Fehlerkultur in der Politik

Die Kanzlerin zeigte Haltung, die Kandidatin nicht

04:25 Minuten
Angela Merkel läuft in einer senfgelben Jacke zum Rednerpult.
Fehler einzugestehen, sei ein große Kunst, findet der Philosoph Christian Schüle. Kanzlerin Merkel beherrscht sie. © AFP / Pool / Stefanie Loos
Ein Kommentar von Christian Schüle · 14.07.2021
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Eine Bundeskanzlerin, die sich für den schlecht geplanten Oster-Lockdown entschuldigt: Für Christian Schüle ist Angela Merkel mit ihrer Fehlerkultur ein "epochales Vorbild". Bei Annalena Baerbock hingegen sieht er nur mutwillige Selbstüberhöhung.
Am Mittwoch, den 24. März 2021, fand in der Bundesrepublik Deutschland ein epochales Ereignis statt. Pünktlich um 12.30 Uhr trat in senffarbenem Kostüm eine 66-jährige Frau vor die Kameras, sah nach unten, strich die Haare hinters Ohr, holte Luft und sagte nach einer Minute dreißig den entscheidenden Satz:
"Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler."
Sie nehme, sagte Angela Merkel weiter, alle Schuld am Fehler des damals geplanten Oster-Lockdowns auf sich und bitte die Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung.
Gab es das jemals, dass ein Regierungschef oder eine Regierungschefin von sich aus das eigene Volk um Entschuldigung für einen Fehler bat?

Baebocks Inszenierung gewünschter Großartigkeit

Zwei Monate später – ein ganz anderes Bild, eine andere Frau, wieder aber dreht es sich ums Bundeskanzleramt und um Fehlerverantwortung. Annalena Baerbock, die bekanntlich als nächste Kanzlerin Deutschland "erneuern" will, hat mehrfach nachweislich zu hochgestapelt, geschummelt und gestümpert.
Gewiss, es mögen vergleichsweise mickrige Fehler sein, aber sie häufen sich und ergeben ein Muster. Der eigentliche Fehler besteht ja darin, die gleiche Verfehlung – wie klein auch immer – ein zweites und sogar drittes Mal zu begehen. Deutschland lernt gerade, dass die Republik es im Fall einer Kanzlerin Baerbock mit einem offenbar überambitionierten Menschen zu tun bekäme, der zur Inszenierung gewünschter Großartigkeit gerne schwindelt und schludert.
Für intellektuelle Redlichkeit übrigens braucht man keine Fußnoten, der Konjunktiv reicht.

"Soft skills" wie Sorgfalt werden immer wichtiger

Gerade in einer Dauer-Erregungsgesellschaft mit bisweilen gestörter Affektkontrolle und ungeahnten digitalen Manipulationsmöglichkeiten muss es doch vornehmlich um die überaus wichtigen "soft skills" einer möglichen Führungskraft gehen: Empathie, Kommunikationsfähigkeit, Sorgfalt im Umgang mit der Leistung anderer, Vorbildfunktion, charakterliche Integrität. Haben nicht die Grünen selbst, die jetzt in Trumpscher Verschwörungs-Rhetorik "Propagandakrieg", "Dreckskampagne" und "Rufmord" schreien, in Hinsicht auf Moral und Doppelmoral eine immense Fallhöhe definiert?
Eine gute, aktive Fehlerkultur ist die hohe Kunst, an der in allen Bereichen regelmäßig Karrieren scheitern. Nach dem Fehler interessiert nicht der Fehler als solcher, sondern die Haltung, die man an den Tag legt. Ein Fehler muss also immer im Kontext sozialmoralischer Wertvorstellungen betrachtet werden, in dem er begangen wird.
Übersteigerter Geltungsdrang, Siegerkult und eine an Selbstherrlichkeit grenzende Ich-Verliebtheit haben in den vergangenen Jahren in der Gesellschaft als ganzer ein merkwürdiges Verständnis von Unfehlbarkeitsglaube und Fehleranfälligkeit hervorgebracht. Zudem lässt die rasante Beschleunigung aller Prozesse für Kontrolle und Prüfung des Wahrheitsgehalts kaum noch Zeit.

Merkels Umgang mit Fehlern ist vorbildlich

Und doch: Fehler ist nicht gleich Fehler. Nicht im Sinne Baerbock'scher Fahrlässigkeit, sondern als Fehleinschätzung sind in der staatlichen Corona-Politik der vergangenen 17 Monate Fehler gemacht worden, die eigentlich keine sind. Vor allem zu Pandemiebeginn gab es weder Erfahrungswerte noch verlässliche Evidenz, auf der Entscheidungen hätten richtig oder falsch sein können. Die Bewältigung der Pandemie war und ist eine Art Experiment in Echtzeit, da Wissen immer dynamisch ist und sich permanent ändert. Insofern ändert sich die Definition und Beurteilung von Fehlern, wenn sich später die Beurteilung von Wissen ändert.
Respekt gebietende Fehlerkultur setzt reflexives Fehlerbewusstsein voraus. Von Angela Merkel zu Annalena Baerbock scheint sich ein generationeller Wertewandel anzudeuten: von nahezu obsessiver Sachdienlichkeit zu mutwilliger Selbstüberhöhung. Auch in dieser Hinsicht ist Merkel in Zeiten allgemeiner Dramatisierung ein epochales Vorbild.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman "Das Ende unserer Tage" und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" sowie "In der Kampfzone".

Porträt des Autoren und Publizisten Christian Schüle
© picture alliance / Frank May
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