Vorzeigedichter der Adenauer-Republik

Vorgestellt von Rolf Schneider · 30.04.2006
Das Kalenderjahr 2006 hält etliche runde Gedenkdaten bereit, so die von Sigmund Freud, Mozart und Bertolt Brecht. Gleichermaßen zählt der Dichter Gottfried Benn zu den Jubilaren und dies gleich doppelt: Auf den 23. Mai fällt sein 120. Geburtstag und am 7. Juli jährt sich zum 50. Mal sein Todestag. Helmut Lehten schreitet in "Der Sound der Väter" die wichtigsten Etappen im Leben Benns ab.
Der Verfasser mit dem Geburtsjahr ist 1939 lehrte zuletzt Literaturgeschichte an der Universität Rostock. Außerhalb der Fachkreise kennt man seinen Namen kaum. Das könnte sich nun ändern, denn sein Benn-Buch ist eine vorzügliche Arbeit. Eine Biografie schrieb er nicht.

"Ich bewundere Biographen, die eine Figur aufs Papier setzen, selche einen Schatten wirft, nach Atem ringt..., Versicherungspolicen unterschreibt und mordet und aus all diesen Akten eine Person und ihre inneren Antriebe zusammenbringen. Mir war dies nicht möglich."

Lehten schreitet vielmehr etliche Etappen von Benns Leben ab, meist in chronologischer Reihenfolge, andere Stationen und Texte lässt er aus. Er konzentriert sich auf ihm erhebliche Momente, und was er dann ausbreitet, kann sich sehen lassen.

Zunächst geht es um Relationen von Medizin und Poesie. Der ausgebildete Militärarzt und praktizierende Dermatologe Benn hatte seinen literarischen Einstand mit Versen, die in Sektionssälen, Armenspitälern, Krebsbaracken spielen und einen völlig neuen Ton in die deutsche Poesie brachten. Dass die hier bedichtete Leichenöffnungen keine naturalistischen Tatbestände zeigen, erkennt man als Nicht-Mediziner kaum.

Wie der naturwissenschaftliche Positivismus, der zu Benns Zeiten das ärztliche Denken beherrschte, von dem Dichter gleichermaßen befolgt wie transzendiert wurde, ist erhellend zu lesen. Die Parallelen, die Lehten auszieht, etwa der Hinweis auf die veröffentlichten medizinischen Diagnosen der Person Emile Zola, liefern ein spannendes Stück Wissenschafts- und Kulturgeschichte.

Ebenso ergiebig sind die Schilderungen der Brüsseler Etappe, in der sich der Militärmediziner Benn während des Ersten Weltkriegs zwei Jahre lang aufhielt. Wer weiß schon, dass sich zur gleichen Zeit eine gesamte deutsche Kulturkolonie dort zusammenfand? Sie bestand aus dem Ehepaar Sternheim, aus Otto Flake, Carl Einstein, Hermann von Wedderkopp, Ferdinand Bruckner und Alfred Flechtheim; mit einigen hielt Benn Kontakt. Als Arzt wurde er Zeuge der Hinrichtung einer vermeintlichen britischen Spionin; Lehten vergleicht Benns späteren Bericht darüber mit den literarischen Schilderungen anderer Exekutionen: Der Erschießung des Sergeanten Grischa bei Arnold Zweig, der Hinrichtung eines Arbeiters in Brechts "Mutter", einer Exekution ins Ernst Jüngers "Strahlungen".

Auch der Vergleich zwischen Benn, Jünger und Carl Schmitt liest sich aufschlussreich, wiewohl die Kontakte des Lyrikers zu diesen beiden anderen eher lose und die Unterschiede zwischen ihnen erheblich waren.

Die Parallele besteht hauptsächlich darin, dass alle drei ihre Affäre mit dem deutschen Nationalsozialismus hatten und nach 1945 sich weigerten, ein wie auch immer geartetes Sündenbekenntnis abzugeben. Benn erfuhr als erster seine öffentliche Rehabilitation, was zumal den Hermann-Göring-Schützling Schmitt erbitterte, aber völlig in Ordnung ging, denn Benn, im Unterschied zu Jünger und Schmitt, hatte ab 1935 Publikationsverbot. Eingeschriebenes Parteimitglied war er auch nicht.

