Freunde am Berg

12.06.2013
In den Niederlanden liegen die Bücher von Stephan Enter stapelweise in den Läden. "Im Griff" ist der zweite ins Deutsche übersetzte Roman des Bestsellerautors. Eine Geschichte von vier jungen Bergsteigern, die ihr Leben weniger im Griff haben als die Gipfel auf den Lofoten.
Irgendeinen Grund muss es ja geben, dass Menschen ihre Gesundheit riskieren, um auf Berge zu steigen. Solange sie nur den richtigen Griff haben, und sich nicht was tun, erleben sie ein "intensives Lebensgefühl". So liest es sich jedenfalls im neuen Roman des niederländischen Erfolgsautors Stephan Enter.

"Ein überwältigendes Erlebnis von Freiheit und Glück, bei dem nicht die Füße und Hände den Berg bezwangen, sondern der Felsen und der Himmel und die klare Luft einen an die Hand zu nehmen schienen – mit nach oben."

Von einem "Rausch" weiß der Erzähler zu berichten, vom Spüren des Körpers, vom Erleben der eigenen Stofflichkeit, aber auch von einem Schärfen der Sinne. Stephan Enters "Im Griff" erzählt genau von diesem trügerischen Gefühl: Wenn man einen unwirtlichen Berg bezwingen kann, dann hat man auch das Leben - ja - "im Griff". Dass dies bekanntlich nicht ganz so einfach und schon gar nicht folgerichtig ist, das begreifen die vier Protagonisten des Romans erst allmählich. Genau genommen brauchen sie 20 Jahre dafür.

In Rückblicken aus den jeweiligen Perspektiven erinnern sich die inzwischen 40-jährigen Paul, Vincent und Martin an ihre Studienzeit vor 20 Jahren - aber weniger wegen des Studiums als vielmehr wegen der gemeinsamen Bergwanderungen in den norwegischen Lofoten. Dort waren sie damals - die drei so unterschiedlichen jungen Männer - mit einer Frau unterwegs, der Kommilitonin Lotte. Charismatisch, aber auch unberechenbar und wenig zu fassen. Beziehungsfragen stellen sich.

Schmerzliche Erfahrung der Entfremdung
Vor allem jedoch arbeiten sich alle vier aneinander ab. Sie sind Freunde, aber sie kämpfen auch miteinander. Es geht um unterschiedliche Sichten auf das Leben und verschiedene Erwartungen an das, was da noch kommen wird - nach dem Studium, nach der Jugend. Dort - in der sozialen Wirklichkeit.

Die vier spüren auch die unterschiedliche soziale Herkunft. Während einer sich ehrgeizig hocharbeiten musste, wurde dem anderen durch die Eltern eine Wohlstandsgarantie gegeben. Dennoch verbindet sie mehr als sie trennt. Zumindest damals, als sie jung waren. Jetzt, wo sie sich wieder treffen, 20 Jahre danach, spüren sie mit einem Schlag die Entfremdung. Eine schmerzliche Erfahrung, die wohl jeder kennt: Die Freunde aus der Jugend sprechen inzwischen eine andere Sprache. Sie erinnern sich auch unterschiedlich an das Geschehene. Etwa an den Kletterunfall, den Lotte erlitt. Der alle vier plötzlich die Gefahren spüren ließ, die sie gerne verdrängten.

Stephan Enter, der vor vier Jahren noch enttäuschte, als er seinen ersten Roman auf Deutsch vorlegte, ist nun literarisch eindeutig mehrere Schritte weiter. Er hat einen eigenen, authentischen Ton gefunden. Er verbindet die Erzählstränge mit einer beeindruckenden Eleganz, die zuweilen sogar allzu perfekt wirkt und in bestimmten, wenigen Momenten die Grenze zur ästhetischen Gediegenheit überschreitet. Aber spätestens mit der Zuspitzung der Ereignisse beim Wiedertreffen 20 Jahre danach findet Stephan Enter die nötigen Überraschungen und Wendungen wieder, die ein Roman braucht.

Am Ende bleiben Fragen: Wo kommen wir her? Was prägt uns? Was können wir ändern? Was werden wir nie los? Was hält uns im Griff? Stephan Enter stellt uns diese Fragen und hält zum Glück keine Antworten bereit.

Besprochen von Vladimir Balzer

Stephan Enter: Im Griff
Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby
Berlin Verlag, Berlin 2013
240 Seiten, 17,99 Euro
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