Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen
Bilder und ihre Wirklichkeit
Rowohlt, Berlin 2014
270 Seiten, 19,95 Euro
Ein Spiegel geistiger Konjunkturen
Bilder geben nicht einfach die Wirklichkeit wieder: Mit dieser Prämisse nähert sich der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen der Geschichte der Fotografie - und entwirft nebenbei eine lustvolle "Schule des Sehens".
Gibt es eine Wirklichkeit hinter Bildern? Und wenn ja, gibt es einen direkten Zugang zu dieser Wirklichkeit? Ganz neu ist die Frage, die Helmut Lethen in "Der Schatten des Fotografen" stellt, zwar nicht - die Sehnsucht nach dem "unvermittelten Blick" scheint so alt wie die menschliche Kultur selbst. Aber wie der 1939 geborene Literaturwissenschaftler sich ihr nähert, ist besonders lesenswert. Dieses Buch ist keine systematische Untersuchung. Eher kommt der Band als intellektuelle Autobiografie daher. Lethen, der durch Bücher über Gottfried Benn und andere Intellektuelle der Zwischenkriegszeit bekannt geworden ist, resümiert prägende Einflüsse seines Wissenschaftlerlebens: Theorien, Philosophen, Bücher, Filme - und prüft, was sie für die Beantwortung seiner Leitfrage hergeben.
"Der Schatten des Fotografen" liest sich daher wie ein Spiegel geistiger Konjunkturen. Lethen, einst Maoist, bekennt sich zu dem "Hunger nach Empirie", der in den 80er-Jahren en vogue war. Roland Barthes "punctum", das Element, das den Betrachter "wie ein Pfeil” trifft, oder Siegfried Kracauers "Theorie des Films" interessierten den eingefleischten Materialisten zu Beginn der 80er-Jahre plötzlich mehr als Walter Benjamins "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit". Doch bei der Suche nach den "Einbruchsstellen des Realen" trifft Lethen schließlich doch wieder auf die "Hinterwelt von Zusammenhängen", der er zu entfliehen hoffte.
Magischer Moment oder kalkulierte Inszenierung?
Ob es Robert Capas – von einem Debakel in der der Dunkelkammer malträtiertes – Bild der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 ist oder Dorothea Langes Aufnahme einer kalifornischen Wanderarbeiterin von 1936: Bilder, so Lethens implizites Fazit, geben nicht einfach die Wirklichkeit wieder. Sie sind Produkte einer Apparatelogik, physikalischer Prozesse und der Intention des Produzenten. Die Abgebildeten abstrahieren sich zwar oft zu unsterblichen Ikonen, deren scheinbar "magischer Moment" sich bei näherer Betrachtung aber als kühl kalkulierte Inszenierung entpuppt.
Unorthodox ist auch Lethens Vorgehen. Kindheitsbilder, Alltagsepiphanien, visuelle Ikonen bilden den subjektiven Ausgangspunkt, den er zum Objektiven verdichtet. Die Erinnerung an den "Schneewittchensarg" einer Grammofon-Anlage der 50er-Jahre führt ihn zu den Glaskästen der zweiten Wehrmachtsausstellung von 2001, aus deren Bildpolitik er die Erkenntnis destilliert, dass Bilder nicht für sich sprechen, sondern nur im Kontext von Wissen als historischem Beweismittel taugen.
Lethens Buch ist ein paradoxer Triumph. Denn hier entwirft ein Literaturwissenschaftler fast nebenbei eine "Schule des Sehens", die man eigentlich seit Jahren von den Bildwissenschaftlern erwartet. Das "Unbehagen an der Repräsentation" führt Lethen nicht in das ersehnte Reich der reinen Anschauung, sondern zu einer scharfsinnigen, immer aber lustvollen Bildanalyse und Bildkritik. So wird "Der Schatten des Fotografen" zu einem Glücksfall entspannter Intellektualität, deren luzide Beweisführung für das absehbare Ergebnis entschädigt: Vielleicht gibt es eine objektive Wirklichkeit. Zugang zu ihr haben wir aber nur über Medien und Bilder - und die haben ihre eigene Wirklichkeit.