Ukrainische Flüchtlinge in Berlin

Zwischen Notaufnahme und Integration

15:15 Minuten
Erschöpfte ukrainische Flüchtlinge sitzen im Willkommenszelt am Berliner Hauptbahnhof auf Holzbänken.
Neue Heimat Deutschland? Wie lange die ukrainischen Flüchtlinge bleiben werden, ist derzeit völlig offen. © imago images / Stefan Trappe
Von Manfred Götzke · 05.04.2022
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Schnelle Integration ukrainischer Flüchtlinge - das wünschen sich Politik und Wirtschaft in Deutschland. Die ersten Willkommensklassen sind bereits gestartet, und mehr als 1000 Jobs wurden vermittelt. Unumstritten ist der Ansatz aber nicht.
Graffiti-Workshop an der Humboldt-Gemeinschaftsschule in Prenzlauer Berg. Zehn Schüler der Unterstufe sprühen eine Friedenstaube samt Regenbogen auf einen großen Elektrokasten auf dem Schulhof. Unter den Schülern der neunjährige Lew. Er geht in eine Willkommensklasse, die vor einigen Tagen eröffnet wurde.
Lew spricht ein wenig Englisch und inzwischen die ersten paar Worte Deutsch. Die Willkommensklasse für die ukrainischen Flüchtlinge leitet zum Glück eine Lehrerin, die ursprünglich aus der Ukraine stammt.
„Ich bin Lew – ich bin neun Jahre alt!“ , sagt er.

Berlin plant 250 Willkommensklassen

In der Pause setze ich mich mit Lew, seiner Lehrerin Natalia Zemliak und den deutschen Schülern Pablo und Vida in einen Klassenraum. Die beiden sind Lews Patenschüler und helfen ihm, sich hier in der neuen Umgebung zu orientieren.
„Man kann sich richtig gut mit Lew verständigen, er spricht schon sehr gut Englisch. Er macht schon alles sehr gut mit.“
Der Berliner Senat plant etwa 250 solcher Willkommensklassen mit knapp 3000 Plätzen. Mitte März haben die ersten Schulen begonnen, Kinder und Jugendliche aufzunehmen und ins Schulleben zu integrieren, erklärt Lehrerin Zemlik:
„Wir wollen den Kindern helfen erstmal hier anzukommen, das heißt diese Willkommensklasse stellt eine Brücke her, über die die Kinder hoffentlich in die Regelklassen finden. Ich versuche ihnen jetzt möglichst schnell, ein paar Deutschkenntnisse zu vermitteln, mit denen sie sich über Wasser halten können."

Die Konsulin fordert Unterricht nach ukrainischem Lehrplan

Die Humboldt Schule konnte die Willkommensklasse relativ schnell einrichten, da Lehrerin Zemliak gerade aus der Elternzeit zurückkam. Die meisten anderen Schulen haben wegen des notorischen Lehrermangels massive Probleme damit.
Die Idee, die ukrainischen Kinder schnell in das deutsche Schulleben zu integrieren, ist allerdings nicht unumstritten. Die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka forderte kürzlich in einer Rede vor der Kultusministerkonferenz: Die ukrainischen Kinder sollten nach ukrainischem Lehrplan unterrichtet werden. Das allein werde ihnen „eine barrierefreie und schmerzfreie Rückkehr in die Ukraine ermöglichen".
Berlin setzt dagegen auf die rasche Eingliederung ins deutsche Schulsystem: „Uns ist es im Moment sehr viel wichtiger, ihnen beim Ankommen hier zu helfen, denn kein Mensch kann im Moment vorhersagen, wie lange die Kinder hier bei uns bleiben können. Und unsere Aufgabe ist es auf jeden Fall, ihnen das Ankommen hier zu erleichtern.“

So schnell wie möglich einen Job finden

Maria, BWL-Studentin aus Kiew sitzt in der Wohnung von Arik Weißmann und tippt auf ihrem Handy rum. Sie ist wie 14 weitere Flüchtlinge bei dem Ukrainer untergekommen, der selbst schon seit Jahren in Berlin lebt. Für die 21-Jährige steht fest: Sie will arbeiten, so schnell wie möglich.
„Erstmal muss ich alle Dokumente haben, um hier in Deutschland, in Berlin zu bleiben. Und dann muss ich unbedingt arbeiten – ich kann nicht die ganze Zeit nur hier sein. Ich hatte einen tollen Job in Kiew im Hotel! Ich kann sehr hart arbeiten, ich hoffe, ich finde schnell was. Wenn ich nur dasitze, denke ich nur an alles, was ich zurückgelassen habe.“
Tausenden Ukrainern geht es ähnlich wie Maria – sie wollen hier arbeiten, ganz unabhängig davon, wie lange sie in Deutschland bleiben müssen. Die Hürden sind dabei für die Ukrainer weniger hoch als für andere Gelflüchtete. Ukrainer können sofort nach ihrer Anmeldung in Deutschland eine Arbeit aufnehmen.

