Ein Impfnachweis mit dem Ausweis zu zeigen, ist für viele in Kinos oder Restaurants normal geworden. Staatliche Kontrollen wurden erfolgreich privatisiert, kritisiert der Historiker René Schlott. Erschreckend findet er dabei, wie bereitwillig sich Menschen gegenseitig kontrollieren.
Als ich kürzlich einen polnischen Freund, der abwechselnd in Spanien und in Deutschland lebt, fragte, worin die beiden Gesellschaften sich in der Pandemiebekämpfung unterscheiden würden, antwortete er ziemlich spontan, Deutschland sei in seiner Wahrnehmung zu einem Land der Hilfspolizisten geworden. Alle kontrollieren sich jederzeit gegenseitig.
Ständig habe er während seines letzten Berlinaufenthaltes fremden Menschen seinen Pass zeigen müssen, selbst für einfachste Alltagsdinge, wie den notgedrungenen Spontanbesuch einer Toilette in einem Lokal. Und selbst nachdem er am Berliner Flughafen schon die minutiösen Sicherheitskontrollen inklusive tagesaktuellem Coronatest und Nachweis der Dreifachimpfung passiert hatte, musste er nochmals alle Unterlagen zeigen, als er kurz vor dem Abflug an einem Stehtisch einen Kaffee trinken wollte. Diskutieren war natürlich zwecklos: „Wir haben Pandemie!“
Erfolgreiche Auslagerung staatlicher Kontrollen
Was für Polizistinnen und Polizisten Teil der Ausbildung ist, nämlich die korrekte und rechtssichere Kontrolle von Menschen, ohne dass es dabei zu Eskalationen oder größeren Konflikten kommt, wurde in den letzten Monaten an Lehrerinnen, an Kellnerinnen, an Niedriglohnarbeiter in Fast Food-Restaurants und an schlecht bezahlte junge Männer mit Migrationshintergrund delegiert, die im nasskalten Berliner Winter vor den Filialen der großen Modeketten auf zu kontrollierende Kundschaft warten und oft als Prellbock für deren Frust herhalten mussten.
Dem deutschen Staat und seiner Verwaltung war es unter der ständigen Drohkulisse eines erneuten Lockdowns erfolgreich gelungen, die Kontrollen auszulagern und sie gleichsam zu privatisieren. Dass sich die Kontrollen dabei weit von ihrem ursprünglichen Zweck, dem Infektionsschutz, entfernt hatten, erfuhr ich, als ich gelegentlich nachfragte, warum man denn so akribisch kontrolliere: „Na, wenn das Ordnungsamt kommt.“
Niemand, aber auch wirklich niemand antwortete mir: "Weil wir die Krankenhäuser vor Überlastung schützen müssen". Wenn ich dann weiter nachhakte, wann denn das Ordnungsamt das letzte Mal zur Kontrolle da gewesen sei, kam stets die Antwort: „Noch nie, aber ...“
Die Menschen überwachen sich gegenseitig
In kurzer Frist war realisiert, was Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ so treffend beschrieben hatte: Das Überwachen muss gar nicht mehr durch externe Apparate bewerkstelligt werden, denn das Individuum hat es bereits selbst internalisiert. Die Überwachung ist längst ins Innere der Überwachten eingedrungen und hat sich so erfolgreich subjektiviert.
Aber selbst dieser ohnehin ernüchternde Befund ließ sich noch steigern, ja sogar potenzieren: mit einer Kontrolle der Kontrolle. So schickte das Berliner Lokalblatt „Tagesspiegel“ einige Journalisten undercover mit der Absicht in Cafés und Restaurants der Hauptstadt, um zu kontrollieren, ob und wie dort kontrolliert wurde. Anschließend wurde unter Angabe von Namen und Adresse der Lokale empört darüber berichtet, dass sich manche Kellner den QR-Code nur hatten zeigen lassen, ihn zur Kontrolle aber gar nicht einscannten und auf die diesbezüglichen Nachfragen der Zeitungsdetektive auch noch uneinsichtig reagierten.
Ähnlich erging es einem kleinen Berliner Kino, das aus Datenschutzgründen darauf verzichtete, bei seinem Stammpublikum zusätzlich zum Impfnachweis den Personalausweis zu kontrollieren. Nachdem sich andere Kinogänger in langen Mails darüber beschwerten, gar nicht nach ihrem Pass gefragt worden zu sein, musste man die Praxis notgedrungen ändern.
Erschreckend, wie schnell Menschen sich anpassen
Selbst wenn einige der Kontrollmaßnahmen demnächst wegfallen sollten, war es erschreckend zu beobachten, wie schnell die Konditionierung von Menschen funktionierte, die sich auf der einen Seite selbst zu Kontrolleuren ihrer Mitmenschen machen und sich auf der anderen Seite jederzeit bereitwillig kontrollieren ließen. Vorauseilend streckten sie beim grußlosen Betreten der Cafés dem Personal ihr Handy mit der schon aufgerufenen CovPass-App entgegen, um zu signalisieren: „Kontrolliere mich!“
Wie viele von diesen Verhaltensmustern werden sich auf Dauer in den Köpfen festsetzen? Sicher ist, manche der Kontrollmaßnahmen werden, auch ohne explizite gesetzliche Vorgaben, bleiben. Genauso sicher ist, dass sie sich jederzeit reaktivieren lassen.
Willkommen in der „Selbstkontrollgesellschaft“!
René Schlott ist Historiker und Publizist in Berlin. Er wurde 1977 in Mühlhausen geboren und studierte nach einem Diplom der Betriebswirtschaft Geschichte, Politik und Publizistik in Berlin und Genf. 2011 wurde er mit einer kommunikationshistorischen Arbeit an der Universität Gießen promoviert.