meine ich, kann man das verneinen.

Brinkmann: Am 11. Januar 1945 erging das Todesurteil. Die beiden Liebenden hatten große Angst vor der unmittelbaren Vollstreckung. Es hat dann noch zwölf Tage gebraucht. Sie wurde am 23. vollzogen. Am 11. Januar schreibt Freya diesen Brief:

Freya (11./12. Jan. 45): Mein Herz, Du lebst noch, wie schön! ( ... ) Es waren furchtbar anstrengende Tage, aber ich war alle Zeit sicher, dass Du in der Sonne der göttlichen Gnade warst. Es gab vieles zum dankbar sein - ich war es auch, aber es war trotzdem das anstrengendste, was ich bisher erlebt habe. Bewusst und langsam sollte ich mich von Deiner Nähe trennen, Schritt vor Schritt, ach Gott, es ist entsetzlich schwer ( ... ) Ach, mein Jäm, heute war ich mir meiner ganzen tiefen, großen Schwäche so bewusst, meiner Armseligkeit, meiner Kleinheit. ( ... ) Ich habe den ganzen Morgen so um Fassung ringen müssen und wollte auch noch nur bei Dir sein, wollte, wollte, wollte und konnte nicht, bis ich nicht mehr wollte, da war's besser. ( ... ) Gestern und vorgestern war ich ganz still und ruhig, aber heute voller Tränen. - Nun gute Nacht, mein liebes Herz! Noch einmal gute Nacht! Noch gehörst Du dieser Welt, der ich Jammergestalt angehöre...

Brinkmann: Am 23. Januar 1945 wurde das Todesurteil vollzogen und Helmuth James von Moltke in Plötzensee hingerichtet. Freya fuhr zwei Tage später zurück zu ihren Kindern nach Kreisau. Die Asche wurde verstreut. Es gibt kein Grab. Aber seitdem es in Kreisau eine Stiftung gibt, haben die Moltkes eine Gedenkplatte auf dem Kapellenberg.

1960 war es, wir hatten ganz zu Anfang kurz darüber gesprochen, dass Freya von Moltke mit 49 Jahren nach Amerika zog zu Eugen Rosenstock-Huessy, dem ehemaligen Lehrer ihres Mannes, dem sie vier Jahre zuvor bewusst begegnet war. Die Witwen des deutschen Widerstands haben nicht mehr geheiratet, Freya immerhin hat das Leben mit dem älteren Vertrauten und auch Geliebten noch sehr genossen. Macht sie auch das, Erik von Grawert-May, zu einer Ausnahmegestalt?

Grawert-May: Ja, denn wirklich, bei der Lektüre denkt man, weil man so ein Pharisäer ist manchmal und denkt, moralischer Rigorismus, das muss doch hier sein. Sie darf doch den Helmuth James, der so gelitten hat, nicht verlassen - hat sie auch nicht. Sie hat einfach einen anderen noch dazu geliebt, der mit der Geschichte von Kreisau so eng verbunden war. Insofern konnte sie auch glauben und lebte es auch, dass sie Helmuth James nicht etwa betrog mit einem zweiten Mann, sondern dass sie ihn weiterführte. So sagt sie auch. Das Projekt von Kreisau wird durch meine zweite Liebe, die ja wie eine Fügung Gottes für sie vom Himmel kam, weitergeführt. Und insofern war es eine Abrundung ihres Lebens, so wie Kreisau zum Schluss, die Stiftung, durch eine zweite Liebe. Ich würde sagen, sie sagt es selbst: Ich bin für die Liebe geboren. Ich habe das Talent zur Liebe. Und das Talent hat sie auch durch ein neues göttliches Geschenk ausgelebt. Sie war eine rheinische Frohnatur und deshalb ist es wunderbar, was sie da machte.

Brinkmann: Zur Lesart gehört am Ende der Sendung eine Lektüreempfehlung. Und die geben heute Sie, Erik von Grawert-May.

Grawert-May: Ja, ich empfehle gerne das Buch von George Friedman "Die nächsten 100 Jahre". Erst dachte ich, über 100 Jahre schreiben, das kann doch keiner, aber er erinnert sich an Tocqueville, der im 19. Jahrhundert auch den Kampf zwischen Russland und Amerika vorausgesagt hat. Ich glaube, er macht unglaubliche Thesen da auf. Und man denkt, das geht doch gar nicht. Er spricht von China, das bald an inneren Widersprüchen zergehen wird. Er spricht von Amerika, das vorne bleibt. Und er spricht von Europa, das zerfällt - auch wegen Deutschland. Und das ist so spannend. Das empfehle ich jedem.

Brinkmann: In welchem Verlag ist es erschienen?

Grawert-May: Campus.

Brinkmann: Davor haben wir über die Abschiedsbriefe gesprochen, die Helmuth James und Freya von Moltke zwischen dem 29. September 1944 und dem 23. Januar 1945 gewechselt haben. Sie sind im C.H. Beck Verlag erschienen, ebenso wie die Freya-von-Moltke-Biographie von Frauke Geyken.

Am Mikrofon verabschieden sich Erik von Grawert-May und Sigrid Brinkmann. Wir beide wünschen noch einen angenehmen Ostermontag.

- Frauke Geyken: Freya von Moltke: Ein Jahrhundertleben, 1911 - 2010, H.C. Beck Verlag
- Sylke Tempel: Freya von Moltke. Ein Leben, ein Jahrhundert, Rowohlt
- Helmut James von Moltke: Briefe an Freya 1939-1945, C.H. Beck Verlag
Frauke Geyken:Freya von Moltke: Ein Jahrhundertleben, 1911 - 2010, H.C. Beck Verlag
Frauke Geyken:Freya von Moltke: Ein Jahrhundertleben, 1911 - 2010, H.C. Beck Verlag© H.C. Beck Verlag
Sylke Tempel: Freya von Moltke. Ein Leben, ein Jahrhundert
Sylke Tempel: Freya von Moltke. Ein Leben, ein Jahrhundert© Rowohlt
Helmut James von Moltke: Briefe an Freya 1939-1945
Helmut James von Moltke: Briefe an Freya 1939-1945© H.C. Beck Verlag
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