Fotoband

Nackte Poeten und "unterseeische Gegenden"

Unbekleidet beim Klettern geknipst: der Schriftsteller Herman Hesse
Unbekleidet beim Klettern geknipst: der Schriftsteller Herman Hesse © dpa / Jan-Philipp Strobel
Von Carsten Hueck · 24.07.2014
Wenn Schriftsteller reisen, machen sie, wie fast jeder andere auch, Fotos. Nicht selten dienen die Aufnahmen als Inspirationsquelle für ihre Arbeit. Heike Gfrereis hat 1000 solcher Aufnahmen zusammengetragen. Ein beredter Fotoband.
Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach lagern nicht nur Bücher und Handschriften, sondern auch um die 100.000 Fotografien. Was den Kuratoren des Literaturarchivs sonst nur zur Illustration thematischer Kataloge dient, wird im vorliegenden Band zur Hauptsache. Etwa 1000 Fotos von reisenden Schriftstellern entfalten, pünktlich zum Sommer, eine kleine Geschichte des Reisens – und ebenso eine Zeitreise durch Landschaften und Städte von 1891 bis 2013.
Gereist sind Schriftsteller immer. In jüngerer Zeit reisten Joseph Conrad ins Herz der Finsternis und Bruce Chatwin auf den Traumpfaden der australischen Ureinwohner. Der erste Reisende mit Fotoapparat taucht in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts in der Literatur auf: Jules Vernes Kapitän Nemo fotografiert eine "unterseeische Gegend".
Selbstinszenierungen, Schnappschüsse, Unscharfes
Was so unterschiedliche Autoren wie Harry Graf Kessler, Ernst Jünger, Mascha Kaléko, Jörg Fauser, Peter Handke, Nora Gomringer und Friedrich Kittler auf ihren Reisen knipsten, zeigt der von Heike Gfrereis herausgegebene Band umfassend. Da sieht man Vorarbeiten für literarische Projekte, Inspirationsquellen, aber auch Selbstinszenierungen, Schnappschüsse, Unscharfes, Gewöhnliches.
1900 fotografiert der Lebensphilosoph Ludwig Klages die Schriftstellerin Franziska zu Reventlow nur mit einer Kopfhaube bedeckt am Strand von Samos. Lou Andreas-Salomé ist zur selben Zeit in den Weiten Russlands unterwegs und bringt Fotos der Wolga mit. Zehn Jahre später erneut ein Akt: Hermann Hesse klettert nackig an einer Felswand. 1930 beschriftet Mascha Kaléko ihre Urlaubsfotos aus Hiddensee: "Woher krieg ich bloß ein Retour Billet?" Siegfried Kracauers fast menschenleere Parisbilder aus den 1930er-Jahren lassen sich als Vorarbeit zu seinem Buch über Jacques Offenbach betrachten. Die Landschaft Alaskas, die Peter Handke 1978 fotografiert, taucht in seiner "Geschichte eines Bleistifts" und in "Langsame Heimkehr" wieder auf.
Hervorragende Fotografien sind selten
Doppelbegabungen, das macht diese Fotosammlung klar, gibt es kaum. Ein hervorragender Autor ist selten ein hervorragender Fotograf. Aber durch die Fotos erfährt man immer etwas über den Fotografierenden. Wie er Welt wahrnimmt, welche Bedeutung er sich selbst gibt. Lieblingsmotive sind erkennbar: Wolken, Bäume, Licht-und Schattenspiel, historische Stätten, touristische Anziehungspunkte. Seltener Menschen. Und nie Komisches. In den letzten Jahren, auf den Fotos von Thomas Hettche, Nora Gomringer oder Judith Schalansky sieht man häufig leere Landschaften, Strukturen, Schriftzüge, grafische Elemente. Sie erlauben oft keinen Rückschluss auf den Ort der Aufnahme. Sind Schnipsel eines subjektiv gefärbten Lebensfilms.
"Reisen – Fotos von unterwegs" ist ein Fotoband, den man immer wieder zur Hand nimmt und durchblättert. Er gibt dem Betrachter die Möglichkeit, seine eigene Reiseroute zu kreieren, sich in Gegenwart und Vergangenheit zu versenken, zu staunen und nachzudenken. Ein Muss für jeden, der zuhause sein und in die Ferne schweifen möchte.

Heike Gfrereis (Hrsg.): Reisen – Fotos von unterwegs
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2014
534 Seiten, 30,00 Euro

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