Leben im "mechanischen Ballett"
Der Germanist und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen hat sich durch seine Beschäftigung mit den Schriften Ernst Jüngers, Carl Schmitts und Bertolt Brechts einen Namen gemacht. Nun blickt Lethen auf eigenes Erleben und Erfahren zurück.
Sollte in 20 Jahren ein emeritierter Kulturwissenschaftler auf die Idee kommen, seine intellektuelle Autobiographie entlang der Bücher zu schreiben, die während seines Studiums Kult waren, so dürfte ein Titel nicht fehlen: Die "Verhaltenslehren der Kälte" des Germanisten Helmut Lethen. Die Untersuchung zur Literatur der Neuen Sachlichkeit erschien 1994 und ist längst ein Klassiker.
Lethen erkennt in den Schriften Ernst Jüngers, Carl Schmitts und Bertolt Brechts Handlungsanweisungen für das desorientierte Individuum nach dem Ersten Weltkrieg. Mit Selbstpanzerung, Kälte und Distanz, so Lethen, sollte es der alltäglich erfahrenen Komplexität der Moderne begegnen, nicht mit Moral und Mitleid. Nur ein "kalter Blick", davon waren die Autoren überzeugt, konnte dem Individuum "Verhaltenssicherheit" geben. So ähnlich hatte das bereits im 17. Jahrhundert der spanische Jesuit Balthasar Gracián formuliert. Aus dessen berühmtem "Handorakel" mit den 300 Lebensregeln bezogen die Intellektuellen und Künstler der Weimarer Republik ihre Anregungen.
Bücher als Handlungsanweisungen spielten auch eine entscheidende Rolle in der westdeutschen Studentenbewegung, der Helmut Lethen selber angehörte. In einem kleinen, äußerst klugen autobiographischen "Bericht" mit dem Titel "Die Suche nach dem Handorakel" blickt der Literaturwissenschaftler jetzt zurück auf die Jahre zwischen 1964 bis 1980. Es war eine Zeit des existenziellen Lesens, als der Übergang zwischen Theorie und Leben fließend schien.
1939 in Mönchengladbach in eine "Leichtathletikfamilie" geboren und vielleicht dadurch mit einem starken "Bewegungswunsch" ausgestattet, schildert Lethen seine Politisierung anhand von prägenden Lektüreerlebnissen. Nicht ohne Selbstironie aber erzählt er von der "Handlungslähmung", die Adornos "Minima Moralia" bei ihm auslösten. Oder von der Offenbarung, als die ihm Benjamins Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" erschien.
Dass Lethen Anfang der 70er-Jahre dann doch Halt in einer K-Gruppe suchte – er war Gründungsmitglied der maoistischen KPD/AO – erklärt er damit, dass er und seinesgleichen "nicht im Strudel der Lebensstilexperimente" untergehen wollten.
Wenn Lethen sein Leben im "mechanischen Ballett" des Parteiapparats beschreibt, tut er das nicht ohne Witz und mit Liebe zur Anekdote, stets frei von jenem Renegaten-Duktus, wie man ihn aus den Abrechnungsbüchern anderer Achtundsechziger kennt. Nur eines scheint Lethen sich im Rückblick nicht mehr vorstellen zu können: die viele Zeit, die er als junger Mann durch zermürbende Diskussionen verloren hat. Allein drei Monate gingen für die Vorbereitung der richtigen Koalition zur 1. Mai-Demonstration ins Land.
Lethens Lebensbericht erzählt aber auch vom typischen blinden Fleck in einer westdeutschen linken Intellektuellenbiografie. Im Oktober 1967 kam es vor der Mensa der FU zu einer Begegnung mit Wolf Vostell. Der Fluxus-Künstler hatte das berühmte Foto vom toten Benno Ohnesorg, über den sich eine junge Frau beugt, in Serie auf Tapetenpapier drucken lassen. Das empfand Lethen als Anmaßung. Er verstand damals noch nicht, dass auch die Figuren der Revolte ins Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit gehörten.