Freilich hatte er 1933 seinen publizistischen Kotau vor Hitler vollzogen und in der Preußischen Akademie ungerührt die Nachfolge des eben noch von ihn gepriesenen Heinrich Mann angetreten. Viele seiner Bewunderer musste dies sehr verstören. Die Erklärung, wie es dazu kam, dazu kommen konnte, bewegt seither die Benn-Sekundärliteratur. Das reicht von der Meinung Dieter Wellershoffs, Benn habe aus anthropologischer Verwirrung einen bald korrigierten Irrtum begangen, bis zu Feststellung von Fritz J. Raddatz, Benn sei Faschist gewesen, aber kein Nazis.

Aber war er denn Faschist? Bloß weil er Marinetti kannte? Lehten hält noch ein paar andere Erklärungen bereit: Angst vor der Pauperisierung, frühe Attacken durch Vertreter der intellektuellen Linken wie Kisch und Bloch. Ein abschließendes Urteil wird umgangen, was redlich ist, da sich von heute her die genauen Umstände kaum noch verifizieren lassen. Dass Lehten Benns politischen Fehltritt keinesfalls billigt, sagt er rundheraus.

"Verdacht macht Zeichen aufregend und interessant. Wenn ich Benn in Verbindung mit Verbrechen bringe, ist nichts gemeint, was nur durch raffinierte Auslegung von Textspuren erschlossen werden kann. Es geht vielmehr um "Fakten"."

Die Stilprobe macht aufmerksam auf einen weiteren Vorzug von Lehtens Buch: Es ist gut geschrieben. Zwar sind die Zeiten, da germanistische Wissenschaftsprosa gefürchtet war wegen ihrer stilistischen Ohnmacht, spätestens seit Hans Mayer und Peter Szondi vorüber, doch das einschlägige Vorurteil hält sich bis heute. Dass Lehten sich manchmal in selbstverliebter Virtuosität verliert, sei nicht unterschlagen.

""Kurz, die Sinngebung der nervösen Weichheit misslang im Kaiserreich."

Über diesen Satz kann man, mit Tucholsky, stundenlang nachdenken. Auch ein paar Errata schlichen sich ein.

"Noch Robert Musils Leitbild des monsieur vivisecteur verdankt sich dieser Tradition."

Erstens muss es "Monsieur le vivisecteur" heißen, und dann handelt sich um eine Tagebuchidee des ganz jungen Musil, die später nie mehr aufgenommen wurde und mitnichten ein Leitbild war.

Und dass die Tradition einer Übereinstimmung von Physiognomie und Charakter erst mit Bühler und Kertschmer einsetze, ist ungenau; hier müsste auch der Name Lavater fallen. Bei den Exkursen über Négritude und Negerplastik, die Lehrten anstellt und die bis in die Bildende Kunst führen, fehlt der entscheidende Hinweis auf Matisse, Picasso und die "Demoiselles d’Avignon", womit der afrikanische Primitivismus für Europas Ästhetik überhaupt erst relevant wurde.

Lehten benennt die Erfolgsgeschichte Benns nach 1945, die soziokulturellen Umstände benennt er nicht. Benn war Vorzeigedichter der Adenauer-Republik, wie Heidegger ihr Vorzeigephilosoph wurde – beide Männer anfangs von Hitler beeindruckt, später enttäuscht, doch äußerlich angepasst bis zum Ende. In solcher Haltung wollte sich die Majorität des westdeutschen Publikums wieder erkennen. Lediglich in Lehtens Vorwort finden sich dazu ein paar Hinweise:

"Nach dem Krieg waren Benns Statische Gedichte geradezu Nahrungsmittel, die die Leser in ihrer Abkehr von der Geschichte bestärkten. Seine Beschwörung der Einsamkeit, als ‚Grundvoraussetzung für wahre Empfindung’ ließ ihn zu einer kollektiven Symbolfigur werden, und sein Spruch 'Nur wer sich extrem isoliert, bleibt produktiv' wanderte durch die Reihen."

Helmuth Lethen: Der Sound der Väter – Gottfried Benn und seine Zeit
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2006
Helmuth Lethen: Der Sound der Väter - Gottfried Benn und seine Zeit, Coverausschnitt
Coverausschnitt: Lethens Buch© Rowolth Verlag