In Grönland kippt der Blick

15.02.2011
Die aus Südkorea stammende Österreicherin Anna Kim macht sich auf den Weg nach Grönland, um über das Reisen und die Identität nachzudenken. Und plötzlich zu entdecken, dass sie in dieser fremden Welt heimisch ist – als Fremde.
"Invasionen des Privaten" – seltsamer Titel für ein Reisebuch! Tatsächlich ist Anna Kims literarischer Essay eher ein Buch über das Reisen. Sie beschreibt die Situation des Reisenden, der einerseits nicht dazugehört, andrerseits ständig ausgefragt wird. Das nennt sie "Invasionen des Privaten" (also ein genetivus objectivus): Die Reisende ist wie alle Reisenden "preisgegeben", weil zwischen ihrer Identität, so wie sie sie sieht, und der Identität, die die anderen ihr zuschreiben, ein Abgrund entsteht.

Es ist also vor allem ein Buch über Identitäten. Das liegt nahe bei einer in Korea geborenen Österreicherin, die 1978 als Kleinkind mit den Eltern nach Deutschland kam und seit 1983 in Wien lebt. 2008 erschien ihr Roman "Die gefrorene Zeit" vor dem Hintergrund der vielen in den Jugoslawienkriegen vermissten Personen. Auch da ging es um Identität: Was macht einen Menschen aus? Wodurch ist er unverwechselbar?

Anna Kim beschreibt die grönländische Hauptstadt Nuuk (dän. Godthåb), ihre seltsamen, verschlungenen Pfade und hölzernen Gehsteige und Stufen, die an die berühmte Escher-Treppe erinnern, auf der man nicht weiß, ob es auf- oder abwärts geht. Kurioserweise verspürt sie dieses Gefühl der Desorientierung bei einem Ausflug ins Inlandeis wieder. Da kippt der Blick, es gibt kein Oben und Unten, keinen Horizont mehr, sie "versinkt in Himmelsmasse". Dann beschreibt sie Gletscher, Berge, ehemalige Militärbasen; dieser Teil kommt einem Reisebuch noch am nächsten.

Von der alten grönländischen Lebensart ist natürlich nicht mehr viel übrig. Die dänischen Kolonisatoren haben sie ausgelöscht, auf sprachlicher, religiöser, sozialer Ebene. Das ist keine neue Erkenntnis. Wirklich interessant sind die klugen Beobachtungen, die eben nur in Grönland zu machen sind. Ein Beispiel ist die "Spurenlosigkeit" als wesentlicher Teil der Eskimo-Kultur. Da wird alles verwertet und verwendet, es ist eine Kultur des Augenblicks. Sie steht im Gegensatz zu unserer Kultur der Konservierung und der Idee der Ewigkeit – was unsere Erinnerung, schreibt Anna Kim, so gnadenlos und unentrinnbar macht, da allem, ob wichtig oder unwichtig, Geschichte aufgehalst wird.

Dass Kim nicht nur eine begabte Essayistin, sondern auch Schriftstellerin ist, zeigt sich in den schönen, poetisch-anschaulichen Beschreibungen von Stadt und Land und in ihrem hohen Sprachbewusstsein. Ein Beispiel ist ihre Erwähnung der Leere des Landes, das die Dänen im buchstäblichen Sinn für "unbeschrieben" hielten; tatsächlich gab es in dem baumlosen Land nur eine mündliche Erzähltradition. Dass Anna Kim ansonsten die grönländische Literatur ignoriert, die im 20. Jahrhundert entstanden ist (anfangs übrigens mit Zukunftsromanen!), ist jedoch erstaunlich. Erschien ihr das eigene Gebiet der Literatur ferner als die Identitätsfrage?

Besprochen von Peter Urban-Halle

Anna Kim: Invasionen des Privaten
Droschl Verlag, Graz 2011,
108 Seiten, 15 Euro