Frank Uekötter: "Atomare Demokratie"

Der vorbildliche Streit um die Atomkraft

07:33 Minuten
Das Cover des Buches "Atomare Demokratie"
© Franz Steiner Verlag

Frank Uekötter

Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in DeutschlandFranz Steiner Verlag, Stuttgart 2022

380 Seiten

29,00 Euro

Von Dagmar Röhrlich  · 09.07.2022
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Der deutsche Streit um die Atomkraft zog sich Jahrzehnte hin und war oft hitzig. Der Historiker Frank Uekötter hält die Debatte trotzdem für vorbildlich. Kann die mühsame Kompromissfindung ein Vorbild für aktuelle Diskurse sein?
Gleich zu Beginn dieser „Geschichte der Kernenergie in Deutschland“ steht ein Satz, der im ersten Moment stutzen lässt: „Dieses Buch analysiert letztlich eine Erfolgsgeschichte der bundesdeutschen Verhandlungsdemokratie.“ Erfolgsgeschichte? Eigentlich hatte man das so nicht empfunden. Eher als langwierigen Kampf von Bürgern gegen das, was man so schön als „nuklearen Komplex“ bezeichnete.
Zu sehr haben sich die Bilder von Demonstranten mit Transparenten, Sitzblockaden gegen Atomtransporte, Wasserwerfer und Hubschrauber ins Gedächtnis gegraben. Doch beim Lesen des Buchs wird klar, dass Uekötter Recht hat. Denn die Demokratie war in der Lage, nach jahrzehntelangem Streit und einer langwierigen Auseinandersetzung zu einem Kompromiss zu kommen, der von der breiten Gesellschaft getragen wird. Es kam durch zahllose Verhandlungen und Gespräche dazu, dass eine politische Lösung erreicht werden konnte.

Atomstaat gegen Umweltbewegung

Wenn die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen von damals analysiert werden, dann folgt das oft eher dem Muster, dass auf der einen Seite die Protagonisten des mächtigen Atomstaats stehen, die Großkonzerne, Experten, Politiker und die Fortschrittsgläubigen, die an Wissenschaft und Technik glauben.
Und auf der anderen Seite war die kritische, umweltbewegte Gegenöffentlichkeit, bunt und vielfältig. Schnell wird dann klar, wie die Sympathien verteilt sind und welche Sache bei diesem Kampf von Gut gegen Böse mit Verve vertreten wird. Die Autoren klopfen sich sozusagen auf die Schulter und fühlen sich gut.

Eine kluge Bilanz des Streits über Kernenergie

Uekötters Buch ist klug, vielschichtig und erhellend. In acht Kapiteln erläutert der Historiker die Geschichte der Kernenergie vom Showdown in Brokdorf über die Anfänge und die Bombe bis hin zum langen Abschied, der höchstwahrscheinlich Ende 2022 in Deutschland vollzogen sein wird.

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Dabei hatte alles so hoffnungsfroh angefangen. Während die Energieerzeuger zunächst nur mäßig interessiert waren, drängten Forschung und Politik die Unternehmen. Unter Kanzler Adenauer wurde 1955 das Bundesministerium für Atomfragen gegründet – und die SPD jubelte ein Jahr später auf einem Parteitag dem damaligen Staatssekretär im Wirtschafts- und Verkehrsministerium von Nordrhein-Westfalen, Leo Brandt, zu, als er die Kernenergie zur „zweiten industriellen Revolution“ erklärte.

Das Versprechen auf genzenlose Energie

Hinter dieser Begeisterung für das Atom steckte ein ganzes Bündel von Entwicklungen. Kernenergie, das versprach grenzenlose Energie, visionäre Planungen, Fortschritt, aber auch Vergangenheitsbewältigung, wenn die Forscher wieder den Anschluss an die Weltelite fanden. Spitzentechnologie und Wohlstand für die breite Masse. Zwar war da dieser düstere Schatten: die Bombe. Doch die Fürsprecher des „friedlichen Atoms“ wollten die schrecklichste Waffe der Menschheit in die Kraft der Zukunft verwandeln.
Mitte der 1970er-Jahre kippte das Ganze, jedenfalls in der Bundesrepublik. Hier startete der Anti-Atomkraft-Protest im Februar 1975 in Wyhl am Kaiserstuhl. Zum ersten Mal etablierte sich eine Bürgerbewegung, Studenten und Bauern verbündeten sich. Uekötter analysiert, dass die Widerstandsbewegung gegen die AKW insgesamt von der Zahl der Personen her nie so übermächtig war, wie die Mythen sie verklären wollen.
Die Nato-Nachrüstung brachte deutlich mehr Menschen auf die Straße. Die Atomkraftgegner, das war eine bunte Truppe aus Landwirten, Naturschützern, Studierenden, politisch Bewegten, Wissenschaftlern, Juristen – doch sie blieben bei der Stange, gaben nicht auf. Der Protest übertrug sich von einer Generation auf die nächste – diese Beständigkeit war ein wichtiger Faktor für den Erfolg, stellt Uekötter fest.