13.000 Jobangebote für Ukrainer

Woran es allerdings hapern könnte, ist die rasche Anerkennung ukrainischer Berufsabschlüsse und Qualifikationen. Berlins Integrationssenatorin Katja Kipping setzt sich deshalb für schnelle Anerkennungsverfahren ein:
„Ich bin froh, dass die Arbeitserlaubnis jetzt abgesichert ist. Das zweite ist die Anerkennung der Berufsabschlüsse, weil in allen Bundesländern das ein Nadelöhr wäre, wenn erst alle durch diese einzelne Anerkennung müssten. Ich habe deshalb früh dafür geworben, dass es bundesweit auf dem Wege einer Allgemeinverfügung eine unbürokratische Lösung gibt. Ich hab das auch auf der Arbeitsministerkonferenz angesprochen und da gab es eine Vereinbarung, dass eine Lösung erarbeitet wird, die das erleichtert.“
Um zu verhindern, dass die in der Regel sehr gut qualifizierten ukrainischen Flüchtlinge nur irgendwelche Aushilfsjobs machen, haben Ehrenamtliche schon mehrere Jobportale gegründet. Eines hat der Coesfelder Unternehmer Markus Diekmann wenige Tage nach Kriegsbeginn auf die Beine gestellt: "Job Aid Ukraine" heißt es. Inzwischen stehen 13.000 Arbeitsangebote auf dem Portal. Mehr als 1000 Jobs konnten schon an Ukrainer vermittelt werden.

Die Gewerkschaft warnt vor Ausbeutung

„Es sind vor allem die Bereiche  IT, Pflege, Handel, Gastronomie und Handwerk. Und das sind ja genau die Branchen, in denen heute 1,7 Millionen Arbeitskräfte fehlen in Deutschland. Dafür werbe ich auch immer", unterstreicht er. "Die Situation ist ganz schlimm und die Menschen kommen nicht freiwillig. Aber sie müssen sich auch nicht bei uns bedanken. Denn wir haben einen großen Fachkräftemangel und ganz tolle Menschen helfen uns gerade, unseren Fachkräftemangel temporär oder für längere Zeit zu lösen.“
Entscheidend ist bei diesen und anderen Jobangeboten: Die ukrainischen Flüchtlinge sollten über die geltenden Arbeitsrechte in Deutschland aufgeklärt werden. Denn wie bei vielen anderen osteuropäischen Arbeitskräften in Deutschland besteht die Gefahr der Ausbeutung, sagt Philipp Schwertmann von Arbeit und Leben, einem Projekt des Deutschen Gewerkschaftsbundes:
„Das kann darin bestehen, dass sie einen hohen Druck haben, jetzt sofort Geld zu verdienen, vielleicht gar nicht warten, bis sie alle nötigen Dokumente haben, dass sie erstmal schnell Geld nach Hause schicken wollen – und dass sie die rechtlichen Bedingungen nicht kennen. Sichtwort Mindestlohn: Was ist hier eigentlich der Mindestlohn. Und da müssen wir gucken, dass wir da jetzt gegensteuern und intensiv informieren über Arbeitsrechte.“

Senatorin Kipping: Die meisten werden länger bleiben

Auch für die Berliner Senatorin Kipping ist eine wirkliche Integration der ukrainischen Geflüchteten wichtig, egal ob in Schulen, Unis oder auf dem Arbeitsmarkt. Denn sie geht davon aus, dass ein Großteil der Geflüchteten eben nicht nur ein paar Wochen in Deutschland bleiben wird:
„Es ist ja oft in der Vergangenheit so gewesen, das sowohl die, die fliehen, als auch die, die sie aufnehmen, denken, dass es nur eine kurze, vorübergehende Zeit ist. Und dann stellt man fest, dass man doch sehr viel länger miteinander zu leben hat. Deswegen finde ich, wir sind gut beraten, davon auszugehen, dass das nicht nur ein kurzer Besuch ist, sondern, dass wir hier von vielen, vielen Neuberlinerinnen und Neuberlinern ausgehen.“

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