Besprochen von Stefanie Peter
Helmut Lethen: Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht.
Erschienen in der Reihe Historische Geisteswissenschaften Frankfurter Vorträge Band 1.
Hrsg. von Bernhard Jussen und Susanne Scholz
Wallstein Verlag, Göttingen 2012
128 Seiten, 9,90 Euro
Lethen erkennt in den Schriften Ernst Jüngers, Carl Schmitts und Bertolt Brechts Handlungsanweisungen für das desorientierte Individuum nach dem Ersten Weltkrieg. Mit Selbstpanzerung, Kälte und Distanz, so Lethen, sollte es der alltäglich erfahrenen Komplexität der Moderne begegnen, nicht mit Moral und Mitleid. Nur ein "kalter Blick", davon waren die Autoren überzeugt, konnte dem Individuum "Verhaltenssicherheit" geben. So ähnlich hatte das bereits im 17. Jahrhundert der spanische Jesuit Balthasar Gracián formuliert. Aus dessen berühmtem "Handorakel" mit den 300 Lebensregeln bezogen die Intellektuellen und Künstler der Weimarer Republik ihre Anregungen.
Bücher als Handlungsanweisungen spielten auch eine entscheidende Rolle in der westdeutschen Studentenbewegung, der Helmut Lethen selber angehörte. In einem kleinen, äußerst klugen autobiographischen "Bericht" mit dem Titel "Die Suche nach dem Handorakel" blickt der Literaturwissenschaftler jetzt zurück auf die Jahre zwischen 1964 bis 1980. Es war eine Zeit des existenziellen Lesens, als der Übergang zwischen Theorie und Leben fließend schien.
1939 in Mönchengladbach in eine "Leichtathletikfamilie" geboren und vielleicht dadurch mit einem starken "Bewegungswunsch" ausgestattet, schildert Lethen seine Politisierung anhand von prägenden Lektüreerlebnissen. Nicht ohne Selbstironie aber erzählt er von der "Handlungslähmung", die Adornos "Minima Moralia" bei ihm auslösten. Oder von der Offenbarung, als die ihm Benjamins Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" erschien.
Dass Lethen Anfang der 70er-Jahre dann doch Halt in einer K-Gruppe suchte – er war Gründungsmitglied der maoistischen KPD/AO – erklärt er damit, dass er und seinesgleichen "nicht im Strudel der Lebensstilexperimente" untergehen wollten.
Wenn Lethen sein Leben im "mechanischen Ballett" des Parteiapparats beschreibt, tut er das nicht ohne Witz und mit Liebe zur Anekdote, stets frei von jenem Renegaten-Duktus, wie man ihn aus den Abrechnungsbüchern anderer Achtundsechziger kennt. Nur eines scheint Lethen sich im Rückblick nicht mehr vorstellen zu können: die viele Zeit, die er als junger Mann durch zermürbende Diskussionen verloren hat. Allein drei Monate gingen für die Vorbereitung der richtigen Koalition zur 1. Mai-Demonstration ins Land.
Lethens Lebensbericht erzählt aber auch vom typischen blinden Fleck in einer westdeutschen linken Intellektuellenbiografie. Im Oktober 1967 kam es vor der Mensa der FU zu einer Begegnung mit Wolf Vostell. Der Fluxus-Künstler hatte das berühmte Foto vom toten Benno Ohnesorg, über den sich eine junge Frau beugt, in Serie auf Tapetenpapier drucken lassen. Das empfand Lethen als Anmaßung. Er verstand damals noch nicht, dass auch die Figuren der Revolte ins Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit gehörten.
Besprochen von Stefanie Peter
Helmut Lethen: Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht.
Erschienen in der Reihe Historische Geisteswissenschaften Frankfurter Vorträge Band 1.
Hrsg. von Bernhard Jussen und Susanne Scholz
Wallstein Verlag, Göttingen 2012
128 Seiten, 9,90 Euro