Frauen in patriarchalen Systemen

Daheim ist es nicht am schönsten

04:32 Minuten
Die Arme einer Frau reichen durch ein Fenstergitter, um die Blumen davor zu gießen.
Wer sich gerade eingesperrt fühlt, kann nun vielleicht besser nachvollziehen, wie es Frauen in stark patriarchalen Gesellschaften geht. © Eyeem / Krisztina Kovacs
Von Jasamin Ulfat-Seddiqzai · 15.04.2020
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Corona zwingt uns derzeit, zu Hause zu bleiben. Für Frauen in patriarchalen Systemen ist das oft Alltag. Wer das Konzept "Häuslichkeit" als Chance feiert, sollte besser noch mal nachdenken, meint die Literaturwissenschaftlerin Jasamin Ulfat-Seddiqzai.
Wer Freiheit gewohnt ist, kennt Unfreiheit oft nur in seiner Hollywood-kompatibelsten Form: mit fest verriegelten Türen und Gittern an den Fenstern, obwohl sie ja so oft gar nicht so aussieht. Umso spannender ist die jetzige Situation: Eingesperrt zuhause – aber eben aus gutem Grund – bezeichnen wir das, was wir gerade erleben, als Bunker- oder Coronakoller. Wir lesen beunruhigt, dass Zahlen häuslicher Gewalt in die Höhe schnellen, dass Depressionen begünstigt werden und ahnen, dass dieses Eingesperrtsein irgendetwas mit uns macht.
Tatsächlich ist das, was wir derzeit erleben, in vielen Dingen dem Leben einer Frau in stark patriarchalen Gesellschaften sehr ähnlich, sei es Saudi-Arabien, oder Europa vor ungefähr hundert Jahren. Während wir normalerweise immer hochtheoretisch über diese Frauen reden, haben wir jetzt einmal die Möglichkeit, ihre Gefangenschaft nachzuempfinden. Und da merken wir sehr schnell, dass die Dinge nicht immer sind, wie sie scheinen.

Eine Art Pyjamaparty mit Anwesenheitspflicht

Denn im ersten Moment fühlt sich dieser Lockdown ganz entschleunigend, fast schon gemütlich an. Eine Art Pyjamaparty mit Anwesenheitspflicht. Das wahre Ausmaß, nicht nur für die Wirtschaft, sondern gerade für unsere psychische Gesundheit, wird man erst später verstehen. Ein Blick auf Frauen in patriarchalen Systemen gibt uns da einen kleinen Vorgeschmack.
Viele Frauen werden nicht offen gegen ihren Willen ins Haus gesperrt. "Draußen ist es gefährlich, nur hier drinnen kann ich dich schützen", erklären Vater, Bruder oder Ehemann, und das klingt so überzeugend, dass sowohl Frauen – aber auch viele Männer – daran glauben. So wie jetzt auch ist dieses Eingesperrtsein angenehmer, wenn man ein harmonisches Familienleben und finanzielle Stabilität besitzt. Es macht einen großen Unterschied, ob man in einem Käfig, oder in einem goldenen Käfig sitzt.
Als Kind kann man sich damit trösten, dass man irgendwann erwachsen ist. Für viele Frauen aber endet die Bevormundung nie. Und so passt frau ihr Verhalten an, bekommt das Gefühl, nicht wichtig zu sein. Das Große und Ganze geht ja auch so voran, merkt man, man ist einfach nicht systemrelevant.

Isolation wird Teil der eigenen Identität

Dauert dieser Zustand lange an (oder prägt einen gar beim Heranwachsen) verliert man seinen Mut, Neues auszuprobieren, wird ängstlich, zieht sich zurück. Manch eine bemüht sich, der Gefangenschaft zu entkommen, aber die meisten akzeptieren ihre Lage.
Was, wenn es stimmt? Wenn es draußen wirklich zu gefährlich ist? Wenn ich dort nicht alleine überlebe? So heißt man die Isolation irgendwann willkommen, sie wird Teil der eigenen Identität. Ab und an träumt man davon, wie es anders hätte sein können, aber dafür fehlt einem irgendwann auch die Fantasie – man kennt ja nur die eigenen vier Wände.
Wer dann das Gesicht noch hinter einem Schleier verbergen muss, trägt diese Privatheit sogar nach außen. Hinterm Schleier kann es auch gemütlich sein, man signalisiert: Bitte nicht ansprechen! Es steigt die Gefahr, dass man ambitionslos wird, sich selbst nichts mehr zutraut.
Während Männer, besonders die reichen und gebildeten, die Welt über Jahrhunderte zu ihrem Spielplatz machten, waren Frauen in Dauerquarantäne. Immer zu schwächlich, zu kränklich, zu scheu, als dass sie den Strapazen der Außenwelt standhalten könnten.

Die Fallstricke der Unfreiheit sind oft subtil

Es ist nicht verwunderlich, dass Jane-Austen-Romane sich jetzt gerade großer Beliebtheit erfreuen: Sie machen Sinn – wenn man selbst eingesperrt ist. So lesen etwa die Frauen der pakistanischen Jane-Austen-Society die Romane nicht, um einen Blick in die britische Vergangenheit zu wagen, sondern finden ihre eigene Gegenwart reflektiert.
Gefangenschaft ist selten filmreif brutal wie in männlich dominierten Filmen à la "Flucht von Alcatraz" oder der Serie "Prison Break". Die Fallstricke der Unfreiheit sind oft viel subtiler, kleben und ziehen einen so herunter, dass man irgendwann glaubt, man sei selbst am eigenen Schicksal Schuld.
Natürlich machen die derzeitigen Ausgangsbeschränkungen absolut Sinn, sie retten Leben. Wer das Konzept "Häuslichkeit" aber nur als Chance feiern möchte, sollte besser noch mal nachdenken.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen zu britischer Literatur im 19. Jahrhundert. Ihre Schwerpunkte umfassen dabei Themen wie Orientalismus, Stereotypenbildung und Männlichkeitsbilder, insbesondere im Kontext der Anglo-Afghanischen Kriege, über die sie derzeit ihre Dissertation schreibt. Ihre journalistischen Texte behandeln Xenophobie, Frauen im Islam oder das Kopftuch und erschienen bisher in der "taz" und der "Rheinischen Post".

Jasamin Ulfat-Seddiqzai posiert für ein Pressebild.
© privat
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