Flüchtlingspolitik

Europa muss Afrika antworten

Gerettet Flüchtlinge im Mittelmeer
Mehr als 200 Flüchtlinge werden am 23. April 2015 vor der italienischen Küste aus dem Mittelmeer gerettet. © picture alliance / dpa / Foto: Alessandro Di Meo
Von Sieglinde Geisel · 28.04.2015
Angesichts der Flüchtlingsströme gerät die europäische Politik zunehmend unter Druck. Es reiche aber nicht aus, wenn nur die Unterbringung und die Kosten gerechter verteilt würden, meint Sieglinde Geisel. Deutschland und die EU müssten beispielsweise Afrika helfen, seine Probleme selbst zu lösen.
Allmählich begreifen wir die Lage, in die wir während der letzten Jahre hineingeschlittert sind, und allmählich begreifen wir auch, wer die Menschen sind, die um jeden Preis nach Europa wollen. Sie riskieren auf dem Mittelmeer ihr Leben: um es zu retten, oder weil sie aus diesem Leben etwas machen wollen.
Was Flüchtlinge und Migranten aufs Meer treibt, sind zwei Dinge: Ihre Heimatländer, die unbewohnbar geworden sind, und die Verheißung, dass es Länder gibt, in denen es anders ist.
Diese Kluft hat es immer schon gegeben, doch in den letzten Jahren hat sich die Wahrnehmung verschoben: Die digitalen Medien haben den Traum von Zukunft – einer besseren Zukunft oder Zukunft überhaupt – weltweit in die Köpfe getragen. Und auch der Menschenschmuggel ist nur durch Handy und Internet möglich geworden – in früheren Zeiten wäre er in solchen Dimensionen undenkbar gewesen.
Das sind die neuen Realitäten, doch Europa tut sich schwer damit, diesen Realitäten ins Gesicht zu sehen. Erst Tragödien rütteln wach. Bisher wurde laviert, auf unverantwortliche, ja groteske Weise.
Europa hat sich in eine absurde Lage manövriert
Zum einen wurde das Flüchtlingsproblem jenen Ländern der Gemeinschaft in die Schuhe geschoben, die das Pech haben, an der südlichen Grenze zu liegen. Zum anderen hat Europa sich mit der Aufrüstung dieser Grenze in eine absurde Lage manövriert: Wir sehen uns in der Pflicht, diejenigen zu retten, die an den Hindernissen scheitern, die wir selbst aufgebaut haben –und das auf einem Meer, das wir Europäer im Billigflieger jederzeit gefahrlos überwinden können.
Wie kommen wir aus diesem politischen und moralischen Schlamassel wieder heraus? Und wer ist schuld an den Toten im Mittelmeer? Diese Fragen lassen sich kaum beantworten, und so beißt sich die Debatte in eingefahrenen Diskurs-Ritualen fest: Die Rechten regen sich über die Gutmenschen auf und warnen vor "muslimischen Massen", die Gutmenschen wiederum regen sich über die Rechten auf und werfen ihnen Fremdenhass vor.
Doch das geht am eigentlichen Problem vorbei, denn weder sind die Populisten daran schuld, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, noch sind die Linken daran schuld, dass die Flüchtlinge zu uns kommen. Wir leben nun einmal in einer Welt, in der viele Menschen Grund zur Flucht haben, und keine Macht kann Menschen in aussichtsloser Lage daran hindern, sich auf den gefährlichen Weg zu machen.
Das Wort "Verantwortung" ist angesichts dieser Debatten zu einem dornigen Begriff geworden. Dabei besagt es nur, dass jemand antworten soll. Doch wie kann Europa überhaupt Verantwortung übernehmen?
Partikular-Interessen sind von gestern
In den Schlamassel hineingeschlittert sind wir letztlich, weil wir an einem veralteten Weltbild festhalten. Wir haben noch kaum verstanden, in welchem Maß die digital vernetzte Welt sich zu einem Super-Organismus entwickelt hat. Partikular-Interessen sind von gestern, denn Herkunftsländer und Zielländer sitzen buchstäblich in einem Boot, wenn die Metapher erlaubt ist.
Wenn wir nur unsere eigenen Interessen vertreten, kommen wir nicht weiter, denn diese Interessen sind unlösbar verknüpft mit dem Schicksal von Ländern, die wir bisher kaum zur Kenntnis genommen haben. Die Verantwortung ist eine gemeinsame, und dazu gehört auch eine neue Form des Dialogs zwischen den reichen und den armen Ländern.
Ob das Zusammenrücken der Welt eine gute oder eine schlechte Nachricht ist? Das wird sich daran entscheiden, wie wir darauf antworten. Wie immer im Leben haben wir die Wahl: Wir können uns schützen, oder wir können lernen.

Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. Als Journalistin zog sie 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall schrieb sie Porträts über die Metropolen Ostmitteleuropas und lebte vorübergehend in Lublin (Polen). Für die Neue Zürcher Zeitung war sie von 1994 bis 1998 Kulturkorrespondentin in New York, seit 1999 ist sie es in Berlin. 2008 erschien ihr Buch "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert", 2010 der Band "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille".

Sieglinde Geisel posiert im Treppenhaus des RIAS-Gebäude in Berlin
© Deutschlandradio / Melanie Croyé
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