Atomstrom war nicht so billig, wie erhofft

In der DDR lief die Entwicklung anders. Das lag an der langen Tradition des marxistischen Glaubens an den technischen Fortschritt. Im SED-Staat durfte man über die Kernkraft nicht diskutieren – die Beinah-Kernschmelze im Kernkraftwerk Lubmin bei Greifswald 1975 wurde bis zum Schluss verheimlicht.
In der alten Bundesrepublik institutionalisierte sich die Anti-Atomkraft-Bewegung 1979 durch die Gründung der Grünen. Sie trugen den Protest von der Straße in die Parlamente – und das war ein wichtiger Faktor, der die Bewegung stärkte. Doch ob Protest und Widerstand allein wirklich zum Erfolg – sprich: zum Atomausstieg – geführt hätten, ist unwahrscheinlich.
Denn beim Niedergang wirkten viele Faktoren. Auch die Enttäuschung der Nuklearwirtschaft darüber, dass Atomstromerzeugung nicht so einfach und billig war, wie man es sich erträumt hatte. Man brauchte auch weniger Strom als gedacht, es gab kostspielige Pleiten wie der Schnelle Brüter von Kalkar und ungelöste Probleme wie die Entsorgung. Wäre der Atomstrom so toll geworden wie in den 1950er-Jahren angenommen, dann hätte die Protestbewegung kaum eine Chance gehabt.

"Mikroprozesse der Demokratie"

Doch am wichtigsten für die Kompromissfindung war wohl die föderale Struktur der Bundesrepublik, die bei allen Entscheidungen letztendlich die Diskussion verlangt: das permanente Aushandeln, Gespräche, Gerichtsurteile, Kompromisse, Ortsverbandssitzungen. Mühsam war das, schreibt Uekötter. Aber diese „Mikroprozesse der Demokratie“ verhinderten Eskalationen.
Die nukleare Kontroverse wurde nach und nach in den Mühlen der Verhandlungsdemokratie auf politisch handhabbare Dimensionen zerkleinert, ohne dass die Anti-Atomkraft-Bewegung ihr Gesicht verlor. „Am Ende standen die Protestaktionen gegen die Atommülltransporte nach Gorleben: ein wiederkehrendes Event, medienwirksam und nervenaufreibend, aber zeitlich und räumlich begrenzt, und jeder wusste, wo die roten Linien waren. So etwas konnte der Organismus der bundesdeutschen Demokratie problemlos verdauen.“

Die großen Themen wurden verhandelt

Was dieses Buch jenseits der Atomdebatte so interessant macht, ist die Analyse der Funktionsweise unserer Demokratie. Im Atomkonflikt war danach der entscheidende Trumpf der bundesdeutschen Demokratie die Übung in der Debatte, Meinungsfreiheit, eine offene und vielfältige Medienlandschaft und ein modernes Demonstrationsrecht. 
Die nukleare Kontroverse, schreibt Uekötter, wurde zu einem Diskursprojekt, in dem die großen Themen verhandelt wurden: demokratische Teilhabe, Widerstandsrecht, Rechtsstaatlichkeit und Entscheidungsbefugnisse, Energie, Risiken für Mensch und Umwelt und die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Und dieses Diskursprojekt, das machte die eigentliche Größe der Bewegung aus.
Die bundesdeutsche Demokratie konnte Fragen nicht in einem einzigen großen Kampf entscheiden, sondern nur im gesellschaftlichen Gespräch. Und angesichts der Probleme heute fragt man sich, ob die bundesdeutsche Demokratie sich wieder bewähren wird – und die Kraft findet, die alten Tugenden auszuleben. Allen Bedrängungen von Pegida bis Cancel Culture zum Trotz. Wird auch das, was vor uns liegt, zur Erfolgsgeschichte? Das Buch regt zum Nachdenken an.
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