Folgen des Pandemieschutzes

Wie verändern Corona-Apps die Gesellschaft?

24:56 Minuten
Illustration: Mit einer Wärmebildkamera aufgenommenes Bild einer Person auf einem Smartphone-Display
Mit Tracking-Apps wollen wir in der Coronakrise die Kontrolle behalten. Aber geben wir sie zugleich bei der Technologieentwicklung und ihren Konsequenzen aus der Hand? © imago images / Idriss Bigou-Gilles
Moderation: Vera Linß und Marcus Richter · 02.05.2020
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Die Bundesregierung hat entschieden, dass die Corona-App Daten nur dezentral speichert. Trotzdem stellen sich noch zahlreiche Fragen. Unter anderem die, welche langfristigen Folgen eine solche App eigentlich hat - und wie gefährlich sie für die Gesellschaft sind.
Die Debatte um Corona-Apps ist nicht zu Ende – auch wenn die Bundesregierung eine Kehrtwende eingelegt und sich für das dezentrale Modell entschieden hat. Hier werden die Daten nur auf dem Handy der einzelnen Nutzer gespeichert.
Zuerst hatte die Regierung eine App favorisiert, die die Daten zentral speichert. Auch Wissenschaftler und Netzaktivisten hatten sich gegen diese Variante gewandt, weil sie eine Datenkonzentration an einem zentralen Ort vermeiden wollten. Doch auch jetzt sind Fragen offen – neben technischen auch politische, mit Blick auf die Gesellschaft, wenn man in die Zukunft schaut.
"Die Befürchtung, die ich habe, ist, dass wir uns augenblicklich über die langfristigen Folgen von Corona-Apps zu wenig Gedanken machen", sagt Jeanette Hofmann, die am Wissenschaftszentrum Berlin und am Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft zu den politischen Implikationen digitaler Technologie forscht.

App bei der nächsten Influenza im Einsatz?

Sie denke, "dass wir hinter das Wissen und die Erfahrung, dass man den Abstand zwischen Menschen, zwischen Individuen, messen kann; hinter diese Erfahrung kommen wir nicht wieder zurück." Das sei nicht vergleichbar etwa mit der Funkzellenabfrage, wo man sehen könne, wer an welchem Ort war. Mit der geplanten Corona-App könne hingegen ermittelt werden, wie lange zwei Menschen mit welchem Abstand am gleichen Ort waren – unter der Voraussetzung, dass alle diese App installierten.
"Diese Art von Technologien, die wir jetzt entwickeln, die werden bleiben. Und wir holen die wieder aus der Tasche bei der nächsten großen Influenza im nächsten Winter und bei ähnlichen Ereignissen. Das geht nicht wieder weg." Und es sei nicht absehbar, wofür diese Apps in Zukunft genutzt würden. Deshalb sei es paradoxerweise so, dass wir mehr Kontrolle über die Epidemieentwicklung haben wollen, dabei aber womöglich eine Infrastruktur schaffen, die wir in Zukunft nicht mehr kontrollieren können.

Markt als Problemlöser anstelle des Staates

Auch der Publizist Evgeny Morozov übt Kritik am Umgang mit dem Thema Corona-Apps, geht aber über die aktuellen Entwicklungen hinaus. Er kritisiert den Trend, gesellschaftliche Probleme mit einer App lösen zu wollen. Denn dabei gehe es häufig um "einen Privatkonzern, der sich irgendwie in wichtige Bereiche unserer Gesellschaft hinein gemanagt hat: Bildung, Gesundheitswesen, soziale Beziehungen, Banking und so weiter". Dabei würden Marktlösungen "unter dem Banner des Fortschritts und der Innovation gerechtfertigt". Und da müssten wir vorsichtig sein. "Weil was passiert, ist, dass wir langsam die Idee akzeptieren, dass unsere Probleme vom Markt und nicht von Bürgern oder Parteien gelöst werden sollten. Und das betrachte ich schon mit Sorge", so Morozov.
Er warnt von einem "solutionist state", in dem Politiker das Sagen haben, die Technologie nutzen, um Politik zu vermeiden. Das Versprechen hinter einem solchen Staat ist, dass man den Einsatz und die Entwicklung von Apps beschleunigt, um die Probleme des Kapitalismus einzudämmen.
Bereits als Folge der Finanzkrise 2008 seien Lösungsangebote aufgekommen, bei denen soziale Probleme mit Technologie gelöst werden sollen. Als Beispiele nennt Morozov Angebote, mit denen man seine Wohnung untervermieten und so etwas dazuverdienen kann. Oder: "Sie können Uber-Fahrer werden."
Ein weiteres Beispiel für eine technologische Lösung: "Sie können statt richtigem Essen auf Soylent, einen Drink mit allen wichtigen Nährstoffen, aber ohne jeden Geschmack umsteigen." Die Unternehmen der "Big-Tech-Blase" hätten kein Interesse daran, die den Symptomen zugrunde liegenden Probleme zu beseitigen. "Ihr Ziel ist es, eine Art Pflaster zu liefern, das die Symptome lindert."

Ähnlich wie Abhängigkeit von Öl und Kohle

Wie Jeannette Hoffmann meint auch Evgeny Morozov, wir müssen vorsichtig sein, wenn wir jetzt auf kurzfristige Lösungen setzen, die langfristig Konsequenzen für die Demokratie und unsere Gesellschaft haben könnten. Bei der Abhängigkeit von den großen Tech-Konzernen zieht er Parallelen zu unserer Abhängigkeit von günstiger Energie, die wir in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben.
"Wir dachten auch, dass günstiges Öl und günstige Kohle uns in den 70er- und 80er-Jahren beim Wachstum helfen. Das haben wir als komplett verhältnismäßig betrachtet, um unsere Probleme zu lösen und unseren Lebensstandard zu steigern. Doch jetzt, 40 oder 50 Jahre später, spüren wir, dass die Folgekosten in Form des Klimawandels sehr viel höher sind, als die kurzfristigen Vorteile von damals."
Und zu den Corona-Apps mahnt er: Über der – für ihn grundsätzlich positiven und wichtigen Debatte über Datenschutz und Privatsphäre – dürfe Big Tech und dessen politischer Einfluss nicht aus dem Blick geraten.
(abr)
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